Massensterben durch eingeschleppte Seuchen am Beispiel Amerika
„Die größte menschliche Katastrophe der Geschichte, weit größer als das Desaster des Schwarzen Todes im mittelalterlichen Europa.” Der Historiker David Cook über die europäischen Seuchen in Amerika.
Im Jahr 1492 betrat Kolumbus mit seiner Mannschaft die Karibik. Weniger als hundert Jahre später waren 90 Prozent der Ureinwohner Amerikas ausgelöscht. Völkermord, Vergewaltigung, Versklavung, Vertreibung und Kriege der Spanier hatten einen erheblichen Anteil an dieser bis dahin größten Massenvernichtung menschlichen Lebens in der Geschichte. Doch die Invasoren hätten niemals so ungehindert einen ganzen Kontinent unterwerfen können, wenn ihnen nicht unsichtbare Helfer zur Seite gestanden hätten: Die von den Europäern eingeschleppten Viren und Bakterien rafften den Großteil der Ureinwohner Amererikas hin und eilten den Spaniern voraus. Grippe, Masern oder Pocken radierten ganze Zivilisationen aus, viele Jahre, bevor die Eroberer sie erreichten – am Amazonas ebenso wie in Honduras.
Inhaltsverzeichnis
Der Tod der Tainos
Als Kolumbus im Jahr 1492 Hispaniola entdeckte (heute Haiti und die Dominikanische Republik), lebten dort geschätzt 500.000 Tainos. Die gesamte Küste war voller Dörfer und kleinerer Städte. Auf Kolumbus zweiter Reise im Jahr 1493 erkrankte ein großer Teil seiner Mannschaft. In wenigen Jahren starben die Hälfte seiner 500 Männer in Hispaniola. Bei den Krankheiten handelte es sich vermutlich um Typhus, Keuchhusten und Grippe.
Unter der indigenen Bevölkerung wüteten die eingeschleppten Seuchen weiter: Im Jahr 1508 wurde die Bevölkerung der Tainos nur noch auf 60.000 Personen geschätzt. Zehn Jahre später waren nur noch 18.000 Natives übrig geblieben. Dann wurden die Masern eingeschleppt und rafften diese Überlebenden bis auf rund 1000 Hinterbliebene dahin. Letztendlich war im Jahr 1542 kein einziger Taino mehr über.
Killerkeime in Mesoamerika
Im Jahr 1519 kam der Hidalgo Hernando Cortés mit wenigen hundert Spaniern nach Mexiko in ein hoch entwickeltes Reich mit dem Zentrum Tenochtitlan, einer der größten Städte der damaligen Welt mit mehr als 300.000 Einwohnern.
Die koloniale Heldengeschichte erzählt davon, wie ein winziger Haufen spanischer Soldaten diese Großmacht in Mittelamerika in die Knie zwang. Verschwiegen wird dabei zum einen, dass sich den Spaniern zehntausende von indigenen Kriegern anschlossen, die danach fieberten, sich vom aztekischen Joch zu befreien. Zum anderen kamen eingeschleppte Seuchen den Eroberern zuvor und rafften viele Einheimische dahin.
Ein Jahr nach der Ankunft der Spanier wüteten das erste Mal die Pocken in Mexiko. In nur zwei Monaten starben circa die Hälfte der Einwohner Tenochtitlans. In weniger als zwei Jahren vernichtete die Krankheit bis zu acht Millionen Menschen – die Infrastruktur brach zusammen.
In der Noche Triste (spanisch für Traurige Nacht) im Jahr 1519 hatten sich die Azteken gegen die Spanier erhoben und viele der Invasoren getötet. Die Überlebenden flohen nach Tlaxcala, das 50 Kilometer von Tenochtitlan entfernt lag. Vermutlich hätten Cortés Männer jetzt keine Chance mehr gehabt, gegen viele tausend ausgebildete Krieger der Azteken zu bestehen. Doch genau in diesem Moment brachen die Pocken im Tal von Mexiko aus. Die Spanier sahen die Seuche als Zeichen Gottes für ihren Sieg. Die Pocken killten nicht nur jeden zweiten Bewohner der Stadt, sondern auch den Kaiser der Azteken, Cuitláhuac, der eine schlagfertige Kriegsallianz aufgebaut hatte.
Die Epidemie brach die Moral der indigenen Krieger. Sie sahen, dass die Krankheit die Azteken vernichtete, die Spanier aber verschonte und sahen darin einen Fluch ihrer Götter, die sie verlassen hatten. Als die Spanier in die Stadt einmarschierten, vermerkte ein Chronist: „Die Straßen waren so gefüllt mit Toten und Kranken, dass unsere Männer über nichts als Körper schritten.“
Die Pocken verbreiteten sich auch nach Guatemala, in das Reich der Maya. Die großen Mayastädte waren zwar verlassen, doch nach wie vor hatten die Maya den Ruf, unerbittliche Krieger zu sein. Doch die Pocken zerstörten sie ebenso wie die Azteken, so dass zehn Jahre später ein Offizier von Cortés die Mayagebiete im Handumdrehen einnahm. Laut Überlieferungen starb die Hälfte der Indianer in Honduras an einer Epidemie in den Jahren 1530 bis 1532.
Im Jahr 1532 schrieb der Konquistador Pedro de Alvarado an den König von Spanien: „In ganz Neuspanien (Mexiko) geht eine Krankheit um, von der gesagt wird, es seien die Masern, die die Indios tötet und das Land überschwemmt, es total leer zurück lässt.“ Vermutlich wüteten in Mittelamerika neben Pocken und Masern noch Typhus, Beulenpest und Durchfall-Erkrankungen.
Im heutigen Honduras lebten bei der Ankunft von Kolumbus mutmaßlich 600.000 Menschen. Im Jahr 1550 gab es nur noch 32.000 Ureinwohner. Das entspricht einem Verlust rund 95 Prozent. Schätzungen zufolge starben 400.000 Personen an Krankheiten.
Historisches Massensterben
Schätzungen der Historiker variieren zwar, aber man geht davon aus, dass bei der Ankunft von Kolumbus im Jahr 1492 circa 4,4 Millionen Menschen in Nordamerika, rund 21 Millionen in und um Mexiko, sechs Millionen in der Karibik und weiteren sechs Millionen in Mittelamerika lebten. Im Jahr 1543 war von den Indigenen auf den Hauptinseln der Karibik wie Kuba, Jamaika, Hispaniola und Puerto Rico kein einziger mehr am Leben – sechs Millionen Tote in 50 Jahren. Auf kleineren Inseln, die von den Seuchen verschont geblieben sind, überlebten einige wenige in einer prekären Existenz.
Im Jahr 1531 erreichten dann die Masern den Kontinent und forderten unzählige Menschenleben. In Nordamerika richteten die Mikroben ihr Zerstörungswerk bereits an, bevor die europäischen Eroberer das Land betraten. Sie fanden nur noch einen dünn besiedelten Kontinent vor.
Zwischen den Jahren 1539 und 1541 erkundete Hernando de Soto den Südosten der späteren USA. Er beschrieb eine indianische Zivilisation namens Coosa auf dem Territorium der heutigen Staaten Georgia, Alabama und Tennessee mit circa 50.000 Menschen. 20 Jahre später stießen die Europäer nur noch auf verlassene Häuser und verwilderte Gärten. Im Mississippi-Tal fand de Soto 49 Städte, ein Jahrhundert später berichtet der französische Entdecker La Salle nur noch von sieben verwahrlosten Siedlungen.
In Neuengland hatten sich die Europäer kaum niedergelassen, da vernichtete eine Epidemie bis zu drei Viertel der Indigenen Bevölkerung. Im Jahr 1690 wüteten Pocken und Masern zugleich auf einem riesigen Terrain von der Ostküste bis zum Mississippi.
Seuchenherde und verfluchte Städte
Die Eroberer glaubten, das Amazonasgebiet sei nur von wenigen Jägern und Sammlern bewohnt. Ruinenstädte im Regenwald Mesoamerikas hielten die Europäer bis in jüngste Zeit für Hinterlassenschaften alter präkolumbianischer Kulturen. Neue Untersuchungen belegen hingegen, dass sie erst nach Ankunft der Spanier endeten.
Die Erzählungen von Natives in Mexiko, Venezuela oder Brasilien sind voll mit versunkenen Städten, auf denen ein Fluch lastet, in denen böse Geister umgehen, und sie fürchten sich davor, die Gegenden zu betreten, in denen diese Städte liegen sollen. Von den Kolonialherren als Aberglauben verachtet, handelt es sich hingegen um überlieferte Realgeschichte, nicht anders als hierzulande die kollektive Erinnerung an die Pest.
Unsichtbare böse Geister
Die Einheimischen starben aus damals unerklärlichen Gründen wie die Fliegen und boten dabei bizarre Anblicke: Ihre Gliedmaßen zuckten, blutiger Auswurf drang aus den Körperöffnungen und es gab keine Hilfe. Die letzten Überlebenden taten das medizinisch einzig richtige: Sie verließen die Stätten ihrer weit entwickelten Kulturen und flohen weit weg in die Wälder – fort von den „bösen Geistern“ – fort von den Viren und Bakterien.
Fehlende Immunität
Die Menschen auf dem Doppelkontinent hatten im Gegensatz zu den Eurasiern keine Immunität gegen die anstürmenden Krankheitserreger entwickelt, denn sie waren seit mindestens 13 000 Jahren von Eurasien isoliert. Die meisten unserer Viren und Bakterien verursachten ursprünglich Seuchen bei Tieren und passten sich an die Menschen an, als diese die Tiere domestizierten. In tausenden von Jahren Nutztierhaltung passte sich umgekehrt das Immunsystem der Viehzüchter an die Erreger an.
Mit den Spaniern kamen Pferde und Hunde, später Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner. Die Wanderratte, ständiger blinder Passagier auf den Schiffen, betrat ebenfalls amerikanischen Boden und mit ihr ein ganzer Mikrokosmos an tödlichen Mikroben.
Hilflose Medizin
Die Natives hatten nicht nur keine Immunität gegen die Seuchen Europas, sondern auch keine Methoden dagegen vorzugehen. Das lag keineswegs daran, dass die indigene Medizin „primitiv“ war: Mayas und Mexica, Tolteken oder Inkas und ebenso die Völker Nordamerikas kannten unzählige Heilpflanzen und Kräutermedizin, deren Wirkstoffe sich heute in Pharmazeutika wiederfinden.
Allein in der Medizin der Maya wurden mindestens 900 Pflanzen als Heilkräuter verwendet, darunter Aloe, Agave, Papaya, Chili und Passionsblumen wie die Safranmalve. Doch gegenüber den neuen Seuchen waren die Natives hilflos, in den Anden wie am Amazonas, am Missouri wie in Mexiko.
Rituale, um Krankheiten zu heilen, verbreiteten die Viren und Bakterien sogar zusätzlich: Gerade Epidemien, die ganze Menschenmassen heimsuchten, galten als Strafen der Götter für Fehlverhalten, und dies versuchten die Natives durch Gebete und Opfer auszugleichen.
Die Indigenen praktizierten zudem eine schamanische Einbindung der Erkrankten in die Gemeinschaft. Das war als psychosomatische Methode durchaus erfolgreich. Die soziale Integration stärkt die körpereigenen Abwehrkräfte und schüttet Hormone aus, die den Verlauf von Krankheiten lindern. Traditionelle Schwitzbäder, die die Natives als spirituelle Reinigung ansahen, sorgen für eine verbesserte Durchblutung. So sinnvoll solche Methoden sind, um die Selbstheilung des Körpers zu aktivieren, so fatal waren sie bei den neuen Erregern, die sich durch Schmier- und Tröpfcheninfektionen verbreiten. Sie hatten durch diese gemeinschaftlichen Handlungen leichtes Spiel. Die Kranken von den Gesunden zu isolieren, hätte die Seuchen bremsen können, doch dies war in der indianischen Medizin unbekannt.
Die Ursache blieb den Einheimischen verschlossen
Auch konnten die Ureinwohner oft den Zusammenhang zwischen den Epidemien und den europäischen Eroberern nicht erkennen. Seuchenwellen erreichten Stämme im Regenwald oder in den Sümpfen Alabamas Monate oder Jahre, bevor die Betroffenen auch nur einen einzigen Spanier sahen. 1520 grassierten zum Beispiel die Pocken unter den Tarasken im Westen Mexikos, töteten den Oberpriester, Adlige und ungezählte einfache Menschen. Erst ein Jahr später trafen die Spanier auf die Kultur. Überträger waren Gesandte der Azteken, die mit den Tarasken ein Bündnis gegen die Spanier schmieden wollten.
Im Jahr 1520 gingen in Tenochtitlan die Pocken um. Viele der Kranken starben an Hunger, andere hatten nur an wenigen Körperstellen Pusteln. Manche verloren Augen, anderen brannten sich die Flecken ins Gesicht ein, wieder andere erlahmten. In dieser ersten Pockenwelle hielten sich keine Spanier in der Stadt auf.
Die Pocken erobern das Inkareich
Die Eroberung des riesigen Inkareichs in den Anden durch den Schweinehirten Francisco Pizarro und ein Haufen Halsabschneider wirkt noch märchenhafter als Cortes Einmarsch in Mexiko. Doch Pizarros Raubmörder kamen nicht allein. Im Jahr 1524 wüteten die Pocken in den mittleren Anden. In Ecuador starben hunderttausende Menschen, darunter auch der Kronprinz. Dadurch entbrannte ein Krieg um das Thronerbe, der das Reich schwächte und Pizarro die Eroberung ab dem Jahr 1533 ermöglichte. Vermutlich rottete diese erste Pockenepidemie die Hälfte der Menschen in den zentralen Anden aus.
Hauptopfer waren die Hochkulturen
Den Spaniern fiel es besonders einfach, die Hochkulturen der Inkas und Azteken zu erobern. Jahrhunderte später hatten sie Jäger und Sammler im Amazonasbecken nicht unterworfen, und wenige tausend Komantschen, verstreut über ein Gebiet von der Größe Mitteleuropas, machten es den Spaniern unmöglich, über den Süden von Texas hinaus nach Norden vorzudringen. Mehr noch: Nachdem diese das Pferd von den Spaniern übernommen hatten, unternahmen sie Raubzüge bis weit nach Zentralmexiko, plünderten spanische Bauernhöfe, stahlen Pferde wie Rinder, suchten sogar Städte heim, ohne dass die spanische Kolonialmacht sie unter Kontrolle bekam.
Eine wesentliche Ursache dafür, dass technisch ungleich schwächer ausgerüstete Natives, deren Zahlen nur winzige Bruchteile der Hochzivilisationen von Tenochtitlan oder den Anden umfassten, den Spaniern mehr als nur Paroli boten, während die Eroberer die Millionenreiche in Mexiko und Peru im Handstreich nahmen, sind die Seuchen.
Die Jäger und Sammler lebten mobil in Sippen und Kleingruppen und hatten außerhalb ihrer Raubzüge kaum Kontakt zu den Spaniern und ihren Tieren. Infizierte sich das Mitglied einer Gruppe, so löschte die Krankheit meist nur diese Kleingruppe aus und konnte sich nicht weiter verbreiten. Das gilt übrigens auch für das Pestbakterium, das seit jeher unter Nagetieren der Steppen Zentralasiens umging, aber für die dortigen Hirten nie für apokalyptische Verwüstungen sorgte.
In den Metropolen Mexikos und der Anden setzte hingegen ein Dominoeffekt ein: Massen an Menschen starben direkt an Pocken, Masern, Typhus oder Grippe. Die Toten und Kranken fehlten als Arbeiter in der Landwirtschaft. Damit folgte auf die Seuche eine Hungersnot.
Welche Krankheiten wüteten am schlimmsten?
Der größte Killer der Natives waren die Pocken in den Jahren 1519 bis 1528. Vermutlich starben daran 35 Prozent der Gesamtbevölkerung in Mittel- und Südamerika – ein ähnliches Ausmaß wie in den großen Wellen der Pest in Europas. Hinzu kamen Infektionskrankheiten wie Grippe, Masern, Typhus, Mumps, Diphtherie und Beulen- wie Lungenpest. 1576 bis 1591 forderten die Pocken nochmals Opfer und vernichteten circa 50 Prozent der bereits geschrumpften Populationen.
Es dauerte rund 100 Jahre, bis die europäischen Seuchen in Amerika endemisch wurden. Nur 10 Prozent der einheimischen Gesamtbevölkerung hatte überlebt. Die Sterblichkeitsrate sank vermutlich durch Vermischung: Die Mestizen hatten stärkere Abwehrkräfte als die reinen Indigenen.
Schutzlos gegen die Masern
Gegen Masern hatten die Indianer nicht nur weniger Abwehrkräfte, ihr genetischer Flaschenhals sorgte zusätzlich dafür, dass sie sich ungehemmt verbreiteten. Alle American Natives stammen von sehr wenigen Einwanderern aus Asien ab, die irgendwann vor 11.000 bis 14.000 Jahren den Kontinent besiedelten. Verfügen Masernkranke über die gleichen Gene, ähneln sich ihre Immunsysteme sehr, und die Viren können sich ungehindert verbreiten.
Vieh und Viren
Ein Schlüssel dafür, warum die Viren und Bakterien Europas die American Natives ausrotteten, nicht aber die Erreger Amerikas die Europäer, liegt in der Viehzucht. Die Indianer domestizierten lediglich den Hund, in Nordamerika den Truthahn, in Südamerika das Meerschweinchen und die Warzenente sowie das Lama und den Alpaka.
In Europa war hingegen die Viehzucht ein zentraler Bestandteil der Gesellschaften, von Schweinen, Rindern, Schafen und Ziegen über Esel und Pferde, bis hin zu Gänsen, Enten und Hühnern. Über Tausende von Jahren lebten die Europäer mit diesen Tieren dicht zusammen und waren permanent ihren Keimen ausgesetzt.
Die meisten Seuchen, die Menschen heimsuchen, sind mutierte Erreger, die ursprünglich Tiere befielen. Die Pocken zum Beispiel entstanden aus einem mutierten Kuhpockenvirus, Rinderpest wanderte zu den Menschen und wurde zu Masern; Tuberkulose stammt vermutlich ebenfalls von Kühen, Malaria war bei Hühnern und Enten verbreitet, Keuchhusten bei Schweinen oder Hunden. Alle diese Erreger passten sich nicht nur an den Menschen an, umgekehrt passten sich die Menschen in Europa, Asien und Teilen Afrikas auch an die Erreger an. Die Amerikaner hingegen waren vollkommen hilflos. Sie hatten in Zehntausenden von Jahren niemals eine Chance, Resistenz gegen Masern, Windpocken, Mumps, Pocken, Grippe, Erkältung, Tuberkulose, Gelbfieber oder Typhus zu entwickeln, da sie mit den Erregern keinen Kontakt hatten.
Als die Europäer in immer größeren Städten lebten, brachen allerorts diese alten Tierseuchen aus. Die religiösen Schriften der Antike quellen über vor den Beschreibungen schrecklicher Epidemien, die als göttliche Strafen galten. Doch keine Krankheit ist zu 100 Prozent tödlich. Es überlebten über die Jahrtausende immer diejenigen, deren Gene halfen, die Seuchen zu überstehen, und sie vererbten diese auf ihre Nachkommen.
In Amerika gab es hingegen, so weit wir wissen, keine von Tieren ausgehenden Epidemien in diesem Ausmaß, bevor Kolumbus ankam. Sie lebten in ebenso großen Städten wie die Europäer, doch noch nicht so lange und so vernetzt, dass sich Volkskrankheiten im gleichen Ausmaß verbreiten konnten.
Die brutale natürliche Auslese, die letztendlich zur Resistenz gegen die Erreger führte, dauerte in Europa Jahrtausende. In Süd- und Mittelamerika dagegen konzentrierte sie sich auf wenigen Jahre von 1494 bis circa 1650. In Nordamerika fielen noch im 19. Jahrhundert Kulturen, die zuvor kaum Kontakte zu den Europäern hatten, den Seuchen zum Opfer: So rotteten die Pocken innerhalb weniger Jahre die Mandan aus, die am Oberlauf des Missouri lebten.
Zusammenbruch der Zivilisation
Douglas Preston, der die vermutlich durch eine Seuche ausgelöschte „White City“ im Regenwald von Honduras mitentdeckte, erläutert die Folgen, die es für die indianische Gesellschaften hatte, wenn 90 Prozent der Mitmenschen an Seuchen sterben.
Preston zeigt, was eine pure Statistik von 90 Prozent Sterberate für die Überlebenden bedeutet. Die Pest forderte in Europa zwischen 30 und 60 Prozent der Bevölkerung an Todesopfern. Diese Katastrophe sahen Zeitzeugen als Untergang der Welt an. Doch die Pest zerstörte nicht die Zivilisation in Europa.
Eine Sterbequote von 90 Prozent zerstört hingegen Zivilisationen, Sprachen, historische Entwicklungen, Religionen und Kulturen. Sie vernichtet das Vermitteln von Traditionen und Techniken von einer Generation zur nächsten. Die Überlebenden sind, so Preston, von der Vergangenheit ihrer Kultur abgeschnitten, ihrer Erzählungen, ihrer Musik, ihrer Lieder beraubt, sie sind von ihrer Identität abgerissen.
Preston rät jedem, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn aus unserem persönlichen Umfeld nur einer von 19 Personen überleben würde. Man würde Väter, Großväter, Nachbarn, Freunde und Bekannte auf erschreckende Art und Weise sterben sehen. Man würde sehen, wie die Felder verwahrlosen, die Städte verrotten, wie unbegrabene Tote an den Straßen liegen und von Hunden gefressen werden. Alles Wertvolle würde seinen Wert verlieren.
In unserem Umfeld befinden sich die unterschiedlichsten Professionen, wie beispielsweise ein Arzt, ein Priester, eine Wissenschaftlerin, ein Beamter, eine Lehrerin, ein Buchhalter, ein Kaufmann, ein Bibliothekar, ein Zimmermann, ein Bauer, eine Färtenleserin, ein Jäger, ein Koch, eine Schneiderin, ein Schuster, ein Historiker, ein Physiker, eine Biologin und eine Architektin. Nach so einer Epidemie wäre dann beispielsweise nur noch ein Koch über. Es fehlen dann nicht nur die nötige Anzahl an Personen, um das Zerstörte wieder aufzubauen, sondern auch das Wissen darum ist unwiederbringlich verloren.
Wie Preston berichtet, zog sich diese Zerstörung von Städten über Königreiche und Zivilisationen bis hin zu ganzen Kontinenten. Dieses Inferno, so der Autor, zerstörte Tausende von Zivilisationen von Alaska bis Feuerland, von Neuengland bis Kalifornien, vom Regenwald Amazoniens bis zur Tundra des Hudson Bay. Es handelte sich laut Preston um die größte Katastrophe, der die Menschheit je ausgesetzt war.
Impfen gegen das Grauen
Gegen Pocken gibt es heute ein effizientes Impfprogramm. Die letzten bekannten Pockenfälle traten im Jahr 1977 in Somalia auf. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Welt für pockenfrei. Hätten die American Natives Impfungen gegen Pocken, Masern, Grippe und die anderen für sie neuen Krankheiten gehabt, dann hätten Millionen von Menschen überlebt – die Geschichte der Welt hätte anders ausgesehen.
Niemals hätten die Europäer den Kontinent so einfach erobern können und sich in allen Ländern Mittel- und Südamerikas gegen eine große indigene Mehrheit durchsetzen können. Inkas, Mayas und Azteken, Tainos, Tarasken und Tausende anderer Völker würden heute ihre Traditionen pflegen wie die Hindus in Indien, die Buddhisten in Thailand oder die Schintos in Japan.
Überlieferte Augenzeugenberichte
Ein überlieferter Bericht des Überlebenden Maya Francisco Hernández Arana Xajilá beschreibt die Gräuel, die derzeit herrschten: „Zuerst erkrankten sie an einem Husten, sie litten an Nasenbluten und einer Blasenentzündung. Die Zahl der Toten stieg schnell, es war schrecklich. Der Prinz Vakaki Ahmak starb ebenfalls. Langsam, ganz langsam legten sich schwere Schatten und schwarze Nacht über unsere Väter und Großväter und über uns, meine Söhne. Groß war der Gestank der Toten. Nachdem unsere Väter und Großväter krepiert waren, floh die Hälfte der Leute zu den Feldern. Die Hunde und Geier verschlangen die Körper. Die Sterberate war hoch. So wurden wir Waisen, meine Söhne, als wir jung waren. Alle von uns. Wir waren geboren, um zu sterben.“
(Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Preston, Douglas: Lost City of the Monkey God, Head of Zeus Ltd, 2017
- Ursula Thiemer-Sachse: Das große Leiden (Abruf: 08.07.2019), fu-berlin.de
- Seler, Eduard: Einige Kapitel aus dem Geschichtswerk des Fray Bernardino de Sahagun , 2014
- Robert Koch-Institut: Pocken (Abruf: 08.07.2019), rki.de
- Guilmet, George M. / Boyd, Robert T. / Whited, David L. / u.a.: The Legacy of Introduced Disease: The Southern Coast Salish, American Indian Culture and Research Journal, 1991, uclajournals.org
Wichtiger Hinweis:
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