Wundärzte und Scharfrichter – Die Geschichte der operativen Behandlung
Nicht erst der Homo Sapiens, sondern bereits der Neandertaler verstand sich auf die Kunst der Chirurgie. Davon zeugt das Skelett eines unserer Verwandten mit amputiertem Arm, und dieser Patient ist 50.000 Jahre alt. Der folgende Artikel beschreibt die Entwicklung der operativen Behandlung, von den ersten Schädelöffnungen vor mehrerem tausend Jahren bis hin zu komplexen Eingriffen der Gegenwart.
Inhaltsverzeichnis
Aufgaben der Chirurgie
Das griechische Wort „Cheir urgia“ bedeutet „mit der Hand machen“. Indische Ärzte schnitten bereits in der Zeit der Veden Steine und setzten Nasenprothesen ein, vermutlich, weil die Nase abzuschneiden eine reguläre Strafe war. Aufgaben der Chirurgie waren es vermutlich seit der Steinzeit, den Blutfluss zu stillen, Knochenbrüche zu behandeln, Geschwüre und Steine zu entfernen, sowie eitrige Wunden heraus zu schneiden.
Schädeloperationen der Vorgeschichte
„Erst kommt das Wort, dann die Arznei und dann das Messer” (Christian Albert Theodor Billroth (1829-1894), deutscher Chirurg).
3.500 v. Chr praktizierten die Vorfahren der Inkas die Trepanation, sie öffneten also den Schädel, und sieben von zehn Betroffenen überlebten den Eingriff – weit mehr als im 19. Jh. Solche trepanierten Schädel finden sich sogar bei noch früheren Kulturen, und zwar bis hin in eine graue Vorzeit vor 12.000 Jahren. Die Knochen zeigen dabei eindeutig, dass die Eingriffe verheilten.
Die Ärzte der Pharaonen in Ägypten trepanierten häufig, und die Wunden verheilten regelmäßig. Im Corpus Hippocraticum 300 v. Chr wird diese Operation zum ersten Mal schriftlich erwähnt.
Der Wissenschaftler Broca bewies im 19. Jh, dass Schädeloperationen mit den Instrumenten der Steinzeit ohne weiteres möglich waren: Er schnitt damit frisch Verstorbenen Knochenscheiben aus der Schädeldecke.
Archäologen gehen heute davon aus, dass diese Operationen keinen kultischen, sondern medizinischen Zwecken dienten, also zum Beispiel, um Knochensplitter zu beseitigen oder Kopfschmerzen zu beenden.
Ägyptische Chirurgen?
Ägypten galt in der Antike als Hort des medizinischen Wissens. Hier sein Handwerk gelernt zu haben, führte bei den griechischen Ärzten zu einem Ruf wie heute ein Studium in Harvard.
Trotzdem fanden Ägyptologen kaum Hinweise auf Chirurgische Eingriffe. Herodot (circa 490-425 v. Chr) schrieb zwar voll Bewunderung: „Jeder Arzt behandelt nur eine Krankheit … es gibt Augenärzte, Ohrenärzte, Zahnärzte, Magenärzte und Ärzte für bestimmte innere Krankheiten.“ Von Chirurgen aber war keine Rede.
Auch die Papyri, also die ägyptischen Originalquellen, geben wenig Informationen über Chirurgie. Allerdings lassen einige Texte zumindest vermuten, dass ägyptische Ärzte Chirurgische Eingriffe vornahmen.
Der Papyrus Ebers empfiehlt zum Beispiel, „Schwellungen“ mit dem hemen, also dem Messer der Ärzte aufzuschneiden. Was ist damit gemeint? Abszesse, Blasen oder Tumore? Handelte es sich um Tumore, dann ging es hier um chirurgische Eingriffe in den Körper und nicht nur an der Oberfläche.
Auf jeden Fall beschnitten die Ägypter die Vorhaut von Jungen in der Pubertät. Ein Relief in der Nekropole von Sakkara aus der Zeit um 2200 v. Chr zeigt einen Jungen. Ein Mann umklammert seine erhobenen Hände vor ihm hockt ein anderer Mann, der sein Glied mit einem Gegenstand reibt. Darunter steht: „Reibe stark, damit es wirkt.“ Ein zweites Bild zeigt, wie derselbe Mann ein Messer an der Vorhaut des Kindes ansetzt.
Mumien belegen, dass so gut wie alle Erwachsenen beschnitten waren. Dies diente vermutlich wie bei Muslimen und Juden religiösen Zwecken – womöglich haben die Juden den Brauch sogar aus Ägypten übernommen.
In einem Unterkiefer aus Sakkara circa 1500 v. Chr, fanden sich zwei parallele Löcher über einer Wurzelentzündung. Diese könnten absichtlich hinein gebohrt worden sein, allerdings handelt es sich vielleicht auch um einen natürlichen Defekt. Denn tausende von Kiefern anderer Mumien hatten diese Löcher nicht.
1914 fand Hermann Junker bei einer Mumie aus Sakkara Golddraht an zwei Backenzähnen und ein weiterer Fund 1952 stärkte die These, dass ägyptische Zahnärzte so Zahnlücken verschlossen.
Der Münchner Mumienexperte Andreas Nerlich fand heraus – mit Kollegen und in enger Zusammenarbeit mit dem Ägyptologischen Institut der Universität Heidelberg, dem Deutschen Archäologischen Institut Kairo und dem Egyptian Supreme Council of Antiquities – dass es handfeste Hinweise auf chirurgische Eingriffe im alten Ägypten gibt.
Sie untersuchten dazu den Schädel einer männlichen Mumie. Der Mann starb vermutlich zwischen 1080 und 714 v. Chr. Die Wissenschaftler führten ein Endoskop in den Schädel ein, und zwar durch die Mittelohren, die Nasenhöhle und eine Öffnung im Dach der Nasenhöhle.
Die Computertomographie zeigte, dass sich unter intakter Haut und Gewebe über dem linken Scheitelbein über dem linken Ohr ein Defekt im Knochen befand. Ursache war vermutlich ein Schlag. Ein Riss verlief in die Schädelkalotte, und die Knochen hatten sich neu gebildet. In der beschädigten und verheilten Region fehlten Knochenstücke. Hirnhaut und Außenhaut waren jedoch intakt. Ein Arzt hatte also die Knochensplitter entfernt und die Wunde versorgt.
Frühe Amputationen und Holzprothesen
Ein mumifizierter Fuß aus der Ramessiden-Zeit (1305-1080 v.Chr), den die Wissenschaftler untersuchten, erwies sich als teilamputiert. Der gesamte Vorderfuß war entfernt worden, und die Wunde war anschließend verheilt, denn intakte Haut und Weichteile bedeckten die Schnittstelle. Nicht einmal eine Narbe ließ sich erkennen.
Die Mumie einer Frau enthielt eine Holzprothese für die große Zehe. Der Stumpf der Zehe war von intakter Haut überzogen, es hatte offensichtlich keine Komplikationen gegeben. Die Prothese wies zudem starke Gebrauchsspuren auf, was zeigt, dass die Frau nach dem Eingriff noch Jahre gelebt hatte. Die Experten entdeckten Verkalkungen der Aorta und der kleinen Arterien im betroffenen Fuß – die Frau litt also an Arteriosklerose.
Diese Krankheit bremst Heilungsprozesse: die erfolgreiche Operation und das genaue Einpassen der Prothese zeugt vom Können der beteiligten Ärzte.
Falls die ägyptischen Ärzte in größerem Umfang operierten, so kannten sie weit bessere Methoden, die Schmerzen zu lindern als ihre Nachfahren im Mittelalter. Sie nutzten Weihrauch, den sie in Mengen aus dem Lande Punt (vermutlich der Jemen und / oder Eritrea) importierten, räucherten damit in den Krankenlagern, und die chemischen Substanzen fanden sich in den Lungen von Mumien. Das im Weihrauch enthaltene Tetrahydrocannabinol bewirkt Euphorie und dämmt Schmerzen.
Die Ägypter legten auch Mohnpflanzen in Gräber, doch wir wissen nicht, ob sie Opiate als Schmerzmittel verwendeten.
Der Papyrus Smith bezeugt, dass die Ägypter sich auf Wundheilung verstanden: „Wenn du einen Mann mit einer Klaffwunde an seinem Kinn untersuchst, die bis zum Knochen reicht, dann sollst du seine Wunde abtasten. Wenn du seinen Knochen heil findest, dann sollst du sagen: Einer mit einer Klaffwunde an seinem Kinn, die bis zum Knochen reicht, hat eine Krankheit, die ich behandeln werde. Dann sollst du ihm zwei Binden auf jene Klaffen legen; du sollst ihn verbinden mit frischem Fleisch am ersten Tage, danach behandle sie mit Fett, Honig, Fasern an jedem Tage, sodass es ihm besser geht.“ Nerlich betont, dass solche Verfahren auch für Operationswunden sinnvoll sind.
Die Wissenschaftler kamen 2002 zu dem Ergebnis, dass die Ärzte im alten Ägypten durchaus in der Lage waren, chirurgische Operationen durchzuführen. Es gibt dafür zwar wenig direkte Belege, das liegt Nerlich zufolge aber vermutlich daran, dass die Mumien nicht hinreichend paläopathologisch untersucht wurden. Insbesondere gut verheilte Wunden ließen sich nur schwer erkennen.
„Wo Eiter ist, muss geöffnet werden“
Dieser Satz des griechischen Arztes Hippokrates, des Begründers der rationalen Medizin, zeigt, dass die antiken Griechen Chirurgie praktizierten, denn er formulierte damit eines ihrer Grundgesetze.
Ärzte im antiken Sparta und Athen entfernten Hämorrhoiden und Blasensteine, und die Kenntnisse der alten Griechen gingen in das römische Weltreich ein, dessen Methoden wiederum den Grundstock für die Medizin des Mittelalters bildeten – auch wenn viel von ihrem Wissen verloren ging.
Gladiatoren unter dem Messer
Der erste bekannte griechische Arzt in Rom war im dritten Jh v. Chr Archagathus, und er arbeitete als Chirurg, denn seine Praxis hieß „Schneiden und Brennen“, was ihm den Namen Carnifex, also Scharfrichter einbrachte. Archagathus leistete jedoch so gute Arbeit, dass er 220 v. Chr das römische Bürgerrecht erhielt.
Die antiken Römer kannten sich mit Chirurgie sehr gut aus. Sie übernahmen das griechische Wort cheirourgos und latinisierten es zu Chirurgus. In der Zeit von Tiberius bezeichnet es einen Facharzt für Chirurgie, nämlich den Griechen Ptolemaios.
In der römischen Kaiserzeit gab es spezialisierte Bruchheiler, Steinschneider, Starstecher und Zahnzieher. Ein guter Operateur sollte jung sein, eine ruhige Hand und starke Nerven haben. Ärzte sollten generell über chirurgische Kenntnisse verfügen.
Römische Ärzte nutzten hoch entwickelte Apparate in der Chirurgie, darunter ein ganzes Set von Skalpellen. Sie kannten Wundhaken, Nadel und Faden, um Wunden zu schließen, und sie hatten spezielle Pinzetten und Zangen, um Fremdkörper aus Verletzungen zu entfernen.
Einfache Ärzte auf dem Land verfügten bereits über Spatel, Sonden, Skalpelle, Löffel und Knochenheber. Spezialisten besaßen Starnadeln, um die Augenlinse aufzustechen, Trepane, um den Schädel zu öffnen, Instrumente, um Blasensteine zu entfernen, Arterienklemmen und Geburtszangen.
Die Skalpelle ermöglichten präzise Schnitte, Nachtschattengewächse und Opium senkten die Schmerzen, und die Klemmen stoppten Blutungen. Die Römer kannten allerdings weder Injektionsspritzen und wussten auch nichts über sterile Operationstechniken. Obwohl sie ahnten, dass Krankheiten von Mensch zu Mensch übertragen wurden, hatten sie von Viren und Bakterien keinen blassen Schimmer.
Komplizierte Operationen genossen indessen vor allem die Patrizier und Gladiatoren. Die Ausbildung von Gladiatoren dauerte Jahre, und ihre Herren hatten zu viel investiert, um Überlebende der Arena einfach dahin sterben zu lassen.
Chirurgen operierten die verletzten Kämpfer in einem eigens für diese errichteten Krankenhaus. Sie trennten Behandlungsraum und Krankenzimmer, was zeigt, dass sie um die Ansteckung von Krankheiten wussten. Die Operationsräume lagen in Sonnenrichtung, um das Tageslicht so lange wie möglich zu nutzen.
Die anatomischen Kenntnisse der römischen Ärzte waren weit besser als die der akademischen Mediziner des Mittelalters. Sie sezierten nämlich die Leichen von Hingerichteten und getöteten Gladiatoren.
Zwar verstanden sich die Ärzte auf Chirurgie, von sterilen Instrumenten und durch Keime verursachten Entzündungen, verstanden sie aber nichts. Der Großteil der Verletzten, die an ihren Wunden starben, geht auf das Konto dieser Viren, Bakterien und Wundherde.
Auch der Blutverlust ließ sich mit den Pinzetten und Klemmen nur bei kleineren Blutungen stoppen. Eine Darmperforation verlief fast immer tödlich, und wir erfahren bei Galenos nur von einem einzigen Gladiator, der eine Bauchwunde überlebte – weil sein Darm nicht beschädigt war.
Der Kaiser, der den Daumen nach unten zeigt und so den unterlegenen Gladiator dem Tode preisgibt, gilt heute als das Symbol römisch-willkürlicher Grausamkeit. Dieser Todesstoß konnte jedoch auch eine Gnade sein, um dem Betroffenen ein qualvolles Sterben an vereiterten Wunden zu ersparen.
Galenos von Pergamon
Galenos von Pergamon lebte in Rom und starb 200 n. Chr. Er bezog sich zwar auf Hippokrates Säftelehre, formte diese aber als Lehre von den Temperamenten um und baute so das Gerüst der Medizin Europas bis in die Neuzeit.
Der Arzt behandelte unter anderem Gladiatoren und sammelte so seine Erfahrungen über die menschliche Anatomie. So fand er heraus, dass Wunden am Hinterkopf die Betroffenen erblinden lassen konnten, und dass sich das Gehirn rhythmisch bewegte, wenn ein Schädel gespalten war.
Araber und Perser
Die Araber und Perser übernahmen das Erbe der griechisch-römischen Antike ebenso wie das Wissen der alten Ägypter, denn Ägypten wurde vor Christus Teil des Perserreichs und nach dem Siegeszug der Muslime ein Land des islamischen Imperiums.
Abu I-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az Zahrawi Abulcasis war ein berühmter Operateur. Der Araber kam 936 in der Nähe von Córdoba zur Welt und starb dort auch 1013 als Hofarzt des Kalifen al-Hakam II.
Abulcasis entwickelte die gesamte Medizin weiter, sein Schwerpunkt lag aber auf der Chirurgie. Er schrieb: „Wer sie ausüben will, muss sich daher zunächst mit der Anatomie vertraut machen, muss sich Kenntnis der Knochen, Nerven, Muskeln verschaffen.“
Der Gelehrte empfahl mit Alraune und Opium getränkte Schwämme zur Narkose und entwickelte selbst verschiedene Instrumente. Seine Bücher stellten Apparate für die Zahnmedizin ebenso dar wie das Abbinden von Blutgefäßen.
Barbiere und Henker – Das Mittelalter
Die Gelehrtenmedizin im Mittelalter basierte auf Aristoteles Dreiteilung in praktische Ärzte, theoretische Mediziner und medizinisch gebildete Laien. Das Mittelalter unterschied zwischen dem Wundarzt / Chirurgicus, dem Physicus oder Doctor medicinae und dem medizinisch gebildeten Laien. Zu den letzten zählten Gaukler wie Hebammen, Zahnausreißer und Quacksalber, Scharfrichter und sogar Abdecker.
Chirurgen hatten eine handwerkliche Ausbildung und bildeten oft mit den Badern und Barbieren eine eigene Zunft. Bader und Barbiere galten meist als unehrlich. Der Chirurg hatte also, im Unterschied zum Physicus, einen schlechten Ruf.
1163 verbot das Konzil von Tours sogar allen Geistlichen, operative Behandlungen auszuüben. Der Doktor war dem niederen Adel und Klerus gleich gestellt, der Chirurg stand am Rande des „ehrbaren“ Handwerks, in der Nähe von Gerber und Scharfrichter, Bruch- und Steinschneider.
Chirurgie gehörte nicht zu den Lehrfächern an den Universität, und wer als Operateur arbeiten wollte, erlangte sein Wissen durch die praktische Ausbildung bei einem anderen Wundarzt. Auch deshalb führten ihre Operationen selten zum Erfolg. Erst im 18. Jh wurde die Diszipln an deutschen Universitäten gelehrt.
Die Bader und Barbiere rasierten nicht nur und schnitten die Haare, sondern sie heilten Brüche und Verrenkungen, ließen Patienten zur Ader und setzten Schröpfköpfe auf; es war ihnen aber verboten, Arzneien zu verabreichen.
Wir können uns leicht vorstellen, was es für die Kranken bedeutete, wenn derjenige, der ihre frische Wunde behandelte, keine Medikamente einsetzen durfte. Im 16. Jh gingen immer weniger Menschen wegen den dort grassierenden Infektionskrankheiten in die Badehäuser, und was solche Verhältnisse für die Patienten bedeuteten, bedarf keiner Fantasie.
Wundärzte und Kriegschirurgen – Die frühe Neuzeit
Militärärzte förderten die professionelle operative Behandlung, die später Lehrfach in den Universitäten wurde. Ab dem 16. Jh lockerte sich das kirchliche Verbot, Leichen zu sezieren, und so stieg das Wissen um das Innere des Körpers. Die Handwerkschirurgen waren indessen nicht notwendig Stümper; Dr. Eisenbarth zum Beispiel gilt bis heute als ein sehr guter Arzt.
Als erster Generalchirurg arbeitete Conrad Holtzendorff (1688-1751). Er gründete 1727 das „Collegium medico-chirurgium“, um die Feldschere der Armee weiterzubilden. Außerdem entstand unter seiner Ägide in Berlin ein Armeehospital, das später eines der bekanntesten Krankenhäuser Europas wurde: Die Charite.
Das Fach derart auf eine professionelle Ebene zu stellen, war längst überfällig. Verwundung bedeutete für Soldaten nämlich unvorstellbares Leid. Jeder Dritte erfolgreich Amputierte starb nach der Operation an Entkräftung. Tetanus, Infektionen und Blutverlust forderten weit mehr Tote als unmittelbar tödliche Wunden.
Auch Holtzendorff konnte das Sterben aber nicht nachhaltig eindämmen. Bis in das 19. Jh war die Desinfektion von Wunden nämlich ebenso unbekannt wie die Ursache der Entzündung. Es gab keine eigenen Operationsräume, sondern Stühle und Tische, die die Angestellten von einem Raum in den nächsten schleppten. Die Wundärzte nutzten Schneidemesser, Instrumente zum Dehnen, Speizklammern, Zangen und Löffel.
Das Aufkommen von Lehrbüchern
Die fehlende soziale Anerkennung der Operateure hemmte zwar ihre professionelle Entwicklung; dennoch kamen in der frühen Neuzeit mehrere Lehrbücher von Wundärzten heraus. Johann Schultheiß (1595-1645) veröffentlichte das Werk „Armamentorium Chirurgicum“, 1666 erschien die deutsche Ausgabe „Wundarzneyisches Zeug-Hauß“.
Schultheiß stellte die Operationsinstrumente und Methoden seiner Zeit dar, darunter auch Werkzeuge, die er selbst entwickelt hatte. Das Lehrbuch erläuterte Therapien von Geschwülsten, Geschwüren, Wunden, Frakturen und Verrenkungen. Die Instrumente zeigte der Mediziner auf Bildtafeln.
Pierre Donis (gest. 1718) veröffentlichte 1707 „Cours dóperation de Chirurgie“, in denen er Techniken der Operationen in zehn Kapiteln ausführlich erläuterte. Das Werk galt als Standardwerk, und verbreitete sich in vielen Auflagen.
Ein Jahr später kam das Lehrbuch von Lorenz Heister (1683-1758) heraus, mit dem Titel „Chirurgie, in welcher alles, was zur Wund-Artzney gehöret, nach der neusten und besten Art“. Es handelte sich um eine Enzyklopädie, die den Stand des Wissens der (europäischen) Chirurgie der Zeit zusammen fasste und Wundärzte nutzten es als Handbuch.
Chirurgen werden Ärzte
Die Trennung zwischen akademischen Ärzten und praktischen Wundärzten bzw. medizinischen Praktikern, die als Hilfskräfte dienten, hielt sich bis ins 18. Jh. Doch immer mehr Mediziner kritisierten die mangelhafte Ausbildung der „Barbiere“ und die, ob real oder vermeintlich, katastrophalen Ergebnisse ihres fehlenden Fachwissens.
Das „allgemeine Medizinaledikt“ für Brandenburg-Preußen legte 1725 eindeutig fest, dass nur studierte Ärzte „curiren“ durften. Als Chirurg galt nur noch, wer eine spezielle Schule absolviert hatte. Bader mussten sich erstens einer Prüfung unterziehen, durften sich zweitens nicht so nennen und drittens keine operativen Eingriffe leisten. Allerdings blieben die Chirurgen nach wie vor Hilfsärzte, standen aber jetzt offiziell höher als die Bader.
1811 hob Preußen das Zunftwesen des Mittelalters auf und löste so auch die Chirurgie von den Barbieren. 1818 gab es in Preußen außerdem die Niederlassungsfreiheit für heilende Berufe.
Die „Bestimmungen über die Eintheilung und die Prüfung des ärztlichen und wundärztlichen Personals“ setzten allgemein gültige Prüfungsordnungen fest, und zwar für alle heilenden Berufe. Die inoffizielle Trennung zwischen „praktischen“ Landärzten und „akademischen“ Stadtärzten ersetzte Preußen durch den Wundarzt erster und den zweiter Klasse.
Die Wundärzte erster Klasse mussten jetzt eine dreijährige Mischung aus Studium und Ausbildung absolvieren, vielleicht vergleichbar einer heutigen Fachhochschule. Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe wurden Teil des Lehrplan mancher Universitäten und zusätzlich Lehrstoff an außeruniversitären Instituten.
Die Schüler lernten die Anatomie und Physiognomie des menschlichen Körpers und absolvierten am Ende eine umfangreiche Prüfung. Der Wundarztgeselle stellte seine Qualifikation dann während einer Wanderzeit unter Beweis – erst dann durfte er den Meister machen. Die Schülerinnen lernten von älteren Hebammen die Geburtshilfe.
Lehrpläne umfassten jetzt allgemeine und spezielle Chirurgie, Augenkrankheiten, Frakturen und Luxationen ebenso wie das Training an Leichen.
Im Lauf des 19. Jh schlossen die Schulen, denn Chirurgie wurde immer mehr ein Teil des regulären Medizinstudiums. Die Absolventen promovierten in der Regel als Doktoren der Medizin.
Operation gelungen, Patient tot
Operative Eingriffe waren bis in das 20. Jh ein Spiel mit Leben und Tod. Die Gefahr lag weniger in den chirurgischen Methoden, die Techniken verbesserten sich nämlich bis zum 19. Jh. enorm – jedoch fehlte das Wissen um die Ursachen von Infektionen fehlte.
Die Mediziner wuschen selten ihre Kittel, an denen Blut und Keime klebten. Sepsis entwickelte sich, und niemand wusste warum. Ignaz Semmelweis erkannte im 19. Jh durch Keime übertragene Infektionen als Auslöser der Kindbettfiebers, dass damals viele Frauen dahin raffte und ordnete strenge Hygiene für Ärzte und Pflegerinnen an. Der Erfolg gab ihm Recht, und die Todesrate sank rapide.
Joseph Lister reinigte Hände wie Werkzeuge mit Karbol und sorgte so dafür, dass während der Operation wenig Keime die Patienten schädigen konnten.
Louis Pasteur und Robert Koch schließlich sorgten dafür, dass Werkzeuge desinfiziert und sterilisiert wurden und die Ärzte sterile Gummihandschuhe trugen.
Gerettete Glieder
Bis in die Neuzeit bedeutete Amputation Verstümmeln. Die Ärzte auf den Schlachtfeldern amputierten so viele Gliedmaßen wie möglich in kürzester Zeit und konnten sich kaum um plastische Chirurgie kümmern. Das lag zum einen an den fehlenden Narkotika – sie arbeiteten schnell, um die Dauer der Schmerzen zu verkürzen – zum anderen aber daran, dass ihnen wenig Alternativen zum Amputieren einfielen.
Doch die Operateure des 19. Jh bildeten sich in Anatomie, pathologischer Anatomie und experimenteller Physiologie und fanden so neue Wege, schwerste Wunden zu behandeln. Statt Gliedmaßen zu entfernen, stoppten sie auch starke Blutungen aus den Arterien. Ziel wurde es, den gesamten Körper zu erhalten.
Zwischen 1851 und 1868 verfassten erfahrene Wundärzte eine Reihe von Büchern über eine Chirurgie, die nur im äußersten Notfall amputierte: Esmarch „Ueber die Resection nach Schusswunden“ (1851), Stromeyer „Maximen der Kriegsheilkunst“ (1855), Pirogow „Grundzüge der allgemeinen Kriegschirurgie“ (1864) und Bernhard von Langenbeck „Ueber die Schußfraktur der Gelenke und ihre Behandlung“ (1868).
Die bessere Ausbildung und die neuen Techniken führten zu ungeahnten Erfolgen. Im Preußisch-Französischen Krieg 1870 / 71 konnten immerhin 18,8 % der Verwundeten geheilt aus dem Lazarett entlassen werden.
Die moderne Chirurgie
Die heutige Chirurgie entwirft ein Bild vom Inneren des Körpers und operiert, indem der Mediziner die Instrumente indirekt vor dem Bildschirm bedient – noch um 1850 hätten Ärzte dies vermutlich für puren Zauberglauben gehalten.
So genannte Endoskope werden in den Körper eingeführt, begonnen hatte damit Johann von Miuklicu (1850-1905) in Wien.
Erfolgreiche Operationen am Gehirn sind heute die Regel. Zwar gehört die Trepanation zu den ältesten chirurgischen Praktiken überhaupt, dabei handelte es sich aber um Operationen am Schädel und nicht am Gehirn.
Erst das moderne Wissen über die unterschiedlichen Bereiche des Gehirns und ihre Funktion, eine tragfähige Narkose und umfassende Antisepsis, ermöglichte es den Operateuren, in die Zentrale unseres Denkens und Fühlens einzudringen.
John Rickman Godlee (1849–1925) schnitt einem Patienten 1884 einen Tumor aus dem Gehirn. Der Betroffene starb kurz darauf an einer Meningitis. Doch bereits 1885 entfernte Victor Alexander Horsley (1857-1916) erfolgreich einen Hirntumor.
Gehirnoperationen gingen einher mit der Entwicklung der Neurochirurgie. Ernst von Bergmann (1836–1907) und Anton von Eiselsberg (1860–1939) leisteten hier Pionierarbeit. Doch der „Star“ dieser Disziplin wurde Harvey Cushing (1869-1939). Cushing schnitt mehr als 2.000 Gehirntumore heraus, und die meisten Patienten überlebten.
Der Bereich der Chirurgie ist heute breit gefächert, und die Fachärzte spezialisieren sich auf einen Bereich, also auf Gefäß-, Herz-, Thorax-, Kinder-, Unfall-, Plastische- oder Viszeralchirurgie.
Auch andere Disziplinen erfordern operative Eingriffe: Gynäkologie, Hals-Nasen-Ohren-Medizin, Dermatologie, die Neuro- sowie Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie und Urologie. (Dr. Utz Anhalt)
Literaturhinweise
Ägypten zur Pharaonenzeit. Alltag und gesellschaftliches Leben. Von Eugen Strouhal. Wasmuth Verlag, Tübingen, Berlin 1994. Erwachen der Heilkunst. Die Medizin im Alten Ägypten. Von W. Westendorf. Artemis und Winkler, Zürich 1992.
Im zerbrechlichen Haus der Seele. Die große Odyssee der Gehirnchirurgie. Von Jürgen Thorwald. Droemer-Knaur, München 1986.
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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