Apokalyptische Viren – Seuchen im Endzeitepos
Seuchen wie Pest und Cholera oder Tollwut sind der größte Feind des Menschen: Viren, nicht Haie oder Löwen töteten Millionen. Seit Aids gewinnt die orale Blutinfektion des Vampirs an Faszination, und die heutigen Zombies im Horrorfilm werden immer biologischer: Schwarze Magie tritt bei der Zombifikation in den Hintergrund, denn der postmoderne Zombie erkrankt gemeinhin an einem Virus, das ihn zu einem mordenden Instinktwesen mutiert – bisweilen ist er nicht einmal tot. Diese viralen Zombies gehen nahtlos über in Virale, die keine Zombies sind, sondern erblinden oder tollwütig herum toben.
Inhaltsverzeichnis
Nach Aids spiegelt sich im Zombiefilm gegenwärtig die Angst vor Seuchen, die die Globalisierung aus den entlegenen Winkeln der Welt in die Metropolen tragen kann, und gegen die es kein Gegenmittel gibt: Fledermäuse übertrugen 1994 das Hendra-Virus auf Pferde und diese auf Menschen. Die Betroffenen litten an schweren Lungenentzündungen. SARS-Corona tötete fast 900 Menschen und trat vermutlich zuerst 2003 in Guandong auf. Das West-Nil-Virus infizierte zwischen 1999 und 2003 10.000 Menschen in Amerika, 300 von ihnen starben. Diese Krankheiten werden nicht die letzten sein, die uns heimsuchen – und die Angst wächst.
Zudem fordern auch die althergebrachten Pestilenzen neue Opfer: Grippe ebenso wie Tuberkulose. Reisen nach Afrika und Indien sind heute Standard; das Risiko sich dort mit der Tollwut zu infizieren ist viel größer als zu Zeiten, als es in Deutschland noch an dieser Seuche erkrankte Füchse gab.
Outbreak – Lautlose Killer
Wolfgang Petersen drehte 1995 einen Thriller um ein Virus aus dem Kongo: 1967 werden zwei amerikanische Wissenschaftler Zeugen, wie in Zaire Menschen an einer unbekannten Virus-Infektion sterben. Der Offizier McClintock löscht daraufhin das gesamte Dorf aus. Doch einige Jahre danach bricht die Suche in der gleichen Gegend wieder aus. Colonel Sam Daniels erkennt eine extrem gefährliche Form des Ebola-Virus – dann bricht die Krankheit in einer Stadt in den USA aus. Daniels sucht den Überträger, er vermutet ein Tier als Wirt und findet ihn in einem Affen.
Die US-Army entwickelte den Virus als biologische Waffe und will den Forscher ausschalten; aber Daniels überzeugt einen Piloten, ihn aus der Stadt zu bringen, statt diese auszubomben. Outbreak erzählt eine glaubwürdige Geschichte; es geht aber weniger um den Horror eines Virus als um eine Detektivstory.
28 days later
Tierrechtler retten Schimpansen aus einer Versuchstierhaltung, sie wissen nicht, dass diese mit einem Virus infiziert sind, das ihre Aggressivität bloß legt – dem „Wut“-Virus. Sie befreien einen Schimpansen, der beißt zu und das Unheil nimmt seinen Lauf: In wenigen Sekunden verwandeln sich die Gebissenen in rasende Monstren, die ebenfalls um sich beißen.
28 Tage später ist London zerstört. Der Fahrradkurier Jim verpasste die Katastrophe, weil er mit Koma im Krankenhaus lag, er trifft auf Berge von Leichen – ein tobendes Etwas im Priestergewand stürzt sich auf ihn. Die Schreie des Infizierten locken die anderen Kranken herbei und eine unnatürlich schnell laufende Horde jagt Jim. Selena und Mark retten ihn vor den Viralen und bringen ihn nach Deptford zu seinen Eltern. Die haben sich umgebracht. Ein Infizierter beißt Mark, Selena tötet ihren Gefährten sofort. Sie treffen zwei andere Überlebende, Frank und Hannah. Die Gruppe schlägt sich bis Manchester durch, da infiziert sich Frank an einem Toten, Soldaten tauchen auf und nehmen den Gefährten die Aufgabe ab, Frank zu töten; die Soldaten sind jedoch selbst eine Gefahr und belästigen die Frauen sexuell. Jim flieht in das Gebiet der Infizierten.
28 days übernimmt die Effekte der neuen Zombiefilme, ist aber keiner. Als Vorbild diente die Tollwut. Der Plot wirkt halbwegs realistisch; cineastisch herausragend ist das menschenleere London zu Beginn (als der Film 2002 in die Kinos kam, eine Meisterleistung). Die Frage stellt sich jedoch, warum sich von einer Krankheit befallene Menschen unnatürlich schnell bewegen – und das über einen längeren Zeitraum. Das bringt zwar schockierende Szenen, dämmt aber die Glaubwürdigkeit.
28 weeks later
Im zweiten Teil von 2007 ist Zentral-London frei von Infizierten. Nach wenigen Wochen starben die Kranken an Erschöpfung. Die US-Army hat die Stadt besetzt und bringt die Überlebenden in ein Sammellager, das das Militär überwacht.
Auch der Überlebende Don kommt in das Lager und trifft dort seine Kinder. Der Anfang zeigt, wie Don überlebte, nämlich, indem er seine Frau Alice sterben ließ. Eine Horde Infizierter stürmte ihr Haus, die Frau versuchte, das Kind zu schützen und Don floh mit einem Motorboot.
Doch Alice überlebte, traumatisiert kriecht sie nun in ihrem Haus herum. Die Kinder schlichen sich aus der Sicherheitszone und finden ihre Mutter. Alice wird in die Militärstation gebracht und untersucht: Die leitende Ärztin stellt überrascht fest, dass die Überlebende infiziert ist – offensichtlich besitzt sie eine genetische Immunität.
Don trifft seine Frau im Quarantäne-Zimmer, küsst sie und infiziert sich ebenfalls. Er tötet sie, beißt um sich, infiziert dadurch Andere, die wieder Andere infizieren, und das Militär verliert die Kontrolle. Der Befehl lautet jetzt, jeden zu töten, der sich in der Zone aufhält –ohne zwischen Kranken und Gesunden zu unterscheiden.
Scarlett, die leitende Ärztin, will die Kinder retten, weil sie hofft, dass diese die genetische Immunität ihrer Mutter in sich tragen und damit eine Hoffnung, das Virus zu besiegen. Der Scharfschütze Doyle verweigert den Tötungsbefehl und stößt zu Scarlett mit den Kindern. Er führt sie aus der Zone 1 – kurz danach vernichtet die Armee die gesamte Gegend mit Brandbomben und setzt Giftgas ein.
Doyle wird von Soldaten mit Flammenwerfern verbrannt, Scarlett und die Kinder fliehen in einen U-Bahnschacht. Don findet seine Kinder und erschlägt Scarlett. Er beißt den Jungen, dieser bleibt jedoch gesund. Sohn und Tochter finden den Hubschrauber-Piloten Flynn, der sie aus der brennenden Stadt rettet. Ob sie überleben, lässt der Film offen –er endet damit, dass das Virus auf dem Kontinent ausbricht.
28 weeks later besticht durch seine realistische Darstellung des militärischen Sperrgebiets und eine brillante Umsetzung der klassischen Elemente des Horrors: Isolation und Dunkelheit im U-Bahn Schacht bei gleichzeitiger permanenter Bedrohung von Armee und Infizierten zugleich.
Resident Evil
Resident Evil von 2002 startete eine Filmreihe: Apokalypse (2004), Extinction (2007), Afterlife (2010) und Retribution (2012). Die Regie verfilmte eine Computerspielserie und nutzte dessen Ästhetik: Das T-Virus macht aus Menschen rasende Untote und entvölkert die Erde. Die letzten Menschen darben in erbärmlichen Verstecken. Alice fährt mit dem Motorrad durch die zerstörten USA. Sie hat übermenschliche Fähigkeiten – ein Klon von ihr wird von der Umbrella Corporation als Biowaffe eingesetzt. Der Konzern versucht, die Zombies zu kontrollieren. Das Experiment gelingt, und Dr. Isaac macht einen Zombie zu einem ihm gefügigen Sklaven – der Konzern entwickelt einen Mörderzombiemutanten.
Der technische Aufwand beeindruckt zwar, den Charakteren fehlt aber das Fleisch – auch denen, die keine Zombies sind. Wer das Computerspiel mag, wird bedient, wer eine intelligente Handlung erwartet, wird enttäuscht sein.
Quarantäne
Quarantine von John Erick Dowdle von 2007 handelt nicht von Zombies, sondern von der Tollwut. Quarantäne ist gedreht wie eine Dokumentation: Eine Reporterin dreht eine Reportage über die Feuerwehr in Los Angeles und begleitet diese auf einen Einsatz: Eine Frau schreit in ihrer Wohnung, die Reporterin dringt mit Polizisten zusammen ein – die Bewohnerin wirkt verstört. Dann stürzt sie sich auf einen der Polizisten und beißt ihn in den Hals. Das Haus wird unter Quarantäne gestellt – niemand darf es verlassen.
Ein kranker Hund scheint die Ursache zu sein. Der Tierarzt Lawrence tippt auf Tollwut. Er sieht sich die Rasenden an und erkennt die Symptome der Lyssa: Lähmung und Speichelfluss. Ein Beamter der Gesundheitsbehörde entnimmt den Verwundeten eine Gehirnprobe – die kommen zu Bewusstsein und eine beißt den Tierarzt. Der Beamte klärt die Eingeschlossenen auf: Tatsächlich handelt es sich um ein mutiertes Tollwutvirus, das innerhalb kürzester Zeit ausbricht.
Der Kameramann und die Reporterin sind die letzten Überlebenden. Sie finden im Dachgeschoss die Spuren eines Mannes, der aus einem Waffenlabor das Virus gestohlen hat. Der Kameramann wird von einem Infizierten gebissen, am Ende zeigt die Kamera, wie jemand die Reporterin in das Dunkel zerrt.
Quarantäne glänzt als ein (noch) real denkbarer Horrorfilm, denn der Virus dient einmal nicht als aus dem Hirn gesogener Aufhänger für eine Monsterstory: Die wirkliche Tollwut ist eine der schlimmsten Seuchen, unheilbar und mit Raserei verbunden. Die Perspektive durch die Kameralinse des Fernsehteams hilft zudem der Glaubwürdigkeit.
The Walking Dead
In der Fernsehserie „The Walking Dead“ verwandelt ein Virus die Menschen; nach ihrem Tod setzt es nur den animalischen Teil des Gehirns wieder in Betrieb. Eine Gruppe Überlebender unter Führung des Polizisten Rick Grimes sucht nach einem sicheren Platz zum Leben; die „Beißer“ bedrohen sie dabei unentwegt, einige der Gruppe werden gebissen, andere bringen sich um und manche gehen ihren eigenen Weg.
„The Walking Dead“ ist keine Zombieserie, sondern ein Lehrstück über Menschen in Ausnahmezuständen: Was passiert ist, wenn alles verschwindet, was selbstverständlich ist? Wann ist Selbstmord eine Alternative? Wie rette ich meine Kinder? Wann und wen darf ich töten? Wie verändere ich mich, wenn ich töte? Wie verändert die Angst vor den Infizierten das Verhalten? Wem kann ich vertrauen? Wie gehe ich mit Fremden um?
„Walking Dead“ konfrontiert den Zuschauer mit existentiellen Fragen, für deren Pro und Contra die einzelnen Figuren stehen. Deren verschiedene Lösungen sind nicht gut oder böse, sondern folgerichtig – vom Haudegen, der tötet, um zu überleben bis zum Humanisten, der das Menschenrecht auf für potenziell Gefährliche fordert: Einen Gefangenen zu töten, der die Gruppe an Feinde verraten könnte, und aus ihm vorher Informationen heraus zu foltern, wäre sicher – aber zerstört dieser Mord nicht das letzte, was die Menschen von den Zombies trennt?
Was bedeutet Intimsphäre im Chaos? Ist Selbstmord eine Lösung? Darf ich das Leben eines Einzelnen für das Überleben der Gruppe opfern? Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Monster?
In diesen Konflikten liegt die Stärke des viralen Roadmovies; und die Charaktere tragen sie glaubwürdig aus. „Walking Dead“ traut sich, eine Geschichte zu erzählen – in Zeiten, wo der Spezialeffekt das Drehbuch verdrängt, ist das viel wert.
Die Stadt der Blinden
Blindness, 2008 von Japan, Kanada und Brasilien produziert, führt in eine Stadt der Blinden. Die Menschen werden blind und stecken andere Menschen mit ihrer Blindheit an; die Infizierten werden in einer Psychiatrie interniert wie Schwerverbrecher und Flüchtende werden getötet.
Eine Frau behält ihr Augenlicht, bleibt aber bei ihrem Mann. Anfangs teilen die Häftlinge die zugewiesenen Lebensmittel demokratisch auf. Dann übernimmt eine Station die Diktatur über die Nahrung, fordert dafür die Wertsachen und später die Frauen. Ihr Buchführer ist von Geburt an blind und kann sich deshalb besser orientieren als die Infizierten – die Scheinblinde ist ihm jedoch mehr als ebenbürtig.
Die blinden Männer des Gewaltregimes vergewaltigen eine Frau so, dass sie an den Folgen stirbt. Doch die nur Scheinblinde tötet den Anführer der Gewalttäter und der Kampf beginnt. Die Psychiatrie brennt ab, die Überlebenden fliehen: Die Wachen haben das Feld geräumt und draußen herrscht das Chaos. Alle Menschen sind blind, der Strom ist ausgefallen, Hunde fressen Leichen und die Blinden streiten sich um Lebensmittel in Supermärkten.
Die Arztfrau führt die Gruppe zum Haus ihres Mannes. Dort kann der erste Infizierte wieder sehen. Die Anderen hoffen auf Erlösung. Die Sehende fürchtet aber, jetzt selbst zu erblinden. Blindness ist ein außergewöhnlicher Film. Zum einen setzt er nicht die üblichen Virenbestien wahlweise als Zombies, Werwölfe oder Vampire in Szene, von denen der Horrorfilm nur so wimmelt, sondern zeigt Blindheit.
Zum anderen wirkt Blindheit als Metapher: Wie verhalten sich Menschen, die die Orientierung verlieren? Die einen achten die Menschenwürde; die anderen setzen das Faustrecht durch. Dunkelheit, Orientierungslosigkeit und Isolation sind Kernelemente des Horrors, dazu kommt der melting pot, hier der geschlossene Raum, hier die Anstalt. Blindness holt diese Struktur des Unheimlichen in das Innere – den Verlust ds Augenlichtes. Die Story bietet ein großes Potenzial für alternative Entwicklungen: Was wäre, wenn die Blindheit nicht aufhört und die Geburtsblinden zu Führern einer neuen Gesellschaft werden?
Zombieviren?
Sind Viren, die einen Menschen zum Zombie machen, denkbar? Blindness und Quarantäne zeigen mögliche Entwicklungen: Seuchen, in denen lebende Menschen erblinden oder um sich beißen, gibt es. Viren zerstören auch Gehirnfunktionen – ebenso andere Krankheiten, die intelligente Menschen geistig abstumpfen: Bei Alzheimer setzt zum Beispiel die Erinnerung aus.
Zombieviren wie in Walking Dead reanimieren jedoch das Gehirn, nachdem der Mensch tot ist. Solche Viren gibt es nicht, denn Tod heißt Tod. Selbst, wenn es Viren gäbe, die die Regeneration der Zellen in Gang setzen, belebten diese keinen toten Körper.
Benjamin Percy / Roter Mond
„Hätte George Orwell sich eine Zukunft mit Werwölfen ausgemalt, dann wäre genau dieser Roman herausgekommen.“ John Irving
Werwölfe, die Flugzeuge in die Luft jagen und ein Präsidenten-Trottel, der selbst zum Werwolf mutiert? Das klingt nach irren Esoterikern oder nach einer Satire auf eben diese. Ist es aber nicht, sondern eine Parabel – in der Tradition von George Orwells „1984“ oder Karel Capeks „Der Krieg mit den Molchen“.
George Orwell skizziert in „1984“ totale Manipulation, die von den Manipulierten nicht mehr erkannt wird; in Karel Capeks „Krieg mit den Molchen“ dienen Lurche den Herrenmenschen als Sklaven, bis sie, wörtlich genommen, die Welt der Menschen untergraben.
Was erzählt Percy in seinem 2014 erschienenen Roman? Die Lykaner leiden an einer Mutation, die sie zeitweise in Tierartige verwandelt. Früher schnitten Ärzte ihnen deshalb Teile des Gehirns heraus; die Opfer starben oder vegetierten. Zugleich bekamen die Lykaner eine „Republik“ in einer Wildnis bei Finnland, wo die USA Uran ausbeuten und dafür die Lykaner unterjochen. Lykaner kämpften um ihre Rechte: Einige wurden Professoren an der Lykaner-Universität, andere gingen in den bewaffneten Kampf. Heute müssen Lykaner ein Medikament einnehmen, dass ihre Gefühlswelt nahezu abtötet, und das in Bluttests belegen. Die meisten fälschen die Tests, andere klagen weiter ihre Rechte ein, und die Guerilla mutiert indessen zum religiösen Terror.
Lykaner-Terroristen richten ein Blutbad in drei Flugzeugen an, und damit schlägt die Stunde des Gouverneurs von Oregon, William Chase: „Dies ist eine besondere Stunde. Amerika wird angegriffen.“ Der Ranchersohn wirkt, als hätte Charles Bukowski George W. Bush, Sarah Palin und Arnold Schwarzenegger zu einem Brei verrührt und dann durch das Klo gezogen.
Er verkündet: „Extreminismus kann man nur mit extremen Maßnahmen bekämpfen“, und fordert eine öffentliche Datenbank für Lykaner; sie dürfen nicht mehr in Flugzeuge und den Staatsdienst; sie sollen einen Stempel „Lykaner“ in den Pass bekommen. Liberale beschwören zwar, dass Lykaner keine Terroristen sind; doch die Öffentlichkeit gehört den Demagogen.
Der Präsident wird gebissen – der heimliche Lykaner hetzt derweil weiter, aber sucht zugleich nach einem Impfstoff. Patrick, der „Wunderjunge“ überlebte als einziger die Anschläge, und die faschistische Miliz „The Americans“ will ihn als „Auserwählten“ in die Schlacht schicken. Doch seine Mutter ist selbst mutiert, und er verliebt sich in die Lykanerin Claire. Killer der Regierung ermordeten ihre Mutter und ihren Vater, Claire flieht zu ihrer Tante Miriam und erfährt, dass ihre Eltern für die Revolution kämpften, aber der Gewalt abschworen, als Claire auf die Welt kam. Miriams Mann Jeremy hingegen ist der „Andreas Baader“ der Lykaner und verantwortlich für die Anschläge. Jeremy wird verhaftet und zum Tode verurteilt; er griff als radikaler Bürgerrechtler zum (Gegen-) Terror, doch längst haben anders Motivierte die Waffen übernommen: Balor sieht sich als Werkzeug Gottes und will eine „reine Lykaner-Welt“ schaffen.
Am Tag von Jeremys Hinrichtung wird der Mond rot; eine Sprengstoff gefüllte Cessna rast in ein Atomkraftwerk; 100 000 sterben sofort; der Westen der USA ist verseucht und wird evakuiert. Balor inszeniert sich als Priesterkönig im „Geisterland“. Am Ende wird Patrick gebissen und kommt damit Claire nahe; zugleich findet er den Impfstoff, doch Claire weigert sich, ihn zu nehmen – denn der Wolf ist eine Seite von ihr.
„Ihr könnt uns nicht besiegen, denn wir sind ein Teil von euch“, riefen Bürgerrechtler 1968 der Polizei entgegen, und Percy umreißt ein Amerika, das eine Minderheit unterdrückt und damit in genau die Hölle fährt, die die Hetzer zuvor an die Wand malten. Die Risse gehen durch die Psyche jedes Einzelnen. Dabei versteht er das Handwerk des übergeordneten Erzählers, der zeigt, aber nicht belehrt; er fordert so den Leser, selbst Position zu beziehen – und präsentiert zugleich eine schwarze Perle der Fantastik.
Die Berufene
“Noch ein Zombieroman, jetzt reicht es aber”, mag der Leser stöhnen und Die Berufene im Regal stehen lassen. Das wäre ein Fehler, denn der 2014 erschienene Roman von M.R. Carey ist großartig.
Ein Pilz, der normalerweise Ameisen als Wirt nutzt, mutierte und befällt Menschen. Der Parasit steuert ihr Verhalten in seinem Sinn. Fast alle sind infiziert und ziehen als fremd gesteuerte Kannibalen durch das Land.
Doch einige infizierte Kinder sind anders. Sobald sie Menschen riechen, werden auch sie zu Monstern; ansonsten verhalten sie sich aber wie normal. Forscher untersuchen sie in einem militärisch abgeriegelten Institut, sperren sie in Einzelzellen, duschen sie mit Chemieseife und füttern sie mit Madenbrei. Die Forscher nutzen ein Präparat, das ihren menschlichen Geruch überdeckt.
Die meisten Lehrer haben kein Problem, die Menschenrechte der Kinder zu verletzen, denn sie glauben, dass auch das menschliche Verhalten der Kinder vom Pilz gesteuert wird. Mrs Justineau behandelt sie hingegen wie Menschen und unterrichtet mit Herzenswärme. Die 10jährige Melanie ist das begabteste der infizierten Kinder. und sie liebt Mrs Justineau. Doch eine eiskalte Forscherin will das Mädchen töten, um sein Gehirn zu sezieren. Darin vermutet sie das Heilmittel gegen den Pliz.
Es kommt zum offenen Konflikt zwischen den beiden Autoritätspersonen. Dann bricht die Hölle los: “Schróttwühler”, nicht Infizierte, die als Freibeuter durch die Gegend ziehen, brechen in die Station ein und treiben die Infizierten dabei wie eine Rinderherde.
Die Forscherin, Mrs Justineau und ein Soldat fliehen in einem Militärfahrzeug – Melanie ist dabei. Der Soldat sieht in ihr ein Monster, das er bei der nächsten Gelegenheit umbringen würde, und die Forscherin möchte sie weiterhin sezieren – doch beides geht nur über Mrs Justineaus Leiche.
Melanie akzeptiert ihre Identität nicht nur, sie sieht auch die Gefahr, die sie darstellt. Die anderen sind indessen auf sie angewiesen, denn die Infizierte kann sich als einzige heraus trauen und die Umgebung erkunden.
Auf einem Streifzug sieht sie eine Gruppe wilder Kinder in ihrem Alter. Die haben eine Art Stamm aufgebaut und jagen Ratten. Sie sagt ihrer Gruppe nichts von der Entdeckung, sondern behauptet, sie wäre auf eine Versammlung von Schrottwühlern gestoßen.
Der Pilz verbreitete sich seinerzeit so schnell, dass die britische Regierung ein mobiles Labor in einem Bus einrichtete. Auf ihrer Odyssee stößt die Gruppe jetzt auf dieses Labor. Die Forscherin fühlt sich im Paradies; sie hat eine Blutvergiftung erlitten und weiß, dass sie bald stirbt.
Doch sie steht unmittelbar vor einer bahnbrechenden Entdeckung. Sie sah nämlich eine Infizierte einen Kinderwagen schieben und erkannte, dass bei einigen Befallenen mehr Bereiche des Gehrins erhalten bleiben als vermutet. Kinder wie Melanie sind der Schlüssel; deswegen braucht sie das Mädchen jetzt lebend.
Einen Punkt hatten die Forscher übersehen: Infizierte pflanzten sich fort. Daher stammen Kinder wie Melanie. Der Pilz mutierte; in der zweiten Generation zerstört er seinen Wirt nicht mehr, sondern geht mit ihm eine Symbiose ein. Kinder wie Melanie werden von dem Pilz nicht mehr zerstört, sondern leben mit ihm. Sie sind Mensch und Pilz zugleich.
Die Gruppe trifft in London auf das Zentrum des Pilzes. Eine fungide Wand reicht von einem Horizont bis zum anderen. Melanie überredet die Gruppe, den “Wald” abzufackeln. Das Feuer breitet sich blitzartig aus.
Melanies Ziel war es aber nicht, den Pilz zu zerstören. Sie hat nämlich in Mrs Justineuas Unterricht gelernt, dass Pflanzen im Regenwald Brände brauchen, damit ihre Samenkapseln sprengen. Genau das passiert jetzt bei den Sporen des Pilzes, die sich wie Schnee am Himmel verbreiten.
Das ist das Ende für die früheren Menschen. Melanie kommt mit den wilden Kindern zu Mrs Justineau, und genau wie sie selbst sind diese Symbiosen aus Pilz und Mensch. Melanie sagt, dass die Schrottwühler und die Infizierten sich gegenseitig zerstören. Ihre Generation aber wird überleben, als Menschen – aber anders als die Menschen der alten Zeit. Mrs Justineau soll sie unterrichten, um das Monster in ihnen zu zähmen.
Die Charaktere wirken anfangs holzschnittartig: Die ehrgeizige Wissenschaftlerin, die über Leichen geht; die Lehrerin, die ihre Schüler beschützt; und der erfahrene Soldat, der hart pragmatisch denkt. Doch sie entwickeln sich, und irgendwann ist unklar, wer gut und wer böse ist. Im Kern steht die Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin und die Botschaft, dass eine warmherzige Erziehung Hoffnung bringt – auch unter schlimmsten Umständen.
Der Übergang
Justin Cronins Endzeitepos „Der Übergang“ („The Passage“) spaltete die Leser in Enthusiasten und Hasser. Cronin entwickelt nämlich seine Romanwelt im Detail. Dabei behält er die Distanz zu diesen Menschen in einer gänzlich anderen Gesellschaft: Sie denken anders, sie bewegen sich anders in Zeit und Raum. Ihnen fehlen die Mittel, sich global zu verständigen. Ihre Gemeinschaften wissen nichts voneinander.
Liebhabern von Hollywood-Action wird das leicht zu literarisch – Freunde von Orwell, Melville oder Faulkner finden hingegen etwas selten gewordenes: ein ausgearbeitetes Epos.
Justin Cronin interpretierte in “Der Übergang” und “Zwölf” das Motiv “the monsters of human mind are turning to flesh”. Ein Virus soll die Menschen unsterblich machen. Wissenschaftler experimentieren und probieren das Virus an zwölf Schwerstverbrechern aus. Die Zwölf werden zu Monstren mit übernatürlichen Fähigkeiten, brechen aus, streuen den Erreger und innerhalb kurzer Zeit beherrschen die Virals den größten Teil Amerikas. Doch ein Versuchsobjekt mutiert nicht zu einem Monstrum und trägt die Hoffnung auf Rettung in sich: Amy.
Cronins Plot ist klassisch – fast zu klassisch. Doch der Professor für “Creative writing” beherrscht sein Handwerk meisterhaft. Das zerstörte Amerika wird sehr plastisch, ebenso die Beziehungen zwischen den Menschen. Ein Geltungssüchtiger erwirbt sich zum Beispiel Weltruhm, weil er sich im von Viralen beherrschten Denver in einem Hochhaus einbunkert und seinen „Last Stand“ in das Internet postet.
Ein autistischer Busfahrer nimmt den Untergang in seiner abgeschlossenen Welt wahr. Cronin lässt dabei den Leser von einem Cliffhanger zum nächsten zittern; und der Leser merkt, dass das Amerika der Virals kein Spaziergang ist – spätestens, wenn seine Lieblinge sterben.
Cronin sagt: “Ich entwickle die Welt, bevor ich die Geschichte erzähle. Dabei behalte ich die Distanz zu diesen Menschen in einer gänzlich anderen Gesellschaft: Sie denken anders, sie bewegen sich anders in Zeit und Raum. Ihnen fehlen die Mittel, sich global zu verständigen. Ihre Gemeinschaften wissen nichts voneinander. Was bedeutet für sie Liebe oder Freundschaft? Bei den Charakteren gehe ich intuitiv vor, beobachte meine Figuren genau und achte auf die Details.”
Cronin mag keine Unlogik. Die Kampfszenen wirken lebensecht; er ließ sich dafür von Berufssoldaten beraten. Er recherchierte minutiös, wie lang eine Gruppe mit den verfügbaren technischen Mitteln von A nach B braucht, was die Menschen in der zerstörten Welt essen, wie dieses Essen auf den Körper wirkt. Wie kommen die Überlebenden an Ressourcen? Scheinbar banale Fragen, zum Beispiel, wie ein Auto funktioniert, sind für Menschen, die auf sich allein gestellt sind, lebensnotwendig.
Cronin sagt: “Wie improvisiert jemand, der zum ersten Mal einen Porsche fährt? Welche Waffen lassen sich in welcher Situation anwenden? Ein Soldat im Häuserkrieg weiß das, oder er stirbt – genau wie im Kampf mit den „Viralen“. Soldat zu sein bedeutet, dass Entscheidungen über Leben und Tod entscheiden und sich in einer Sekunde alles ändert.”
In “Zwölf” benutzt Cronin (ur) alte literarische Muster: “Ich beginne mit einer Chronik, wie sie in heiligen Schriften zu finden ist. Der Aufbruch der Gemeinschaft im Kampf gegen das, nennen wir es, Böse, ist ebenfalls sehr klassisch. Mich inspirierte „The lonesome dove“, ein Western. Er enthält sämtliche Elemente des Western Genres, Klapperschlangen ebenso wie Revolver oder Huren und ist zugleich ein literarisches Meisterstück. „Zwölf“ ist auch eine Road Novel. Der Western lebt von Städtern, die sich in der Wildnis Amerikas beweisen und keine Ahnung haben, was ihnen blüht. Im zerstörten Amerika der Zukunft kehrt diese Wildnis zurück. „Zwölf“ ist eine zweite Noah-Geschichte: Wie geht es nach der Sintflut weiter?”
Die Reise durch das zerstörte Land ist nur ein Motiv; ein anderes ist die Gesellschaft. Wie organisieren sich Menschen in einer Umwelt voller Monster? Cronin unterscheidet sich hier vom Horror-Mainstream Amerikas, bei dem der Effekt im Vordergrund steht. Er zeigt nämlich politische Widersprüche. Wie die Menschen ihre jeweiligen Kolonien aufbauen, hat Vor- und Nachteile.
Cronin sagt: “Die Menschen in der Stadt sind den Texanern am nächsten. Zivilisten und Militärs teilen die Gewalten auf und glauben an ihre persönliche Stärke, sie kennen die Geschichte. Sie haben sich entschieden, zu kämpfen. Die erste Kolonie erinnert hingegen an einen Kibbuz in Israel und organisiert sich fast marxistisch. Ihre Mitglieder überleben, weil sie sie gleich berechtigt sind. Jeder bringt seine Fähigkeiten ein und nur zusammen sind sie stark. Gewaltenteilung und Kollektiv zeichnen diese beiden Wege aus; der dritte ist die Kooperation mit den Mächtigen. Einige Menschen wollen von der Macht der Unsterblichen profitieren und leiten deren Lager. Demokratie, Kommunismus und der dritte Weg ist der Faschismus. Im Unterschied zu Gulag und KZ werden die Insassen nicht ausgelöscht, sondern dienen als Futter. Sie sind Arbeitssklaven und Schlachtvieh.”
Dabei entwickelt Cronin für jeden von dutzenden von Charakteren seine Geschichte und seinen persönlichen Konflikt. Was passiert mit Vermissten? Soll ich in dieser Welt ein Kind austragen? Es verfolgt die Protagonisten, dass die von ihnen getöteten Virale einst denkende und fühlende Menschen waren.
Postapokalypse und Postmoderne
Der heutigen Postapokalypse fehlt die Utopie einer besseren Zukunft ebenso wie das absolute Ende der Welt. Es geht weiter, irgendwie. Cronin und Percy verbindet, dass sie vergleichen ohne sofort zu werten.
Wie in Nietzsches Zarathustra schweifen die Charaktere durch eine Welt, in der Menschen (und andere intelligente Wesen) ihre Gesellschaften sehr unterschiedlich organisieren. Erlösung wie in der christlichen Apokalypse gibt es nicht.
Nietzsches Schluss “Gott ist tot” legt nahe, sich schonungslos mit dem zu konfrontieren, was ist – und die dunklen Helden der Postapokalypse haben keine andere Wahl.
Der Soziologe Ulrich Beck nannte die Verhältnisse im “Westen” zu Recht Risikogesellschaft. Traditionelle Bindungen haben ihre Gültigkeit verloren. Was euphemistisch als “lebenslang lernen” bezeichnet wird, bedeutet, dass es nichts mehr gibt, worauf man sich verlassen kann: Eine Ausbildung garantiert keinen Job; Familienplanung ist ein Karriererisiko. An die Stelle von Lebensplanung tritt die “Egotaktik” – also das Handeln in der Situation.
Die von Viren verseuchten Postapokalypsen spiegeln diese Unsicherheit wieder. Die “Helden” sind auf sich allein gestellt, müssen sich ständig neu orientieren, und nichts ist, wie es scheint. Erfolg hat, wer den Verhältnissen ohne Vorurteile gegenüber steht, und Melanie in Die Berufene wirkt insofern wie eine dunkle Version von Alice im Wunderland. (Dr. Utz Anhalt)
Fachliche Aufsicht: Barbara Schindewolf-Lensch (Ärztin)
Autoren- und Quelleninformationen
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