Antisoziales Verhalten
Das Phänomen hieß früher Psychopathologie oder antisoziale Störung; heute ist der Begriff dissoziale Persönlichkeitsstörung geläufig. Daran Erkrankte missachten die Rechte anderer Menschen; sie sind gewalttätig und ohne Selbstkontrolle. Ihre eigene Sicherheit ist ihnen eben so unwichtig wie die Sicherheit anderer. Sie betrügen und brechen Gesetze, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen; sie zeigen weder Furcht noch Reue.
Inhaltsverzeichnis
Dissoziale Persönlichkeitsstörung: Kurzüberblick
Zusammen mit der histronischen und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung bildet die Dissozialität die Hauptgruppe B unter den Persönlichkeitsstörungen. Gekennzeichnet sind diese Störungen durch die Charaktermerkmale „dramatisch“, „emotional“ und „launisch“. Hier eine kurze Übersicht zu dem Beschwerdebild:
- Symptome: aggressives Verhalten, Gewalttätigkeit, Neigung zu Straftaten, Missachtung sozialer Normen, Verantwortungslosigkeit, schnelle Reizbarkeit, impulsives Handeln, geringe Frustrationsschwelle, fehlendes Einfühlungsvermögen, ständige Suche nach Aufregung und Abwechslung, manipulativer Umgang mit anderen Menschen, sämtliche Handlungen sind auf den eigenen Vorteil bedacht.
- Verbreitung: Rund drei bis sieben Prozent aller Männer sowie ein bis zwei Prozent aller Frauen haben einen dissozialen Charakter.
- Therapie: Betroffene zeigen sich oft uneinsichtig, was die Behandlung erschwert. Antidepressiva und Stimmungsstabilisierer können in manchen Fällen die Symptome lindern. Bei Einsicht kann eine kognitiven Verhaltenstherapie helfen. Wird die Störung bereits in Kindes- und Jugendalter erkannt, sind die Heilungschancen besser.
Der dissoziale Charakter
„Psychopathen sind soziale Raubtiere, die sich mit Charme und Manipulation skrupellos ihren Weg durchs Leben pflügen und eine breite Schneise gebrochener Herzen, enttäuschter Erwartungen und geplünderter Brieftaschen hinter sich lassen. Ein Gewissen und Mitgefühl für andere Menschen fehlt ihnen völlig, und so nehmen sie sich selbstsüchtig, was sie begehren und machen, was sie wollen. (…) Ihre fassungslosen Opfer fragen sich verzweifelt, “Wer sind diese Menschen?”.“ Robert D. Hare, kanadischer Psychologe
Als Kinder schneiden sie Fröschen die Beine ab; sie lauern auf dem Schulweg, um anderen das Taschengeld zu stehlen; sie zwingen ihre Schwester, verschimmeltes Brot zu essen – auch vor Gewalttaten bis hin zu Mord schrecken manche Betroffene nicht zurück.
Die Pathologie zeichnet sich aus durch mangelnde Einfühlsamkeit gegenüber anderen Menschen und eine geringe Frustrationstoleranz: Diese Kranken reagieren auf Enttäuschungen mit Gewalt. Zudem beschuldigen sie Andere und lernen nicht aus ihrem falschem Verhalten. Im Gegenteil: In dieser Richtung Gestörte finden rationale Erklärungen für ihr Gewaltverhalten – wer sie anguckt, ist selbst schuld, dass er im Krankenhaus liegt.
Diese Unfähigkeit zur Empathie hat einerseits eine genetische Disposition, entsteht aber auch durch Traumatisierungen und eigene Gewalt-Erfahrung. Ein Prozent der Frauen und drei Prozent der Männer sind betroffen. Die wenigsten Empathie-Unfähigen werden indessen Schwerstkriminelle; viele von ihnen sind aber wegen Delikten wie Körperverletzung und Erpressung bekannt – und noch mehr finden legale Wege, ihre Störung auszuleben: Vom Demagogen, der gegen Minderheiten hetzt, bis zum Wirtschaftsboss, der Konkurrenten zu Staub zertritt.
Eine Persönlichkeitsstörung zeigt sich als starre Reaktion auf sich ändernde Situationen, in Beziehungen und Beruf ebenso wie im öffentlichen Leben. Ein solches Verhalten weicht deutlich und von Dauer von der Mehrheit des sozialen Umfeldes ab.
Ein derart Gestörter fühlt mit anderen Menschen nicht mit; er ist unfähig, dauerhafte Beziehungen zu führen, hat aber keine Probleme, sie einzugehen. Er löst Konflikte mit Gewalt. Er hat kein Schuldgefühl und lernt nicht aus schlechten Erfahrungen, speziell Strafen.
Gefährliche Kriminelle
„Auf die Frage, ob er Reuegefühle wegen eines bewaffneten Raubüberfalls hätte, dessen Opfer anschließend drei Monate mit Stichverletzungen im Krankenhaus verbringen musste, antwortete einer unsere Probanden: „Bleiben wir doch bei den Tatsachen! Er liegt ein paar Monate im Krankenhaus, während ich hier schmore. Ich habe ihn ein bisschen aufgeschlitzt, aber hätte ich ihn umbringen wollen, hätte ich ihm die Kehle durchgeschnitten. So bin ich nun mal; ich war noch nett zu ihm.“ Befragt, ob er irgendeines seiner Verbrechen bereue, antwortete er: „Ich bereue gar nichts. Nichts kann ungeschehen gemacht werden; es muss damals gute Gründe gegeben haben und darum habe ich es getan.“ Robert D. Hare über einen dissozialen Täter
Dissozial Gestörte in Reinform sind ideale Gewohnheitsverbrecher. Die Diagnose ist wichtig für die forensische Psychiatrie – denn sie entscheidet über die Schuldfähigkeit. Check-Listen helfen dabei, die Merkmale von Dissozialen zu erkennen. Dazu gehören: Fehlende Impulskontrolle, Unfähigkeit zur Selbst-Reflexion, Gefühlskälte und Egozentrizität. Dissoziale sind nicht nur anfällig zu kriminellem Verhalten – sie werden auch meistens rückfällig.
Robert D. Hare schreibt: „Bedenkt man ihre Redegewandtheit und die Leichtigkeit, mit der ihnen Lügen von den Lippen gehen, ist es nicht überraschend, dass Psychopathen mit großem Erfolg ihre Mitmenschen beschummeln, belügen, betrügen, hereinlegen und manipulieren, ohne deswegen auch nur die geringsten Gewissensbisse zu haben. Häufig bezeichnen sie sich selbst geradeheraus als Schwindler oder Trickbetrüger. Ihre Äußerungen verraten ihre Überzeugung, die Welt würde aus „Gebern und Nehmern“ bestehen, aus Jägern und Opfern, und dass es dumm wäre, die Schwächen anderer nicht auszunutzen.“
Die Fachwelt erkennt zwei Eigenschaften der Dissozialen, die sie in Gefahr bringen, schwere Verbrechen zu begehen: Zum einen fürchten sie keine Strafen; zum anderen empfinden sie kein Mitgefühl und fügen Mitmenschen ohne Skrupel Schaden zu.
Schwäche bedeutet für Dissoziale das Recht, Anderen zu schaden. Robert D. Hare schreibt: „Psychopathen sehen Mitmenschen zumeist nur als Objekte an, die sie zur Befriedigung eigener Bedürfnisse benutzen können. Schwache und Verletzliche – die sie verspotten, anstatt sie zu bemitleiden – sind ihre beliebtesten Ziele. „Im Universum des Psychopathen gibt es niemanden, der einfach nur schwach ist,“ schrieb der Psychologe Robert Rieber. „Wer schwach ist, ist auch ein Schwächling – also jemand, der es herausfordert, ausgenutzt zu werden.“
Kriminalisten in Kanada und den USA kennzeichnen an dieser Störung leidende Kriminelle folgendermaßen: Charmante Lügner mit explosivem Selbstwertgefühl; sie sind gierig nach Erlebnissen und zugleich ständig gelangweilt; sie manipulieren als Lebensstrategie; ihre Gefühle sind oberflächlich und gespielt; ihr Lebensstil ist parasitär, sie saugen Andere aus, und sie wissen und wollen das auch; sie sind promiskutiv, sexuelle Beziehungen dienen nur dazu, sich selbst zu befriedigen; sie haben weder langfristige noch realistische Ziele; sie übernehmen keine Verantwortung für ihre Taten; sie missachten Auflagen, Werte und Normen; sie werden früh kriminell, bereits als Jugendliche stellen sie Serientäter.
Dissoziale Kriminelle verharmlosen ihre Taten. Robert D. Hare berichtet: „Ein Häftling mit einer sehr hohen Punktzahl auf der Psychopathie-Checkliste hat behauptet, dass seine Verbrechen tatsächlich positive Auswirkungen für die Opfer gehabt hätten. “Am nächsten Tag konnte ich über einen meiner Streiche in der Zeitung lesen – einen Raub oder eine Vergewaltigung. Es wurden Interviews mit den Opfern abgedruckt – sie waren in der Zeitung! Frauen haben oft nette Sachen über mich gesagt, dass ich sehr höflich und rücksichtsvoll bin, sehr gewissenhaft. Ich war nicht gewalttätig zu ihnen, klar? Einige haben sich sogar bei mir bedankt.”
Vielerlei Gestörte oder falsche Spuren?
Genau so, wie unser Körper mehrfach erkranken kann, zum Beispiel Herz-Kreislauf oder Magen-Darm, leidet auch unsere Psyche bisweilen mehrfach; wir sprechen dann von Ko-Morbidität: Dissoziale Störungen gehen bisweilen einher mit Narzissmus, Borderline-Symptom, aber auch mit Alkohol- und Drogensucht. Ebenso gibt es Betroffene, die schizophrene Psychosen oder manische Hochs erleben.
Umgekehrt bedeutet delinquentes Verhalten nicht notwendig eine dissoziale Störung. Auch Bipolare oder paranoid Schizophrene verhalten sich in ihren Schüben dissozial, ohne aber unter der so bezeichneten Störung zu leiden.
Der Betroffene muss also genau analysiert werden. Steht die Drogensucht am Anfang des dissozialen Verhaltens? Oder missbraucht der Klient Substanzen als Folge seiner gestörten Persönlichkeit?
Erstens zeigen also auch andere Gestörte Elemente dieses Verhaltens: Drogenkranke lügen und stehlen ebenfalls; Autisten sind gleichermaßen in ihrer Empathie eingeschränkt; Bipolare handeln in einer Manie genauso verantwortungslos; Narzissten saugen ebenso ihre Mitmenschen aus; Borderliner kennen phasenweise gleichfalls kein Mitgefühl.
Aber narzisstisch Gestörte haben ihre Impulse meist gut unter Kontrolle; Borderliner entwickeln bisweilen sogar ein gesteigertes Mitgefühl für das Leiden ihrer Mitmenschen, und Bipolare verhalten sich nur in ihrer Manie verantwortungslos. Störungen können sich auch vermischen: Der Serienmörder Ted Bundy zum Beispiel litt ebenso an an einer dissozialen wie an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Mangel an Mitgefühl bedeutet indessen nicht, dass die Betroffenen die Gefühle anderer nicht wahrnehmen – im Gegenteil. Dissozial gestörte haben nämlich einen „Killerinstinkt“: Sie lesen die Gefühle ihrer Mitmenschen, koppeln dies aber von eigenen Gefühlen ab. Das Gehirn von Gesunden aktiviert die gleichen Schaltkreise, wenn Andere sich freuen, trauern oder wütend sind. Nicht so der Dissoziale; er sieht zwar die Gefühle der Mitmenschen, sein Gehirn aktiviert diese Nervennetze aber nicht.
Antisoziales Verhalten: Beispiele
Der Ex-FBI Agent Joe Navarro veröffentlichte eine „Checkliste“ für den dissozialen Charakter (US-Psychiater bezeichnen diese Menschen als antisoziale Persönlichkeit oder „psychopaths“). Navarro ist ein weltweit anerkannter Experte für Körpersprache; kritische Sozialpsychologie, die zum Beispiel die strukturelle Gewalt der amerikanischen Gesellschaft als Motor für den dissozialen Charakter ins Auge fasst, ist seine Sache nicht.
Seine Liste ist demnach mit Vorbehalt zu genießen: Ein Schwarzer, der bereits als Kind mit der Justiz in Konflikt kommt, ist in einer rassistischen Gesellschaft nicht dissozial; ein in einer kapitalistischen Ökonomie an den Rand Gedrängter ist nicht dissozial, weil er im Laden stiehlt, um seine Familie zu ernähren. Selbst Kriminelle, die eine „Ganovenehre“ beherzigen, leiden vermutlich nicht an dieser Störung.
Navarro sagt selbst, ihm ginge es um die Opfer, nicht die Täter. Deshalb wirken seine Profile der Betroffenen holzschnittartig. Auch hier gibt es aber Zwischentöne. Die Tatsache, dass überaus viele Kriminelle eine dissoziale Störung aufweisen, bedeutet nicht, dass jeder Betroffene kriminell wird, sondern lediglich, dass die Gefahr groß ist.
Ein Klient begab sich zum Beispiel in Therapie, weil seine Partnerin schockiert war, dass der Tod des Vaters eines Freundes bei ihm keine Gefühle auslöste. Sie diskutierte mit ihm darüber, und er sagte ihr, dass er noch nie und generell kein Mitleid empfinde; er bezweifelte sogar, dass es dieses Gefühl gibt. Er könne Gefühle anhand der Gesichter anderer Menschen erkennen und diese auch kognitiv einschätzen. Er verstünde als, dass sein Freund nach dem Tod des Vaters weint, er fühle sich aber nicht betroffen. Niemals, noch nie und bei niemandem. Die Diagnose lautete: Dissoziative Persönlichkeitsstörung. Der Betroffene ist niemals kriminell geworden. Er arbeitet als Tätowierer, ist seit vielen Jahren verheiratet, zieht ein Kind groß und seine Kollegen kennen ihn als freundlichen Menschen; einige sind lediglich irritiert von seinem „leeren Blick“.
Um gefährliche Formen dissozialen Verhaltens zu erkennen, sind Navarros Thesen dennoch wichtig. Er erwähnt unter anderem folgende Merkmale:
Der Betroffene missachtet die Rechte anderer und manipuliert sie, Dinge für ihn zu tun, die ihm Vorteile verschaffen. Er hatte als Kind bereits Ärger mit der Justiz. Er ist egozentrisch und meint, tun zu dürfen, was er will, auch wenn es anderen schadet. Er ist stolz darauf, Menschen betrogen und Frauen sitzen gelassen zu haben; er prahlt mit solchen „Heldentaten“. Er lügt gerne und häufig, auch, wenn es nicht nötig ist. Regeln gelten für die Anderen, nicht für ihn. Er bricht die Gesetze ebenso wie Regeln sozialen Verhaltens.
Er hat einen sechsten Sinn für die Schwächen anderer und nutzt sie aus. Er kennt keine Reue; das Leiden der Mitmenschen ist ihm gleich gültig. Wird er überführt, gibt er Anderen die Schuld für seine Taten: Den Umständen, der Familie oder dem Opfer. Er will über Andere herrschen. Andere empfinden ihn als „unausstehlich“ und „kaltherzig“.
Er rempelt Fremde an, beleidigt sie oder stiert, um sie zu provozieren. Kritik beantwortet er mit Rache. In der Schule war er als Tyrann bekannt. Er liebt es, die Gefühle der anderen Menschen in den Dreck zu ziehen. Der Dissoziale erschleicht sich Vertrauen, um andere auszubeuten. Er spannt Andere ein, ihn zu finanzieren, für ihn zu lügen oder ihm Alibis zu verschaffen. Er legte schon früh Brände, die Menschen und Tiere in Gefahr brachten.
Leben bedeutet für ihn das Überleben des Stärksten. Der Betroffene sammelt Vorstrafen wie Briefmarken. Er legt sich falsche Identitäten zu, gibt sich als Professor, Polizist etc. aus, um sich Macht zu verschaffen oder Mitmenschen auszurauben. Er betrügt Andere um Geld, Eigentum und Wertgegenstände. Er quält Tiere und Kinder. Er drückt Verachtung gegenüber Menschen aus – in Worten, Gesten und Mimik.
Er wirkt arrogant, ohne etwas zu leisten. Er hält sich nicht an Vereinbarungen, kommt nicht zu Terminen, hat aber immer eine Ausrede. Er inszeniert Psychospiele, um Andere zu schikanieren. Er verschafft sich Sex mit Gewalt und rationalisiert diese: „Frauen wollen das…“ Er überschätzt seine Fähigkeiten und unterschätzt Andere. Er behandelt Abhängige wie Sklaven. Er finanziert sich durch Kleinkriminalität.
Er überredet Andere zu verbotenen Handlungen und lässt sie die Folgen tragen. Er dominiert Andere, ihre Zeit, ihren Körper und ihre Psyche, um daraus Profit zu schlagen. Er zerstört das Eigentum von Mitmenschen aus Spaß. Wo er auftaucht, kracht es. Er schüchtert Andere ein, um seinen Willen zu bekommen.
Wenn er seine Taten „bedauert“, wirkt er unaufrichtig. Nach Verbrechen stellt er sich als das wirkliche Opfer dar. Er verlangt, dass sich Andere um ihn kümmern, gibt dies aber nicht zurück.
Er fliegt aus allen Jobs, häuft Schulden an, und seine Beziehungen scheitern. Er stößt Andere durch seine Arroganz ab. Er nutzt seinen kalten Blick, um Andere einzuschüchtern oder abzuschrecken. Als Chef verlangt er von seinen Mitarbeitern, Gesetze zu brechen, oder Akten zu manipulieren. Er verschweigt Teile seiner Vergangenheit. Er hindert von ihm Manipulierte, Kontakt zu Freunden und Angehörigen zu suchen.
Er geht keinem Streit aus dem Weg, riskiert Leib und Leben (von sich selbst und Anderen). Er bedroht und misshandelt Geschwister, Eltern und Freunde; er bestiehlt seine Eltern, verpfändet und verkauft ihr Eigentum. Andere reagieren körperlich auf ihn: Sie bekommen eine Gänsehaut, und der Magen zieht sich zusammen.
Er begeistert sich für Folter, Schmerzen, Serienmörder und alle Formen von Gewalt; er sammelt zum Beispiel Splatterfilme oder guckt nächtelang einschlägige Youtube-Videos. Frauen sind für ihn Objekte, die er als „Nutten“ bezeichnet; oft hat er Kinder sexuell belästigt. Oft ist er auch mehrfacher Vater mit verschiedenen Frauen, kümmert sich aber nicht um die Kinder. Grausames Verhalten rechtfertigt er mit dem Satz: „Der hat das verdient.“
Er kam auf Kaution aus der Untersuchungshaft und lässt die Angehörigen auf dem Schaden sitzen. Er leiht sich Geld, zahlt es aber nie zurück. Er schlägt seine Frau und seine Kinder, die fürchten seine Nähe. Er prahlt damit, jemanden umgebracht zu haben oder umbringen zu wollen; dabei badet er sich in Details: „Ich schneide ihm den Kopf ab…“
Sind seine Kinder bei ihm, bringt er sie nicht zum Arzt, kauft kein Essen oder fährt sie nicht in die Schule. Er wechselte den Wohnort, um der Polizei und den Gläubigern zu entkommen. Sex hat bei ihm nichts mit Liebe zu tun, im Bett gilt er als Sadist; oft konsumiert er Gewaltpornos. Seine Ex-Freundinnen verabscheuen ihn. Er rechtfertigt Gewalt gegenüber seinen Kindern: „Der braucht das.“
Seine Freunde sind Rotlicht-Schläger, Zuhälter oder Drogendealer. Er verkauft Hehlerware und hortet illegale Waffen. Alles muss so gemacht werden, wie er es will; sonst wird er zornig. Er spricht häufig von seiner „teuflischen Seite“.
Solche Störungen des Sozialverhaltens müssen bereits vor dem 15. Geburtstag erkennbar gewesen sein, um von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu sprechen.
Ursachen
Die Forschung vermutet heute genetische ebenso wie soziale Ursachen, genauer gesagt: Die genetische Anlage wirkt sich nur aus, wenn ein negatives Umfeld sie fördert. Empathie- und Furchtlosigkeit, sowie fehlende Ethik zeigen sich in Anomalien des Gehirns: Amaygdala, Hippocampus und der superiore temporale Gyrus sind beschädigt, und in diesen Hirnregionen entwickelt sich Furcht ebenso wie Mitgefühl. Das Stirnhirn nahe der Augenhöhle speichert die Informationen, um die Bedeutung von Belohnung und Bestrafung zu erkennen.
Forschungen an Kriegsverletzten, bei denen dieser Bereich des Gehirns beschädigt ist, zeigen, dass sie die Fähigkeit verlieren, den „Lohn“ und die Sanktionen zu beurteilen, die ihre Handlungen zur Folge haben – und das entgegen ihrer ursprünglichen Wahrnehmung Ein niedriger Serotonin-Spiegel fördert Aggressivität, Hormone wie Testosteron und Vasopressin ebenso. Dissozial Gestörte haben diese Fähigkeit ebenfalls nicht, wie ihre strukturelle und funktionelle Entwicklung von Bildern in dieser Hirnregion belegt.
Ihre Hautleitwertreaktionen sind reduziert und gewöhnen sich schneller an starke Reize. Dissozial Gestörte haben also eine verminderte konditionierte Angstreaktion im autonomen Nervensystem. Das hört sich abstrakt an; es bedeutet verständlich formuliert: Menschen lernen aus Erfahrungen. Wer als Kind auf eine heiße Herdplatte fasste, dem „brennt“ sich das negative Erlebnis in das Gehirn ein und in einer ähnlichen Situation schreckt er davor zurück. Der Organismus löst also Furcht aus und verbindet diese mit einer Ursache. Ebenso lernen wir in der Gesellschaft.
Betroffenen fehlen hingegen die Hirnfunktionen, um diese Furcht zu entwickeln und sie an eine Ursache zu koppeln. Ihnen fehlt nicht nur das Mitgefühl für Andere, sondern auch die Sensibilität für sich selbst. Sie brauchen stärkere Reize als Normal-Sensible und suchen sich diese.
Diese genetische Disposition beschädigt das Verhalten jedoch nur dann nachhaltig, wenn eine zerstörte Kindheit hinzu kommt. Betroffene kommen fast immer aus Kindheiten voller Gewalt und ohne Liebe. Jedes Kind, das vernachlässigt wird, leidet darunter und trägt die Folgen im späteren Leben; wenn dieses Kind jedoch eine ererbte Störung des Sozialverhaltens hat, werden die Folgen katastrophal.
Besonders deutlich wird das bei einer extremen Form von Kriminellen; deren Mehrheit weist diese Störung auf – es handelt sich um Serienmörder. Serienkiller sind oft in ihrer Kindheit durch Tierquälerei aufgefallen. Auch Brandstiftung, Erpressung und erste Gewalt gegenüber Menschen lassen sich nachweisen.
Sie kommen häufig aus einem sozialen Umfeld, das von sexuellem Missbrauch und Gewalt geprägt war. Fehlende Körperberührung, lieblose Mütter, schlagende Väter, dysfunktionale Familien, und Drogenprobleme im Elternhaus tauchen in Biografien von Serienmördern häufig auf; fehlende Väter, Isolation in der späteren Kindheit, frühe Schuldgefühle durch sexuelle Projektionen der Mütter auf die Kinder sind weit verbreitet.
Der Vater des Jungenmörders Fritz Haarmann zum Beispiel war berüchtigt – als Schläger und Säufer. „Zänkisch und gnitterisch“, sah Theodor Lessing in ihm das „Urbild eines Krakeelers und miss wollenden Pfennigfuchsers.“ In den Absteigen der Altstadt Hannovers, den Treffpunkten der Verlorenen und Alkoholiker, blühte diese Sumpfblume auf. Früh verrentet, lebte der Geizkragen vom Vermögen seiner Gattin Johanne. Vater und Sohn bedrohten sich ununterbrochen. Der Vater wollte den Sohn in das Irrenhaus stecken – der Sohn den Vater in das Zuchthaus bringen. Der Vater schlug den Sohn, der Sohn verprügelte den Vater. Beide beschuldigten sich, Mordpläne gegen den Anderen zu schmieden. Die beiden nahmen aber gemeinsam Dritte aus und entlasteten sich vor Gericht gegenseitig, um danach wieder aufeinander loszugehen.
Die Mutter des „Vampirs von Sacramento“, der das Blut seiner Opfer trank, Richard Trenton Chase, litt an Schizophrenie. Sie war unfähig, sich liebevoll um ihren Sohn zu kümmern. Der Vater des dreiunddreißigfachen Mörders John Gacy kam nach Hause, setzte sich in den Sessel, betrank sich und schlug dann betrunken auf den Jungen ein. Die Mutter des extrem brutalen Ed Kemper machte ihren Sohn für jedes Missgeschick verantwortlich.
Oft verbirgt sich hinter einer äußeren „heilen Welt“ der Terror. So hatte die Mutter von Ed Kemper eine angesehene Stellung an der Universität. Die psychische Gewalt gegenüber ihrem Sohn verübte sie hinter verschlossenen Türen.
Ein Schlüssel ist unterschwellige Sexualität in der Aggression der Eltern von Serienmördern gegenüber ihren Kindern. Nicht jeder Serienmörder ist sexuell motiviert; aber sexuell motivierte Serienmörder sind unfähig, ausgeglichene Beziehungen zu Gleichaltrigen und Gleichberechtigten zu führen. Sie übersetzen diese Unfähigkeit in sexualisierte Morde. Das gilt zwar auch für manche Soldaten im Krieg, aber der Serienmörder sucht sich seine Opfer allein – in einer Zivilgesellschaft.
Robert Ressler, ein Pionier im Profiling von Serienmördern, erörterte ein Zusammentreffen von Umständen: Am Anfang stehen die beschriebenen Kindheitsprobleme. Kommt dazu noch die Ablehnung durch Schulkameraden, das Versagen der Sozialdienste, die Ausgrenzung in der Nachbarschaft und eine Unfähigkeit, sich sexuell integriert zu entwickeln – so ist dies geradezu ein Steckbrief für einen möglichen Serienmörder.
Negative Faktoren fördern, ob Kinder mit dissozialen Mustern eine ausgewachsene Persönlichkeitsstörung entwickeln. Der häufige Wechsel von Bezugspersonen vor dem 11. Lebensjahr kann entscheiden, ob jemand auf die „schiefe Bahn“ gerät oder nicht. Eltern, die angepasste Reaktionen ihres Kindes nicht wahrnehmen, aber kleinste „Vergehen“ hart bestrafen, fördern antisoziales Verhalten. Das Kind gewöhnt sich an Strafen, lernt aber ausgeglichene soziale Beziehungen als Unterschied zu diesen Strafen nicht kennen. Irgendwann fürchtet es die Strafen nicht mehr, da es die Alternative nicht kennt. Die Strafe wird sogar zur negativen Anerkennung; das Kind lernt, mit dissozialem Verhalten auf sich aufmerksam zu machen.
Kinder mit gestörtem Sozialverhalten reagieren aggressiv auf Andere, weil sie sich kaum in diese einfühlen können. Deshalb nehmen sie sie als Feinde wahr.
Die Anlage zu dissozialem Verhalten wird gefördert durch kriminelles Verhalten und psychische Probleme der Eltern. Diese Ursache ist mehrschichtig: Ein krimineller Vater ist weder ein gutes Vorbild, noch kann er sich um das Kind kümmern, wenn er im Gefängnis sitzt. Häufig liegt aber auch beim Vater eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor.
Die dissoziale Persönlichkeit kennzeichnet, dass die Betroffenen soziale Normen missachten. Nur manche werden Schwerstkriminelle. Einige werden hingegen „erfolgreich“: Sie gehen hohe Risiken ein, sei es als Berufsspieler oder als Investmentbanker.
Gestörtes Sozialverhalten
Die Kinderpsychiatrie kennt als gestörtes Sozialverhalten von Kindern antisoziale Handlungen wie notorisches lügen, bestehlen anderer Kinder, gezieltes demütigen anderer Kinder, schlagen, tyrannisieren und harte Formen von Gewalt, zum Beispiel Gegenstände als Waffen einsetzen.
Die Hälfte solcher auffälligen Kinder integriert sich später sozial, die andere Hälfte behält ihr Verhalten als Erwachsene. Wenn sich die antisozialen Symptome verfestigen, kann sich eine dissoziale Störung der Persönlichkeit entwickeln.
Zumindest im Rückblick lässt sich klären, wer gefährdet ist. Dissozial gestörte Klienten zeigten zu zwei Dritteln bereits vor dem 12. Lebensjahr drei oder mehr Symptome der Störung. Zu den Risikofaktoren gehören erstens das Geschlecht; denn Männer führen ihre Probleme eher nach außen ab, Frauen richten sich eher nach innen. Kinder, die frühzeitig auffallen, sind so genannte „early starter“, während jene, die erst als Jugendliche mit antisozialem Verhalten beginnen, den „Late-onset-Typus“ stellen. Die Frühstarter leiden erstens an Komorbidität, insbesondere an geistigen Defiziten – sie können sich schlecht artikulieren und Informationen kaum im Gedächtnis speichern; zweitens sind sie in größerer Gefahr, dass ihr Verhalten zu einer Persönlichkeitsstörung wird.
Adoptions- und Zwillingsstudien zeigten, dass die genetische Disposition eine wesentliche Bedeutung hat. Biochemische, neurophysiologische und psychophysiologische Befunde belegen biologische Marker als „Vulnerabilitäts-Faktoren“ für dissoziales Verhalten.
Auch für die Kinder und Jugendliche gilt. Dissoziales Verhalten bedeutet nicht, dass ein Kind gelegentlich die Unwahrheit sagt, oder dass Jungen sich „kloppen“. Es bedeutet auch nicht, dass Kinder und Jugendliche Tabus brechen, um sich gegenüber der Welt der Erwachsenen zu definieren. Es bedeutet auch nicht, dass sich jemand nach spießbürgerlichen Maßstäben schlecht benimmt, also nicht mit gefalteten Händen am Tisch sitzt.
Wer sich dissozial verhält, ob als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, schadet Anderen, ohne es zu bereuen, er betrügt als Lebenspraxis, und er verhält sich antisozial in unterschiedlichen Lebensbereichen: Ein Mitglied einer Jugendbande zum Beispiel, das fragwürdige Mutproben besteht, um vor seiner Clique zu glänzen, verhält sich nicht antisozial, sondern sozial, denn es geht darum, sich in die Gruppe zu integrieren. Dissoziale hingegen verhalten sich gegenüber Mitschülern ebenso antisozial wie gegenüber Lehrern, gegenüber Feinden ebenso wie gegenüber Feinden.
Therapien
Bei psychisch Gestörten, die Andere gefährden und Mitmenschen Schaden zufügen, fällt es schwer, sie auch als Leidende zu begreifen. Doch der dissozial Gestörte leidet unter seiner Krankheit. Betroffene sind nicht nur häufiger in Gewalttaten verwickelt als „Normale“, sie sterben auch häufiger durch Gewalt, und sie enden noch häufiger als Selbstmörder.
Der Dissoziale befindet sich also in einem Teufelskreis. Würde er seine „Dominanz“ aufgeben, und das heißt einlenken, müsste er sich „belehren“ lassen. Seine Störung bedingt aber, dass er nicht versteht, warum er das sollte.
Ein dissozial Gestörter im Extremfall schadet seine Mitmenschen in hohem Maße. Heute konzentriert sich die Therapie darauf, vorzubeugen. Genetisch Vorbelastete und sozial Verwahrloste brauchen gezielte Förderung. Eine Vertrauensperson kann vielleicht die Weichen zu einer positiven Entwicklung stellen. Dieser „väterliche Freund“ muss sich seiner Verantwortung bewusst sein: Er darf keine schnelle Besserung erwarten, der Klient wird ihn immer wieder enttäuschen; er selbst braucht Ansprechpartner, die ihn unterstützen, damit er nicht resigniert.
Diese Bezugsperson ist im besten Fall emotional intelligent, langjährig im Beruf erfahren, ebenso beziehungsfähig wie in stabilen Beziehungen lebend, strukturiert beim Lernen und sozial kompetent im Alltag. Denn ein Mensch mit einer genetischen Disposition zu einer dissozialen Störung ist nicht automatisch ein Monster: Auch wenn seine Empathie beeinträchtigt ist, lernt er doch durch Erfahrung in seinem Umfeld; zudem sind unter den Beeinträchtigen die Extremfälle, denen jede Furcht und Empathie fehlt, selten.
Auch die Betroffenen sind mehrschichtige Menschen, ein (kriminelles) Umfeld, in denen ihre Störung scheinbar zum Vorteil wird, kann in die Katastrophe führen – ein sozial stabiles Umfeld führt im besten Fall zu einer ausgeglichenen Verhaltens-Mischung.
Jemand, der wenig Mitleid empfindet, wird dissoziale Handlungen vielleicht dennoch vermeiden, wenn sie für ihn Nachteile bedeuten. Auch wenn er soziales Verhalten lernt wie mathematische Formeln, kann er es dennoch lernen. Wenn die fehlende Empathie biologisch bedingt ist, kann der Therapeut sie weder mit Werten und Normen noch mit Sanktionen erreichen. Entscheidend ist, gerade bei extrem Dissozialen, ihnen die Konsequenzen ihrer Handlungen in das Bewusstsein zu rufen – zum Beispiel, indem man mit ihnen zusammen die Gedanken im Vorfeld einer Gewalttat analysiert.
Zudem können Betroffene durchaus lernen, indem der Therapeut ihre Schuldabwehr durchbricht. Er muss dafür den Klienten immer wieder darauf stoßen, dass er verantwortlich ist für den Streit und die Gewalt; der Gestörte bagatellisiert seine Taten – hier muss der Therapeut einen Riegel vorschieben.
Anti-Aggressionstraining verspricht Erfolge. Hier lernen die Betroffenen mit Rollenspielen und Videotechnik, Probleme zu erkennen und gewaltfreie Lösungen zu suchen. Insbesondere führt der Therapeut den Klienten zu großen Entwürfen – in die Zukunft und das Leben. Der Betroffene kann vielleicht kein Mitgefühl für sein Opfer entwickeln, aber ein Haus mit Garten ist auch für ihn die bessere Perspektive zum Gefängnis.
Wenn die „Katze schon aus dem Sack ist“, Betroffene also die erste Körperverletzung, den ersten Einbruch oder den ersten Betrug begangen haben, dann erarbeitet der Therapeut rückwirkend, welche Verhaltenskette zur Tat führte. Jede einzelne Situation auf diesem Weg wird analysiert und durch gearbeitet, und der Täter lernt alternative Möglichkeiten, zu handeln. Die Erfolge sind bei „harten“ Dissozialen indessen äußerst gering.
Eine Studie aus Australien war jedoch erfolgreich bei kalt-unemotionalen Kindern – also den potentiellen dissozialen Tätern von später. Die Eltern dieser Kinder sollten ihnen alle zehn Minuten in die Augen blicken und ihnen mit sanfter Stimme sagen: „Ich hab dich lieb.“ Sechs Monate später konnten die Kinder in den Gesichtern der Eltern Emotionen erkennen. Das lieferte einen Beleg dafür, dass Empathie auch bei biologisch Beeinträchtigten lernbar ist.
Schuldfähigkeit?
Eine dissoziale Persönlichkeit ist eine psychische Störung, so wie paranoide Schizophrenie oder Bipolarität. Sind Betroffene also schuldunfähig? So einfach ist es nicht.
Ein Täter gilt dann als schuldunfähig, wenn er wegen einer „schweren seelischen Abartigkeit“ nicht Herr seiner Handlungen ist. Schwere seelische Abhängigkeit bedeutet: Stereotypes Verhalten, massive Probleme in Beziehungen, affektive Auffälligkeit, permanente Verhaltensprobleme, starre Denkmuster, gestörte Wahrnehmung der Realität.
Über die Schuldfähigkeit entscheidet indessen, ob der Täter während, bzw. unmittelbar vor der Tat seine Handlungen steuern konnte. Die Störung macht den Delinquenten zum Beispiel besonders verführbar, eine Straftat zu begehen. Schuld mindernd wirkt sich die Störung jedoch nur aus, wenn die Impulskontrolle die gesamte Persönlichkeit prägt.
Schuld mindernd wirken Aspekte, die zur Eskalation eines Konfliktes führten: Alkohol- oder Drogenrausch, eine von Impulsen bestimmte Verhaltenskette bei der Tat, und eine direkte Verbindung zwischen der Tat und der Persönlichkeitsstörung.
Für die Schuldfähigkeit sprechen hingegen eine planvolle Tat, die Fähigkeit, zu warten, komplexe Handlungen in aufeinander abgestimmten Schritten, das systematische Verwischen von Spuren, Alibis zu verschaffen, und flexible Handlungsoptionen. Wenn der Betroffene also in einer vergleichbaren Situation dieses Delikt nicht beging, spricht das für seine Schuldfähigkeit.
Die Störung allein mindert die Schuld also nicht. Ein Berufsverbrecher kann zum Beispiel durch seine genetisch und soziale Vorbelastung für diesen Weg besonders geeignet sein: Wenn er jedoch organisiert Menschen erpresst, Frauen in die Prostitution zwingt oder als Auftragsmörder arbeitet, ist er trotzdem schuldig.
Die Diskussion über den „freien Willen“ der Betroffenen beginnt jedoch gerade erst. Die biologische Perspektive, also die Erkenntnisse über die genetisch beeinträchtigten Hirnfunktionen dürfte zumindest die „Charakterschuld“ in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Machtmenschen
„Ich wäre überrascht, wenn nicht jeder Politiker deutlich weiter oben auf der Psychopathenskala rangieren würde als der Durchschnittsmensch.“ Der Psychologe Kevin Dutton
Menschen mit dieser Störung sind drei- bis viermal häufiger in Machtpositionen zu finden als im Rest der Bevölkerung. Das ist kein Zufall: Sie sind kalt, können aber die Gefühle Anderer lesen; sie manipulieren ohne Gewissen, können also die „Zügel in der Hand halten“; sie werden nicht verletzlich, weil sie sich in Liebesbeziehungen verstricken; sie ordnen schnell zu, wer von Vorteil ist und wer nicht, ohne dabei von Mitgefühl gebremst zu werden. Andere Menschen sind für sie Werkzeuge; wenn sie sich angegriffen fühlen, schlagen sie mit allen Mitteln zurück. Das alles gilt im Vertrieb, bei Versicherungen und im Bank-Management als Führungs-Qualität. Genau diese Brachen ziehen Betroffene an: Es geht um viel Geld und spontane Entscheidungen.
Auch Politiker profitieren von dieser Störung. Der Psychologe Jens Hoffmann erkennt diese Studie bei Jörg Haider ebenso wie bei Silvio Berlusconi und abgeschwächt bei George Bush Junior. Mischt sich die dissoziale mit der narzisstischen Störung, dann haben wir einen prototypischen Diktator.
Erich Fromm erkannte bei Hitler einen das Leben hassenden Charakter und sah dessen Ideologie als Ausdruck davon. Die Vernichtung eines konstruierten Feindes und Macht über Leben und Tod ist Motor faschistischer Weltanschauung. Ob zum Beispiel die NSU-Killer Böhmhardt und Mundlos die mörderische Pathologie zur faschistischen Ideologie trieb oder die Ideologie zum Mord lässt sich nicht scharf trennen.
Faschismus ermöglicht es Dissozialen, ihre Störung umzusetzen. Mitleidlosigkeit ist in der Nazi-Ideologie erklärtes Ziel. Gehirnwäsche und das „Abrichten zum Töten“ belegen, dass den meisten Menschen die Empathie erst zerstört werden muss. Dagegen bildeten den Kern der NS-Kampfverbände, über die sich heutige Neonazis definieren, Männer, deren Psyche dem Töten entsprach.
Viele charismatische Herrscher der Geschichte hatten vermutlich eine dissoziative Störung – auch wenn sich aus der Distanz heraus schwerlich eine Diagnose treffen lässt.
Die genetische Grundlage der Störung, also die eingeschränkte Empathie und Angstfreiheit, kann in der Evolution sinnvoll gewesen sein. In Extremsituationen, also gegenüber wilden Tieren und menschlichen Feinden waren furchtlose Charaktere, die kein Mitgefühl in ihren Entscheidungen bremste, von Vorteil – vielleicht waren sie sogar notwendig, auch wenn ihre Tyrannei das soziale Leben in der Gruppe beeinträchtigte.
Jens Hoffmann sieht die meisten Führungskräfte als „subklinische Dissoziale“. Mut, Leistungsbereitschaft ohne Rücksicht auf sich und Andere, Durchsetzungskraft, Machtbesessenheit und mangelndes Schuldbewusstsein sind geradezu Top-Skills für eine Bewerbung im Management. Oberflächlicher Charme und emotionale Kälte kommen hinzu. Angstfrei und gefühlskalt kommen sie mit Stress gut zurecht. Sie haben kein Problem, Mitarbeiter zu feuern, weil es sie nicht berührt.
Wenn Betroffene nach oben gekommen sind, ist es schwer, sie zu bremsen. Die Mitarbeiter in den unteren Hierarchien leiden unter der Tyrannei; die Spitze bekommt wenig mit. Übt jemand Kritik, spielt der Gestörte sein Repertoire von Manipulation und Rufmord aus. Er isoliert den Kritiker von seinem Team, er strukturiert ganze Abteilungen um und suggeriert dem Leidenden, dass mit „ihm etwas nicht stimmt“. Seine Vorgesetzten manipuliert der Dissoziale ebenfalls; er heuchelt ihnen sogar Empathie für die Probleme der Firma vor.
Wer so jemand als Chef hat, muss sich selbst schützen. Er darf keine Schwäche zeigen und nicht versuchen, den Chef zu ändern. Er sollte sich Verbündete suchen, den Betriebsrat und die Personalabteilung informieren, sowie das Verhalten des Vorgesetzten minutiös belegen. In der Konsequenz sollte er sich aber einen Arbeitsplatz suchen, an dem Demokratie und Mitarbeiterrechte es Tyrannen schwer machen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Joe Navarro: Die Psychopathen unter uns: Der FBI-Agent erklärt, wie Sie gefährliche Menschen im Alltag erkennen und sich vor ihnen schützen, mvg Verlag, 2014
- Berufsverbände und Fachgesellschaften für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland und der Schweiz: Persönlichkeitsstörungen - Krankheitsbilder (Abruf: 27.08.2019), neurologen-und-psychiater-im-netz.org
- Psychiatrienetz, c/o Psychiatrie Verlag: Persönlichkeitsstörungen (Abruf: 27.08.2019), psychiatrie.de
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: S2- Leitlinie für Persönlichkeitsstörungen, Stand: 2009, dgppn.de
- Rainer Sachse: Persönlichkeitsstörungen verstehen: Zum Umgang mit schwierigen Klienten, Psychiatrie Verlag, 10. Auflage, 2014
Wichtiger Hinweis:
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