Bei den großen Seuchen, die wie apokalyptische Reiter die Menschen dahin rafften und ganze Kulturen zerstörten denken wir zuerst an die Pest, die für das Mittelalter ähnliche Auswirkungen hatte wie ein Atomkrieg. Oder an Epidemien wie die Cholera, die dutzende von Millionen Menschen in wenigen Jahrzehnten tötete. Lepra und Tuberkulose killten zwar nicht ebenso viele Menschen in ebenso kurzer Zeit, doch prägten sie die Gesellschaften des Westens bis heute.
Inhaltsverzeichnis
Das Lepra-Bakterium
Mycobacterium leprae löst die Krankheit aus und ist mit Mycobacterium tuberculosis, dem Tuberkulose-Erreger verwandt. Die Ansteckung erfolgt durch Tröpfchen, die Krankheit ist aber nur schwach ansteckend. An Lepra erkrankt nur, wer über lange Zeit intensiven Kontakt zu den Körperflüssigkeiten von Leprösen hat. Mangelnde Hygiene, Unterernährung und ein generell schwaches Immunsystem fördern die Ansteckung.
Ein Genomvergleich der mittelalterlichen Lepra-Bakterien mit heutigen Erregern belegt einen gemeinsamen Vorfahren. Die Inkubationszeit dauert sehr lange, durchschnittlich fünf Jahre, bei manchen Patienten liegen zwanzig Jahren zwischen Infektion und Ausbruch.
Bei Lepra sterben die Nerven ab, und die Blutgefäße verstopfen, weil sich das Blut verdickt. Die Patienten empfinden an den betroffenen Stellen keine Wärme, Kälte oder Schmerz mehr, was wiederum zu lebensgefährlichen Verletzungen führen kann, wenn sie zum Beispiel ihre Hand ins Feuer halten, ohne dies zu merken.
Durch die Erkrankung selbst fallen keine Gliedmaßen ab, doch das Absterben gehört zu den typischen Folgen. Denn ohne Schmerzempfinden verletzen sich die Betroffenen häufig, diese Wunden infizieren sich, besonders, weil Leprakranke oft unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen leben müssen. In der Folge entzünden sich die Wunden, und die entzündeten Stellen sterben ab.
Bei der lepromatösen Lepra verbreiten sich die Bakterien im Blut, den Nerven, Schleimhäuten und den Lymphbahnen. Die Haut bedeckt sich mit Knoten und Flecken, den roten Lepromen. Diese zersetzen das Hautgewebe. Die Leidenden werden entstellt, die Leprome formen das so genannte „Löwengesicht“. In der Folge breiten sich Geschwüre in Muskeln, Gewebe und Sehnen aus und befallen auch die inneren Organe. Die Betroffenen sterben aber auch bei dieser schlimmsten Form nicht an der Lepra, sondern an Sekundärerkrankungen, die in den geschwächten Körpern ein leichtes Spiel haben.
Die Aussätzigen
Die Wissenschaftshistoriker Ruffié und Sournia leisteten Detektivarbeit, um die Geschichte der Lepra zu erforschen. Sie schreiben: „Möglicherweise ist das mit „Aussatz“ übersetzte alte hebräische Wort aus den fünf Büchern Mosis wirklich mit der von uns heute als „Lepra“ bezeichneten Krankheit identisch. Sie kam offenbar schon lange vor der christlichen Zeitrechnung in Indien, vielleicht auch in China vor.“
Lepra heißt auch Aussatz. Es handelt sich um eine chronische Infektionserkrankung, verursacht durch das Mycobacterium leprae. Gerhard Armauer Hansen entdeckte 1873 den Erreger, und deshalb bezeichnen wir Lepra auch als Morbus Hansen.
In einem medizinischen Lehrwerk aus dem Indien des sechsten Jahrhunderts v.u.Z. finden wir die erste sichere Beschreibung der Lepra. In Indien leben nicht nur heute sehr viele Leprakranke, hier hat die Seuche vermutlich auch ihren Ursprung.
Von dort wanderte sie nach Südostasien und Japan, und, als das persische Weltreich sich bis nach Indien erreichte, schleppten die Perser, und später noch einmal die Truppen von Alexander dem Großen, vermutlich die Krankheit in den Nahen Osten ein. Die in Kleinasien ansässigen Phönizier, die größten Seefahrer des östlichen Mittelmeeres, brachten sie dann wahrscheinlich an die gesamten mediterranen Küsten, also zu den Griechen, Karthagern, Etruskern und Römern. Die römischen Legionen führten sie in Mitteleuropa ein, und infizierten Germanen und Gallier.
Die Mauren, die im 8. Jahrhundert in Spanien eindrangen, sorgten in Europa für eine neue Verbreitung, und die Kreuzfahrer trugen sie als ungewolltes Souvenir von den Kreuzzügen nach Jerusalem bei sich, als sie in ihre Heimatländer zurück kehrten.
Im frühen Mittelalter war die Lepra jedenfalls in West- und Mitteleuropa fest verankert und gehörte zum Alltag des gesellschaftlichen Lebens.
Die Ausgesetzten
Aus dem Hochmittelalter existieren viele Überlieferungen der Lepra. Die hieß damals Mieselsucht. Wer unter Verdacht stand, darunter zu leiden, wurde behandelt wie ein Krimineller. Die Menschen waren verpflichtet, Mieselsucht-Verdächtige den Behörden zu melden.
Vor Gericht wurden die organisierten Leprakranken befragt, ob der oder die Verdächtige einer von ihnen war. Später professionalisierte sich das Urteil insofern, dass jetzt ein Tribunal entschied, ob es sich um einen „Aussätzigen“ handelte oder nicht. Dazu gehörten ein Arzt, ein Priester und ein Vogt.
Der Erkrankte hatte das Recht auf einen Anwalt, den sich aber die meisten nicht leisten konnten, oder von Mitgliedern seiner Familie.
Der potenziell Lepröse musste sich jetzt zahlreichen Prüfungen unterziehen: Schimmerte seine Haut im Mondlicht farbig, dann galt das als Beleg. Warf man Blei auf den Urin eines Erkrankten, dann sollte er oben schwimmen, im Unterschied zu Gesunden, bei denen er versank.
Auch körperliche Merkmale sollten den Aussätzigen kennzeichnen. Sournia und Ruffié zitieren: „Der Aussätzige hat ein rotes Gesicht, einen trüben Blick, die Nase wirkt spitz, die Haare sehr dünn und fein, die Ohren klein.“
Das Blut eines „Mieselsüchtigen“ sollte mit reinem Quellenwasser verrührt, verklumpen, das Blut eines Gesunden hingegen flüssig und leuchtend rot bleiben. Stach man einen Erkrankten in die Ferse, so sollte er keinen Schmerz empfinden, legte man ihn auf kaltes Marmor, ohne dass er reagierte, dann bewies das, einen Aussätzigen vor sich zu haben.
Die Kriterien sagten nicht nur nichts über Lepra aus, sie waren selbst im Mittelalter umstritten. Wegen der willkürlichen „Kennzeichen“ wurden erstens viele „Aussätzige“ denunziert, zweitens fochten etliche Verdächtige das Urteil an, das sie zu „Aussätzigen“ machte – und das oft mit Erfolg. Sie bemühten andere Gutachter, sie gingen in Berufung oder zogen in einen anderen Gerichtsbezirk.
Diagnose und Behandlung
Aus heutiger Sicht erscheint es nicht nur verwerflich, einen potenziell Kranken wie einen Verbrecher zu behandeln, sondern es verwundert auch, warum die als aussätzig Diagnostizierten nicht sofort behandelt wurden. Sournia und Ruffié erklären das damit, dass der Aussatz als unheilbar galt.
Im Hochmittelalter, der Zeit, aus denen wir die meisten Quellen über die Prozesse gegen und die Diagnosen von Aussätzigen kennen, vertrauten zwar viele Ärzte bereits mehr auf Beobachtung und Erfahrung, doch das religiös-irrational-emotionale Verständnis von Krankheiten stand im Vordergrund.
Der menschenverachtende Umgang mit Leprösen lässt sich deshalb auch so erklären, dass vor allem Erkrankungen, die Menschen entstellten, als Strafe Gottes galten. Aussätzige galten als moralisch unrein, sündig und befleckt. Heilung konnte nur Reue, Sühne und Gebet bringen, da die Lepra aber als unheilbar galt, schien die „Sünde“ so groß zu sein, dass keine Sühne sie aufheben konnte.
Eine christliche Metaphysik, die den Kranken als Schuldigen sah, konnte selbstverständlich Infektionen nicht unter Kontrolle bringen. Doch zum Glück kannten auch Mediziner im Abendland die rationale und pragmatische Methode und ließen sich im ärztlichen Alltag nicht von den Dogmen des Klerus leiten.
Das alte Ägypten wurde auch deswegen das Mekka der antiken Mediziner, weil der ägyptischen Religion die Vorstellung von Krankheit als Strafe fremd gewesen war. Die ägyptischen Götter halfen im Gegenteil beim Heilen.
Die Leprösen im Mittelalter erhielten dennoch Pflege, die bisweilen ihr Leiden linderte, zum Beispiel, indem Mediziner ihre Geschwüre mit Tüchern abtrockneten oder Salben darauf strichen und die Wunden verbanden.
Die meisten Behandlungen jedoch waren bestenfalls ohne Nutzen: Die Kranken mussten mit Vipern gefütterte Hühner essen oder auch Frösche, oder, etwas bekömmlicher, in Alkohol eingelegte Erdbeeren.
Selten wurden erkrankte Männer auch kastriert mit der Begründung, dass der Lepröse „schwermütig und heißblütig sei“ und unter einer permanenten Erektion und einem unerträglichen Geschlechtstrieb leide. Würden sie kastriert, so heile das ihre unstillbaren Gelüste. Vermutlich diente die Kastration auch dazu, die Betroffenen zu hindern, sich fortzupflanzen.
Lebende Tote
Der Begriff Aussätziger stammt möglicherweise nicht vom „Aussatz“ auf der Haut, also den Geschwüren, Flechten und Hautausschlägen der Leprösen. Denn die Betroffenen wurden sozial getötet; Kirche und Behörden schlossen sie aus der Gemeinschaft aus, und es erging ihnen wie den Hunden und Katzen, die Kaltherzige auf Müllkippen aussetzen.
Die Kirche organisierte ein reguläres Begräbnis. Die Geistlichen lasen den Kranken die Totenmesse, dann mussten sich die Aussätzigen bisweilen sogar in ein richtiges Grab legen. Sie waren jetzt aus der Kirche ausgeschlossen, darauf folgte ihr Ausschluss aus der Gemeinde.
Von da an fristeten sie ihr Dasein in einem Leprosorium. Dort blieben die Erkrankten unter sich und durften das Haus nur unter strengen Kriterien verlassen. Sie durften weder in Flüssen baden noch barfuß laufen, sie durften Gesunde nur ansprechen, wenn der Wind den Atem nicht in deren Nasen blies. Die Kranken trugen eine Klapper, um ihr Kommen anzukündigen und spezielle Kleidung, mit denen sie schon von weitem erkennbar waren. Ihre Ehen wurden aufgelöst, sie durften kein Testament machen oder vor Gericht auftreten. Starben sie, dann wurden sie nicht auf einem christlichen Friedhof beerdigt.
Sournia und Ruffié arbeiteten die historischen Dokumente durch und fanden heraus, dass diese Auflagen in der Realität selten strikt eingehalten wurden. So erlaubten viele Gemeinden, den Erkrankten, in der Stadt zu betteln, manche Lepröse durften in ihrem Haus bleiben und einige Leprosorien entwickelten sich zu Gemeinwesen, die Ackerbau betrieben, Seile drehten und ihre Produkte direkt in den Häfen verkauften.
Eine Epidemie?
Ruffié und Sournia erkannten, dass die Betroffenen erst seit dem 11. Jahrhundert isoliert wurden, als sich die Krankheit bereits seit Jahrhunderten in Europa verankert hatte. Und sie fragen sich auch, warum gerade die „Aussätzigen“ in diesem Ausmaß ausgegrenzt wurden.
Sie vermuten, dass die Lepra in dieser Zeit epidemische Ausmaße annahm, und die Auflagen wie nicht barfuß zu gehen, keinen Atemkontakt zu Gesunden zu haben und sich von weitem anzukündigen, lassen sich als Maßnahmen interpretieren, eine Ansteckung zu vermeiden.
Die Lepra tötete nicht so massenhaft wie die Pest. Sie führt zwar zu diversen Folgeerkrankungen und viele Lepra-Kranke sterben an Störungen der Lungen, Nerven oder Gefäße. Das fiel aber im Mittelalter nicht ins Gewicht. Denn die durchschnittliche Lebenserwartung betrug wenig mehr als dreißig Jahre, während sich die Komplikationen bei Leprösen nach vielen Jahren entwickeln.
Eine Erklärung für die Ausgrenzung bildete das Aussehen der Kranken, der, so lassen auch die zeitgenössischen Berichte vermuten, die Gesunden ängstigte und ekelte: Ein knotenartiger Aussatz verdickt die Nase und die Lippen, das Gesicht wirkt monströs. Fortgeschrittene Lepra führt zu Verstümmelungen, vor allem fallen Teile der Nase, Ohren, Gliedmaßen und Finger ab. Die Haut ist bedeckt mit schwärenden Wunden. Die medizinisch Unaufgeklärten des Mittelalters sahen in den so Verunstalteten keine Menschen mehr vor sich – sie glichen den Bildern, mit denen die Kirche den Teufel und die Dämonen beschrieb.
Ruffié und Sournia schließen: „Von physischer Entstellung eines Mitmenschen bis zu seiner moralischen Ächtung ist es nur ein kleiner Schritt; schließlich kennt Gott nur Güte und Gerechtigkeit: Wer aussätzig war, wurde auf diese Weise offenbar für seine Sünden bestraft. (…) Lepröse waren keine bedauernswerten Menschen mehr, sondern in ihrer Verkörperung des Bösen eine Art Teufel auf Erden.“
Lüsternheit statt Bakterien
Diese Vorstellungen führten zu einer vollkommen falschen Idee über die Ursache der Lepra. So galt Lepra noch im 18. Jahrhundert als Geschlechtskrankheit. Die Kranken wurden beschuldigt, unter teuflischer Wollust zu leiden, und damit bestand die Gefahr, keusche Christen in Versuchung zu führen.
Ähnliche Projektionen nutzten auch Rassisten gegenüber schwarzen Menschen und Antisemiten gegenüber Juden. Dabei ging die Fiktion von körperlicher Verunstaltung, Krankheit und exzessiver Sexualität immer einher.
In der Fantasie von „Rassenschande“ beim sexuellen Verkehr von „Schwarzen“ oder Juden mit „weißen Frauen“ spiegeln sich ähnliche Vernichtungsfantasien wie in den entmenschlichenden Märchen von sexuellen Ausschweifungen der Lepra-Kranken, die Gott deshalb mit der Krankheit bestraft hätte.
Wie Juden und andere Minderheiten waren die Leprösen Sündenböcke für jede Katastrophe. Erkrankte das Vieh, starben Menschen aus unbekannter Ursache, zerstörte ein Sturm die Ernte? Dann hatten die Leprakranken sich verschworen, böse Zauber gewirkt oder die Gesunden vergiftet.
Sie teilten das Schicksal der Juden: Der Mob überfiel ihre Häuser, brachte sie in den Hexenprozess oder lynchte sie sofort. Im 14. Jahrhundert ermordeten solche „Wutbürger“ in Südfrankreich die Bewohner mehrerer Leprahäuser.
Ruffié und Sournia urteilen: „Noch nie in ihrer Geschichte hatte sich die Menschheit über einen so langen Zeitraum hinweg und derart leichtfertig und grausam einer so großen Gemeinschaft gegenüber schuldig gemacht.“
Kretins und Kranke
In Frankreich hießen die Betroffenen im Mittelalter „Chrétiens“, und daraus leitete sich das Wort Kretin ab, das sehr unterschiedliche „Missgebildete“ bezeichnete. Es bleibt unklar, wie viele Menschen, die unter Rachitis litten oder von Geburt an deformierte Knochen hatten, in die Leprahäuser kamen.
Diese Kretins wurden zwar in der frühen Neuzeit nicht mehr mit Leprakranken gleich gesetzt, teilten aber deren schreckliches Schicksal. Sie durften nicht an öffentlichen Brunnen trinken, nicht barfuß gehen, Städte nicht betreten und mussten in isolierten Häusern leben. Auch sie traf der Verdacht, sich sexuellen Orgien hinzugeben.
Es ist unmöglich, die Zahl der Menschen zu schätzen, die in Mittelalter und früher Neuzeit an den Folgen der Infektionskrankheit starben, weil alle möglichen Menschen zu Leprösen erklärt wurden: Das konnte eine Pigmentstörung sein, die Hautkrankheit Schuppenflechte oder sogar simple Akne.
Jedenfalls blieb der Anteil der Europäer, die an Lepra erkrankten, immer sehr gering. Im 17. Jahrhundert wurden überall Leprahäuser wegen einem Mangel an Insassen geschlossen, und im 19. Jahrhundert gab es sie in größerem Ausmaß auf dem Kontinent nur noch in Norwegen, wo Gerhard Hendrik Armauer Hansen 1873 den Bazillus entdeckte. Warum sie verschwand, ist ungeklärt.
Lepra heute
Die Erkrankung ist in manchen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, vor allem in Indien und Brasilien, immer noch weit verbreitet. Doch insgesamt hält die WHO die Seuche für kontrolliert und sieht ihre Ausrottung in den nächsten Jahrzehnten als realistisches Ziel.
Die Infektion lässt sich heute nämlich sehr gut behandeln und auf Dauer sogar heilen. Eine Therapie mit Dapson, Clofazimin und Rifampicin bekommt die Krankheit in den Griff, allerdings dauert sie Jahre, und erfordert den ständigen Austausch zwischen spezialisierten Ärzten und Patienten. Genau daran mangelt es in den am stärksten betroffenen Ländern. Auch in den Entwicklungsländern sinkt die Rate der Betroffenen seit Jahrzehnten. Insgesamt gibt es weltweit derzeit circa 200.000 neu Erkrankte pro Jahr.
Wesentlich für den Kampf gegen die Lepra ist nicht nur die Therapie, sondern auch Verbesserung der Umstände, unter denen Erkrankte in Ländern wie Bangladesch oder Tansania leben. Wo die Betroffenen ausgegrenzt werden und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen leben müssen, verbreiten sich erstens Krankheitserreger, und zweitens infizieren sich die Erkrankten durch mangelhaft versorgte Wunden sehr leicht mit diesen Sekundärinfektionen.
Tuberkulose – Ursachen und Ansteckung
In Europa gilt Lepra als typische Krankheit des „finsteren Mittelalters“, während die Tuberkulose ihren Siegeszug in der Moderne hielt: Das „Blut husten“, also die Lungentuberkulose galt als typische Todesursache der städtischen Bürger im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Tuberkulose (TBC) hat ihre Ursache in Bakterien vom Komplex „Mycobacterium tuberculosis“. Wer an Lungen-TBC erkrankt, der verbreitet diese Erreger mit feuchter Aussprache, beim Niesen oder Husten. Atmet ein gesunder Mensch diese Bakterien ein, entwickelt sich oft eine Entzündung in der Lunge, die aber meist von selbst in einigen Wochen ausheilt.
TBC-Erreger übertragen sich jedoch auch über den Verdauungstrakt, über offene Wunden, oder beim Mycobacterium bovis sogar über Kuhmilch. Diese Ansteckungen sind jedoch sehr selten.
Wie häufig ist TBC?
Wäre das Mycobacterium tuberculosis ähnlich lethal wie Tollwut oder Pest, dann wären weite Teile der Welt entvölkert. Ungefähr ein Drittel aller Menschen ist nämlich mit TBC infiziert, doch nur bei etwa 5 % von ihnen bricht die Krankheit aus und muss behandelt werden, und bei diesen wiederum nimmt sie nur bei sehr wenigen eine gefährliche Form an.
Heute fallen fast 95 % aller Todesfälle in den armen Ländern an, in Asien und Afrika. In Indien gibt es jedes Jahr Millionen von neuen TBC-Erkrankungen – weltweit sind es circa 7 Millionen. Pro Jahr sterben global circa 1,5 Millionen an der Krankheit. In Deutschland bricht die Krankheit jährlich bei einigen tausend Menschen aus.
Gefahr für Suchtkranke
Tuberkulose galt im 19. Jahrhundert als typisch für kränkliche Menschen, für Hypersensible und Menschen mit „unmoralischem Lebenswandel“. Das war kein reines Vorurteil: Bei einer gestörten Immunabwehr entwickelt sich die Infektion nämlich zu einer Krankheit, die das Leben bedroht. Das gilt für Drogenkranke, Alkoholiker, Menschen mit Nierenproblem, Rheuma, Diabetes mellitus, Unterernährte und generell Menschen, die eine umfassende Geschichte physischer und psychosomatischer Krankheiten hinter sich haben.
Eine Lungentuberkulose verläuft oft ohne Frühsymptome. Dann bricht nachts starkes Schwitzen aus, leichtes Fieber folgt, dann schwerer Husten mit blutigem Auswurf. Ein Blutsturz kann folgen, Die Betroffenen verlieren den Appetit und Gewicht.
Deshalb hieß die Tuberkulose früher Schwindsucht, weil die Kranken körperlich „dahin schwanden“. Der erkrankte Zahnarzt, Alkoholiker und Revolverheld Doc Holliday soll so dünn gewesen, dass seine Gegner ihn beim Duell nicht treffen konnten.
Die Lungen-TBC zieht sich unbehandelt über Jahre hin. Längere Zeit bleiben die Symptome aus, dann brechen sie wieder aus. Ohne Therapie führt diese Infektion häufig zum Tod.
Besonders gefährdet sind AIDS-Patienten, die keine Abwehrkräfte haben. Bei ihnen kann sich das Mycobacterium nicht nur leicht einnisten, sie sterben auch häufig an der ausgebrochenen TBC.
Ähnliche Probleme haben Patienten, die Medikamente nehmen, die ihr Immunsystem unterdrücken, Häftlinge im Gefängnis, alte Menschen, Obdachlose und Ess-Gestörte, Kleinkinder, deren Abwehrsysteme noch nicht voll entwickelt sind und Menschen in den Slums der Dritten Welt, Elendsquartieren auf dem Balkan und insbesondere Kriegsflüchtlinge in Lagern.
Therapie: Reine Luft und Chemokur
Erkrankte wurden, so sie es sich leisten konnten, im 19. Jahrhundert in Lungenheilstätten behandelt, in denen die Luft besonders rein sein sollte – heute sprechen wir von Luftkurorten. Sie lagen dort im Freien und genossen eine ebenso gesunde wie nährstoffreiche Ernährung. Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Ärzte dann, die Lunge ruhig zu stellen, damit die Entzündung abheilen konnte.
In den 1950er Jahren begann in Deutschland eine effektive Chemotherapie, die die TBC tatsächlich ausheilen ließ. Die Rate der Todesfälle durch TBC ging kontinuierlich zurück. Dies ging auch einher mit Aufklärungskampagnen, um der Seuche vorzubeugen. Inzwischen kann man sich gegen TBC impfen lassen.
Im Zuge der Globalisierung ist Tuberkulose heute in Deutschland indessen wieder ein Thema. TBC-Fälle von Menschen aus Osteuropa in deutschen Kliniken zeigen, dass die Erkrankung jederzeit wieder ausbrechen kann, denn insbesondere im Baltikum, in Rumänien und auf dem Balkan sind die Raten noch heute erschreckend hoch.
Blutrote Romantik
Im Unterschied zur Lepra des Mittelalters galt die Tuberkulose kaum mehr als metaphysische Strafe für eine „Sünde gegen Gott“, sondern wurde Sinnbild dafür, dass selbst der Fortschritt des Menschen in seinem Untergang endet – eine beliebte Denkfigur der Schwarzen Romantik.
In der Gesellschaft war sie als „Schwindsucht“ bekannt und inspirierte die Künstler der Schwarzen Romantik von Baudelaire bis zu Poe, besonders im Motiv des schönen Frau, der die Männer zu Füßen liegen, und die in der Blüte ihrer erotischen Ausstrahlung dahin schwindet – wie in ihrem Zwilling, dem sinnlichen Jüngling, dem der Gedanke an den Tod fremd ist, und der mitten in Abenteuer und Ausschweifung das Leben aus seinen Lungen hustet.
Die Maske des Roten Todes
Poe selbst sah im Tode einer schönen Frau das wichtigste Thema der Kunst, und die Schwarze Romantik badete sich im Wechselspiel von Tod und Erotik, Schönheit und Vergänglichkeit. Genauer gesagt, die Künstler der schwarzen Romantik versuchten, dem unvermeidlichen Verfall, Krankheit und Tod durch sinnliche Exzesse ein Schnippchen zu schlagen.
Seine Mutter Elizabeth verlor der Schriftsteller als sie 23 war; sie starb ebenso an Tuberkulose wie seine geliebte Virginia mit 24 Jahren. Vampirfiguren in Poes Werk wie Ligeia, die erst an einer Krankheit dahin siecht und dann von den Toten aufersteht, sind vermutlich ebenso von TBC beeinflusst wie seine Erzählung „Die Maske des Roten Todes“.
Im Vampir, dem Superstar der Schwarzen Romantik und Gothic Novel, finden sich ebenfalls Hinweise auf die bakterielle Infektionskrankheit: Der Blutsauger, der schönen Frauen nachts das Blut entzieht, so dass sie dahin siechen und der Blut verschmierte Mund des Untoten erinnert womöglich nicht nur assoziativ an den Bluthusten der Erkrankten. Zumal diese Literatur gerade im viktorianischen England aufblühte, als die Tuberkulose Menschen in London dahin schwinden ließ.
Die Schwindsucht wurde ein Symbol für den schleichenden Tod, der bereits in der Blüte der Lebenskraft durchschimmert und genau dann einbricht wie ein Dieb in der Nacht, wenn die Lebenslustigen es am wenigsten erwarten. Dabei ist die Tuberkulose weder eine neue noch eine moderne Krankheit, und nicht nur Adonisse starben daran.
Kafkas Kehlkopf
„Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. ,So geht es nicht weiter’, hat das Gehirn gesagt, und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt, zu helfen.“ Franz Kafka
Eines der prominentesten Opfer der Tuberkulose war Franz Kafka, der zudem seine Krankheit literarisch verarbeitete. Der Schriftsteller zeigt deutlich, wie die körperlich-seelische Verfassung die Auswirkungen von TBC beeinflusst. Er litt sein Leben lang unter unzähligen Beschwerden, die er selbst als psychosomatisch erkrankte.
Obwohl er in hohem Ausmaß reflektierte wie sich sein psychisches Leiden körperlich ausdrückte, war er doch zu schwach, diese Reflexion einzusetzen, um sich selbst zu heilen. Zugleich empfand er, in einer Paradoxie, die sich auch in seinem Gesamtwerk spiegelt, die Tuberkulose sogar als eine perverse Form von Befreiung.
Die Krankheit, die seinen Körper und sein Leben zerstörte, machte es ihm nämlich unmöglich, dem verhassten Bürojob nachzugehen, und er konnte nur noch in seiner Literatur aufgehen.
Unter Tuberkulose versteht der Volksmund vor allem die pulmonale Tuberkulose, die die Lunge befällt. Aber TBC kann verschiedenste Körperteile in Mitleidenschaft ziehen: Hirnhäute, Rippenfell, Knochen, Gedärme, Haut und Genitalien. Bei Kafka war es der Kelkopf.
1917 fiel die Diagnose Lungentuberkulose, 1923 hatte sich das Leiden zu einer Kehlkopf-TBC entwickelt. Kafka litt unter ständigem schweren Husten, brennenden Halsschmerzen, und er verlor langsam aber sicher seine Stimme.
Der sowieso schon dünne Autor magerte immer weiter ab, als er 1924 starb, wog er unter 45 Kilogramm. Er konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen, dazu war sein Kehlkopf zu sehr angeschwollen, und Kafka war außerdem zu schwach, um eine Operation zu überleben. Die Schmerzen wurden unerträglich. Am 3. Juni 1924 starb er in einem Sanatorium bei Wien, offiziell an Herzlähmung.
Eine alte Plage
Die Lepra war keine Seuche des Mittelalters, denn sie grassierte schon in der Antike, und es gibt sie heute noch. Auch die Tuberkulose sickerte zwar in die Bürgerwelten der Moderne ein, ist aber eine uralte Plage.
Aus der Frühgeschichte weisen Mumien Schäden an der Wirbelsäule auf, die typisch sind für Tuberkulose. Doch in großem Ausmaß verbreiten konnte sich TBC erst in den Großstädten. Die Menschen der Steinzeit lebten in kleinen Gruppen zusammen – mehr oder weniger voneinander isoliert.
Erst, als die Menschen sesshaft wurden, so Ruffié und Sournia und sich die Stämme des Mycobakteriums, die im Hausvieh lebten, an den Menschen anpassten, konnte die Tuberkulose endemisch werden und irgendwann epidemisch.
Hippokrates beschrieb genau die Phthisis, wörtlich das „Dahinsiechen“. Husten, blutiger Auswurf und fortschreitender Gewichtsverlust lassen keinen Zweifel, dass es sich um die Lungen-TBC handelte. Bis in das 19. Jahrhundert sahen die Ärzte aber keinen Zusammenhang zwischen der Lungenkrankheit und TBC an den Genitalien oder Lymphknoten.
Eine ansteckende Krankheit
Der italienische Humanist Geralmo Fracastero (1478-1553) erkannte, dass es sich bei TBC um eine ansteckende Krankheit handelt, während die Mediziner zuvor spekulierten, welche Veranlagung zur Schwindsucht führte und dabei tatsächlich Belege fanden, weil besonders „kränkliche“ Menschen an ausgebrochener Lungen-TBC litten.
Fracastero war seiner Zeit auch insofern weit voraus, weil er Mikropartikel als Überträger vermutete, obwohl Bakterien in diesem Zeitalter ohne Mikroskop niemand sehen konnte.
Er schrieb wörtlich: „Dieser infektiöse Urstoff greift von der ursprünglich infizierten Stelle auf feste Körper über, wo er lange Zeit verbleiben und sich erhalten kann, ohne Veränderungen zu erfahren. (…) So kann durch das von einem Schwindsüchtigen getragene Gewand das Leiden noch nach zwei Jahren übertragen werden, und ein gleiches lässt sich von der Kammer, von der Bettstatt, vom Boden, auf dem der Schwindsüchtige verschied, sagen.“
Der Fluch des Fortschritts
Ruffié und Sournia weisen ausdrücklich darauf hin, dass die TBC auch im Mittelalter umging, sehen es aber als wahrscheinlich an, dass sie meist nicht erkannt wurde und langsam zum Tode führte, so dass die „schnellen“ Seuchen in den Fokus rückten, bei denen die Verbindung zwischen Infektion, extremen Symptomen und Sterben offensichtlich ist.
Ihre größte Verbreitung hatte die TBC aber im 18. und 19. Jahrhundert, sie ging dabei einher mit der industriellen Revolution. In den überfüllten, verdreckten und verelendeten Quartieren der Arbeiter, die oft mit 12 Personen in einem einzigen Raum ohne Wasser und Licht vegetierten, konnte sich die Tröpfcheninfektion verbreiten wie ein Lauffeuer.
Die Armen waren zudem durch diverse andere Erkrankungen geschwächt, nahmen kaum Vitamine zu sich, die ihr Immunsystem aufgebaut hätten, und so ging die Tuberkulose oft in den Tod über. Kinder arbeiteten bis zu fünfzehn Stunden am Tag in Bergwerken, Dreck war allgegenwärtig. Die Stadtbevölkerung der Industriezentren vervielfältige sich in wenigen Jahrzehnten, und dieser Zuwachs bestand nahezu ausschließlich aus Lumpenproletariat.
Von den Arbeiterslums versprühten sich die versuchten Speicheltropfen in die gutbürgerlichen Salons. An der Krankheit starben keinesfalls nur junge Menschen, bei denen schockierte sie aber besonders – allerdings nur, wenn sie aus dem Bildungs- oder Besitzbürgertum kamen.
Im Hafenviertel von Liverpool oder unter den Elenden von Paris war es nämlich normal, dass junge Menschen aus dem Leben schieden, vor allem Kleinkinder. Die Bürgerlichen sahen sich aber in der Industrialisierung als Speerspitze der modernen Zeit, und die bürgerliche Fortschrittsideologie versprach, mit Technik alle Probleme der Menschheit zu lösen.
Hier raubte die TBC die Illusionen und sorgte für eine narzisstische Kränkung. Was nützte dem Sohn eines Fabrikbesitzers sein frühzeitiger Reichtum, wenn er starb, ohne von diesem zu zehren? Der Traum platzte für wohl habender Bohemien, die in den Salons über Gott und die Welt diskutierten, wenn blutiger Auswurf ankündigte, bald kein Teil dieser Welt mehr zu sein.
Die Erkrankung führte nie zu dem rapiden Massensterben wie Pest oder Cholera und pendelte sich meist auf einem endemischen Mittelwert ein. Doch diese „ruhigere“ Verbreitung täuscht. Vermutlich starben in der Moderne nämlich mehr Menschen an ihr als an der Cholera.
Ihr schleichender Verlauf sorgte indessen dafür, dass sie nicht als gefährliche Seuche erkannt wurde. Frankreich zum Beispiel führte erst 1964 die Meldepflicht für TBC ein – und da war sie nicht mehr nötig.
Heute lässt sich Tuberkulose in den Griff bekommen. Außer bei Risikogruppen wie AIDS-Kranken ist die Gefahr, an einer TBC zu sterben, gering – wenn sie behandelt wird. Ruffié und Sournia entwarfen aber in den 1990er Jahren für die von TBC heimgesuchten Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika eine düstere Prognose: „Noch lange werden hier Kinder an tuberkulöser Meningitis sterben müsen. Schlechte hygienische Bedingungen und Unterernährung bilden die Hauptfeinde einer Sanierung, die mit der Tuberkulose aufräumen will.“ Ebenso fehlt es an einer allgemeinen Impfung.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat der Kampf gegen die Infektionskrankheit in den Ländern des Südens zwar zu einigen Verbesserungen geführt, und die Zahl der jährlichen Toten halbierte sich. Doch besiegt ist das Dahin Schwinden mit blutigem Auswurf noch lange nicht. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- E.H. Ackerknecht: History and Geography of the Most Important Diseases, New York / London 1965
- Ruffié, Jacques / Sournia, Jean-Charles : Die Seuche in der Geschichte der Menschheit, München, 1992
- Krämer, Sandra: Franz Kafka (1883–1924): Ein Opfer der Tuberkulose, Dtsch Arztebl, 2014, aerzteblatt.de
- Lisson, Marion: Einblicke in die Geschichte der Tuberkulose, Ärzte Zeitung, 2011, aerztezeitung.de
- Helmholtz Zentrum München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH): Tuberkulose Grundlagen (Abfruf: 07.08.2019), lungeninformationsdienst.de
- Bundeszentrale für politische Bildung: Seuchen – gestern, heute, morgen (Abruf: 07.08.2019), bpb.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.