Die Spanische Grippe – Ein Lehrstück des Grauens
Die Spanische Grippe war in Europa die schlimmste Seuche des 20. Jahrhunderts und eine Warnung davor, Grippen als harmlos anzusehen. Die Wissenschaft kommt auf 25 bis 50 Millionen Todesopfer zwischen 1918 und 1920. Das entspricht ungefähr der Pest von 1348, die jeden dritten Menschen in Europa das Leben kostete.
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„Im Jahr 1337 (1918) trat im Najd eine verheerende Epidemie auf, die die Städter und auch die Beduinen heimsuchte. Es starben so viele Menschen, dass nur Gott allein sie zählen konnte.“ Abdallah al-Bassam
Vor allem starben Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Das ist insofern ungewöhnlich, weil die Influenza normalerweise besonders schwer bei Kleinkindern und alten Menschen wütet. Es gibt einen Hinweis, worauf wir in der Grippe-Prävention achten müssen.
Spanische Grippe?
Der Begriff „Spanische Grippe“ liegt daran, dass die ersten Berichte über die Seuche aus Spanien kamen. Im Mai des letzten Kriegsjahres gingen Nachrichten durch Europa, nach denen acht Millionen Menschen an der noch unbekannten Seuche erkrankten.
Die Krankheit hatte ihren Ursprung vermutlich nicht in Spanien, die aktiv kriegsführenden Mächte unterdrückten jedoch die Berichte darüber. In Deutschland kamen im Juni Meldungen über zivile Opfer der Epidemie an die Öffentlichkeit, und die Soldaten wussten längst von der Seuche, die sich „Blitzkartarrh“ oder „Flandern-Fieber“ nannten.
Namen für die Krankheit in den verschiedenen Sprachen belegen, dass sie grenzübergreifend grassierte: Amerikaner sprachen von „three-day-fever“ und „purple death“, englische Soldaten allgemein von „flu“, Franzosen von „la grippe“ und die Italiener vermuteten Sandfliegen als Überträger.
Drei Todeswellen
Im Frühjahr 1918 verlief der Ausbruch ziemlich glimpflich. Ausländische Medien berichteten, dass in Spanien die meisten Infizierten wieder gesund wurden. Ganz anders sah es im Herbst aus: In Preußen und der Schweiz erkrankte jeder zweite Bürger, und 1919 waren die Auswirkungen der dritten Welle zwar weniger schlimm, aber immer noch erheblich.
Wie viele Menschen in dieser zweiten und dritten Welle starben, wird sich nie genau ermitteln lassen. Der Krieg war gerade beendet, in Russland waren die Bolschewiki an der Macht, es herrschte Bürgerkrieg und seriöse Berichte erreichten kaum Europa.
Klar war die Lage bei den Amerikanern: Sie verloren fast so viele Soldaten durch dir Grippe wie durch die Kriegshandlungen. Weitab von Europa, in Indien, starben vermutlich mindestens 16 Millionen daran, wahrscheinlich hatten indische Soldaten der British Army sie in das Land gebracht.
Die Spanische Grippe wirkte wahrscheinlich bei 2,5 % der Infizierten tödlich – bei anderen Grippeeregern ist das nur in maximal 0,1 % der Fall.
Wo entstand die „Spanische“ Grippe?
Der Ursprung der Epidemie ist bis heute unklar. Das liegt vor allem an den Bedingungen des Massensterbens im ersten Weltkrieg. Soldaten aller am Krieg beteiligten Nationen starben täglich an der Front, Zivilisten hungerten und verloren ihr Leben durch diverse Erkrankungen – von Typhus bis zu Tuberkulose. Die Grippekranken im Mai 1918 bekamen daher erstens wenig Aufmerksamkeit, und zweitens fiel es nicht auf, wenn irgendwo im Schützgraben Menschen mit Fieber verendeten.
Frank Macfarlane Burnet, ein Medizin-Nobelpreisträger, sah den Ursprung der Grippe weitab von Spanien – nämlich in dem ländlichen Coutnty Haskell im südlichen Mittelwesten der USA im Bundesstaat Kansas.
Eine neue Form der Grippe
Dort berichtete der Arzt Loring Miner über eine neue Form der Grippe, die oft tödlich verlief. Er wandte sich deshalb sogar an den US Public Health Service, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen. Allerdings veröffentlichte das zum Service gehörende Magazin im Frühjahr 1918 seinen Artikel.
Mindestens drei Erkrankte befanden sich demnach in Camp Fuston der US Army. In dem Lager war der erste Infizierte am 4. März ein Koch, drei Wochen später gab es 1100 Kranke und 38 Tote – bei 56000 Soldaten. Die Betroffen fanden den treffenden Namen „knock-me-down-fever“. Am 18. März erkrankten die ersten belegten Soldaten in Georgia.
„Knock me down fever“
Die amerikanischen Soldaten beschrieben bildlich, dass die Grippe sehr intensiv verlief. Starkes Fieber, heftige Schmerzen in Kopf und Gliedern setzen relativ abrupt ein, steigerten sich rapide und besserten sich meist nach wenigen Tagen. Der Tod setzte bei den betroffenen Soldaten in den USA nicht wegen der Grippe selbst, sondern wegen einer folgenden Lungenentzündung ein.
In den Lagern erkrankten fast 90 % der Soldaten, in Gefängnissen und Fabriken weitete sie sich aus: 1000 Ford-Arbeiter in Detroit erkrankten und 25 % der Häftlinge in San Quentin. Davon starben „nur“ drei.
Die Grippe verbreitete sich zwar schnell, doch die Todesrate war so niedrig, dass sie die Gesundheitsbehörden nicht als Gefahr erkannten.
Wie breitete sich die Grippe aus?
Richtig müsste es also „amerikanische Grippe“ heißen. Medizinhistoriker gehen davon aus, dass amerikanische Soldaten sie in Frankreich einschleppten, wo es bereits im April 1918 die ersten Erkrankten gab. Ende des Monats war die Seuche in Paris angekommen und Anfang April waren dort mehr als 10.000 Menschen vom Virus befallen.
Im Juni schließlich brach die Grippe weltweit aus: In Deutschland, China, Indien und den Philippinen.
Die Grippewelle beeinflusste auch den Weltkrieg. So verloren die deutschen Truppen im Juli 1918 ihre Sommeroffensive in der Champagne vermutlich auch, weil die Seuche grassierte.
Dänemark und Norwegen suchte die Grippe im Juli heim, Holland und Schweden im August, und im September erreichte sie Australien.
Noch galt die Krankheit als harmlos, doch in Louisville in Kentucky starben bereits viele Betroffene – und 40 % der Toten gehörten zum eigentlich immunstärksten Alter zwischen 20 und 35.
Sterben in Amerika, Afrika und Europa
Die relativ milde Welle im Frühling vermittelte eine falsche Sicherheit: Im August verbreitete die Mannschaft des britischen Schiffes HMS Mantua die Seuche in Freetown, Sierra Leone. Zwei Drittel der Einheimischen erkrankten und 3 % von ihnen starben.
In Boston lagen Soldaten seit Ende August danieder, ab September auch Zivilisten. Am 23. September waren in Camp Stevens 2.604 von 35.000 Soldaten erkrankt, an einem einzigen Tag starben 63.
Die katastrophalen Bedingungen in den Militärlagern sorgten für eine rasche Ausbreitung. In den Lazaretten standen in jedem Raum verdreckte Krankenbetten, in den Gängen stapelten sich die Toten. Elementare Hygiene-Standards konnten nicht eingehalten werden.
Eine Quarantäne für aus den USA auslaufende Schiffe scheiterte daran, dass die US-Army keine Verzögerung zuließ, um Soldaten an die Front in Europa zu bringen. Dabei lag die Todesrate unter den Schiffsbesatzungen sogar doppelt so hoch wie an Land. Im September waren mindestens 12.000 Amerikaner an der Grippe gestorben.
Indien, Tansania, Sambia, Mosambik, Staaten Amerikas und des Pazifiks beklagten ebenfalls Tote in Mengen, und im November, als die siegreichen Soldaten zurück kehrten, auch Neuseeland. 8600 Neuseeländer starben, in Samoa verendete jeder fünfte.
In Saudi-Arabien ist sie als apokalyptisches Ereignis ebenso in Erinnerung wie die Pest.
Natives am stärksten betroffen
Nicht nur die Ureinwohner in Neuseeland und Samoa, sondern auch Inuit waren am stärksten von der Grippe betroffen. So erkrankten in Cartwright in Labrador 96 von 100 Inuit, und 26 davon starben, in der Indigenensiedlung Ohak starben 207 von 266. Viele Überlebende verhungerten oder erfroren.
Symptome der Spanischen Grippe
Die Herbstgrippe hatte einige Symptome, die sie aus anderen Grippe-Erkrankungen hervorhoben: Sie verlief äußerst schnell, das Fieber setzte plötzlich ein und stieg innerhalb weniger Stunden stark an, verbunden mit Schüttelfrost und schweren Schmerzen in Kopf und Gelenken. Der Hals und Rachen waren stark gereizt, Hustenanfälle die Folge. Bei manchen Betroffenen blutete die Nase.
Einige Patienten starben nach wenigen Stunden an einer stark blutenden Lungenentzündung, andere entwickelten nach Tagen eine konventionelle Lungenentzündung. Auch sie starben oft.
Blaue Haut
Die Haut färbte sich bläulich, für eine Grippe sehr ungewöhnlich. Dies lag an Sauerstoffmangel.
Wer keine Lungenentzündung entwickelte, starb in der Regel nicht. Allerdings litten sie mehrere Wochen an Abgeschlagensein und starker Müdigkeit. Auch Depressionen waren weit verbreitet.
Die dritte Welle verlief insgesamt schwächer, und in verschiedenen Teilen der Welt kam es zu weiteren „Nachbeben“, die sich aber im jahreszeitlichen Ablauf der üblichen Grippewellen gelegten und nicht im gleichen Ausmaß tödlich wirkten.
Ärzte tappen im Dunklen
Typisch für die „spanische Grippe“ war also ihr schneller und heftiger Verlauf sowie die blutige Lungenentzündung in der Folge und die hohe Rate an Toten. Deshalb dachten manche Ärzte am Anfang, dass es sich überhaupt nicht um Grippe handelte.
Manche Wissenschaftler sahen eine neue Form der Lungenpest am Werk, und die blutige Lungenentzündung sprach ebenso dafür wie das Massensterben. Erst 1933 allerdings waren Grippeviren isoliert und als Erreger erkannt.
Eine biologische Waffe?
Verschwörungsfantasien breiteten sich aus, die meist den jeweiligen Kriegsgegner verdächtigten, die Seuche verbreitet zu haben. So sollten Deutsche spanische Konserven vergiftet und so die Grippe verbreitet haben. Amerikaner glaubten, deutsche Agenten hätten Fisch kontaminiert, den die amerikanischen Soldaten dann gegessen hätten.
Philipp Doane vom „Health and Sanitation Section of the Emergency Fleet Corporation“ verkündete: „Für deutsche Agenten wäre es ganz einfach, den Krankheitserreger in einem Theater oder einem anderen Ort, wo viele Menschen versammelt sind, freizusetzen. Die Deutschen haben Epidemien in Europa gestartet. Es gibt keinen Grund, warum sie mit Amerika behutsamer umgehen sollten.“
Solche Theorien waren weniger waghalsig als die Fantasien heutiger Esoteriker, die glauben, dass die Kondensstreifen aus Flugzeugen Chemtrails seien, um die Menschen zu vergiften: Senfgas hatte unzählige Tote gefordert, und die deutsche Heerführung hatte biologische Waffen eingesetzt.
Sie wollte sogar Pesterreger gegen die Briten einsetzen, und deutsche Agenten verübten Anschläge mit Milzbrand gegen Pferde, Schafe und Rinder, sowie im Tierfutter in Rumänien, Spanien, Argentinien, den USA, Norwegen und dem Irak.
Spucken verboten
In Kanada galt die Empfehlung, Menschenmassen zu meiden, Mund und Haut gründlich zu waschen und die Kleidung zu reinigen. Handtücher, Besteck und andere Gegenstände, die andere Menschen benutzt hatten, sollte man meiden.
Diese auch aus heutiger Sicht sinnvollen Ratschläge gingen einher mit eher hilflosen Hinweisen. So sollte man keine engen Schuhe, Handschuhe und Hemden tragen, morgens ein Glas Wasser trinken und das Essen gut durchkauen.
In den USA galten Eukalyptus und Feigen als Heilmittel, in New York wurde es verboten, auf die Straße zu spucken.
In Europa galt die Spanische Grippe als Krankheit, die sich im Krieg verbreitet hätte wie zum Beispiel Fleckfieber, doch das war eine Fehlinterpretation: Denn nicht nur durch die Verhältnisse geschwächte Soldaten waren betroffen, sondern besonders gut ernährte Menschen in der Blüte ihrer Jahre.
Was war die Ursache?
Zu den Merkwürdigkeiten der Spanischen Grippe gehörte, dass insbesondere 25 bis 29 Jahre alte Menschen betroffen waren, und, in einem weiteren Zirkel 20 bis 40jährige.
Der Evolutionsbiologe Worobey erforschte diesen Umstand an der University of Arizona. Der Wissenschaftler aus Tucson schrieb in den „Proceedings of the National Akademy of Sciences“: Der Verlauf und die Schwere einer Grippewelle hänge wesentlich davon ab, mit welchen Erregern die Menschen als Kinder Kontakt gehabt hätten.“
Dabei verändern sich Grippe-Erreger sehr schnell, und es gibt sie vielen Varianten.
Vogel- und Menschengrippe
Worobey und sein Team rekonstruierten, wie der H1N1 Erreger zur Zeit der Todeswellen mutierte und verglichen dies mit H1N1 Viren späterer Zeit sowie der Schweinegrippe 200. Ihr Fazit: Die Spanische Grippe entstand im Winter 1917 aus einer Verbindung eines Vogelgrippe-Erregers mit einem menschlichen H1-Virus.
Ältere nicht vorbereitet
Worobey schloss: Ältere und Jüngere seien mit dem H1-Typ in Berührung gekommen, die jungen Erwachsenen jedoch nicht. Stattdessen hätten sie sich als Kinder mit einem anderen Grippevirus, nämlich H3N8 infiziert.
Wer Antikörper gegen das Protein H 3 habe, der hat demzufolge noch lange keine Abwehr gegen H 1N1.
Nicht Aggressivität, sondern Immunsystem
Entscheidend für den lethalen Verlauf sei demnach nicht eine besondere Aggressivität des Virus, sondern die fehlende Immunabwehr gewesen. Dazu passe auch, laut Worobey, dass viele Patienten an den folgenden Lungenentzündungen starben.
Und, so lässt sich ergänzen, es erklärt auch die hohe Sterblichkeit unter Inuit und Maoris: Die waren nämlich mit dieser Variante des Grippevirus noch nie in Kontakt gekommen.
Lehre für heute
Bei Grippewellen unserer Zeit starben an H5N1 besonders junge Menschen, an H7N9 vor allem Alte. Beide seien jeweils gegen bestimmte Grippestämme (teil-)immunisiert worden, gegen andere aber nicht. Es gehe also um eine bereits in früher Zeit entwickelte Immunität.
Neue Impfstrategien
Worobeys Fazit lautet: Grippeimpfung allein reicht nicht aus, um Todesfälle zu vermeiden. Die Impfstoffe müsste einbeziehen, welche Generation mit welchem Erreger in Kontakt kam.
Das sei der maßgebliche Aspekte, wie verheerend Grippewellen sich ausbreiten könnten. Worobey schreibt: ““Impfstrategien, die den anscheinend mächtigen Lebenszeit-Schutz eines Kontakts in der frühen Kindheit nachahmen, könnten die Sterblichkeit sowohl durch saisonale als auch durch neue Stämme drastisch senken.”
Eine Warnung
Die Spanische Grippe ist nicht nur ein Lehrstück für die Entwicklung von Impfstoffen, sondern auch eine Warnung. Grippe setzen „Normalbürger“ oft gleich mit einem grippalen Infekt, der in Herbst und Winter fast dazugehört, und zwar unangenehm ist, nach einigen Tagen Fieber, Kopfschmerzen und Bettruhe aber wieder vorbei.
Eine tödliche Krankheit
Grippevarianten sind jedoch schnell tödliche Erreger und nicht weniger gefährlich als große Seuchen wie Typhus oder Cholera.
Die Opfer der Spanischen Grippe starben vermutlich nicht, weil der Krieg sie ausgezehrt hatte, die hygienischen Verhältnisse erbärmlich waren, sie sich nicht wuschen etc., sondern weil sie keine Immunkörper gegen eine spezifische Mutation eines Grippe-Erregers entwickelt hatten.
Das bedeutet: Eine neue Variante eines Grippe-Erregers könnte uns heute Lebenden genau so treffen wie unsere Vorfahren. Nicht nur neue Impfstoffe sind deshalb nötig, sondern auch, sich mit diesen Impfstoffen vor der Epidemie zu schützen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Maybaum, Thorsten: Spanische Grippe: Ein Virus – Millionen Tote, Medizin studieren, 2018, aerzteblatt.de
- Salfellner, Harald: Die Spanische Grippe: Eine Geschichte der Pandemie von 1918, Vitalis, 2018
- Stanford University: The Influenza Pandemic of 1918 (Abruf: 12.08.2019), web.stanford.edu
- Centers for Disease Control and Prevention: 1918 Pandemic (H1N1 virus) (Abruf: 12.08.2019), cdc.gov
- National Geographic: Inside the Swift, Deadly History of the Spanish Flu Pandemic (Abruf: 12.08.2019), nationalgeographic.com
Wichtiger Hinweis:
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