Verbitterung- Wenn Menschen nicht mehr glücklich werden
Ein verbitterter Mensch ist ein unglücklicher Mensch. Wer verbittert ist, den haben negative Geschehnisse in seinem Leben so gekränkt, dass er sich als hilfloses Opfer ansieht und nicht in der Lage ist, das Geschehene zu bewältigen. Die Betroffenen interpretieren ihren gegenwärtigen Zustand als Konsequenz aus diesem Geschehen, empfinden es als ungerecht und reagieren extrem emotional, wenn es um diesen Auslöser geht. Oft geht es dabei nicht nur einen Einschnitt, sondern um einen Prozess, in dem sich viele kleinere und größere Kränkungen addieren.
Inhaltsverzeichnis
Zynismus, Resignation und Aggressivität
Für einen klinisch verbitterten Menschen stellt die negative Erfahrung sein vergangenes Lebenswerk in Frage. Er wird zynisch, sein Zustand ist zugleich resigniert und aggressiv. Obwohl er konkrete Schuldige an seiner Situation fest macht und gegen diese zetert, fehlt ihm zugleich der Antrieb, selbst etwas zu tun. Er schwankt zwischen Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfen. Hinzu kommen Phobien, Paranoia, häufig geraten die Betroffenen in den Strudel von Verschwörungsfantasien. Viele klinisch Verbitterte entwickeln eine handfeste schwere Depression, die sich indessen nach außen entlädt.
Kränkung und Verbitterung
Jeder Mensch erlebt in seinem Leben Kränkungen, kleine und große. Die narzisstische Kränkung gehört sogar elementar zur Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit. Das bedeutet, dass das Kind „verletzt“ ist, weil die Welt anders aussieht als in seinen Wünschen. Eine gesunde Entwicklung verläuft so, dass der Mensch seine Wünsche jetzt an die äußere Wirklichkeit anpasst und so seinen Platz in der realen Außenwelt findet, die vollkommen unabhängig von seiner psychischen Innenwelt existiert.
Ein Mensch, der das nicht schafft, kann eine narzisstische Störung entwickeln, in der er aus seinem verletzten Kindheits-Selbst heraus Fantasien über sich selbst entwirft und immer neue Muster seiner vermeintlichen Grandiosität entwirft. Innerlich fühlt er sich in Wirklichkeit leer und hilflos und verdrängt dies dadurch, dass er die Fiktionen über sich selbst immer aggressiver vertritt.
Biologisch bedingt
Alltägliche Kränkungen gehören zu unserem evolutionären Erbe. Als soziale Wesen brauchen wir die Anerkennung anderer Menschen für das, was wir tun und auch für die Werte und Weltentwürfe, die wir im Gedächtnis als Lebenspraxis abspeichern. Wenn wir gekränkt sind, bedeutet das, wir sind in unserer Selbstachtung, unseren Gefühlen, unseren Werten oder unserer Identität verletzt. Es handelt sich um einige der wirkmächtigsten Affekte in menschlichen Kulturen: Mord aus nicht erwiderter Liebe; Kriege, um eine „Schmach“ zu sühnen; Blutrache über Generationen, deren Ursache eine Beleidigung war haben alle gemeinsam, dass ihnen eine Kränkung zu Grunde liegt.
Ein „normales“ Gefühl
Bitterkeit ist erst einmal eine Reaktion auf eine schwierige Situation, so wie Flucht oder Angriff. Ein Kind kann sich nicht wehren, wenn es etwas tun soll, was die Mutter verlangt. Also tut es das, aber schmollt. Es fantasiert jetzt darüber, es der Mutter heimzuzahlen: „Wenn ich tot bin, dann weiß sie, was sie gemacht hat“. Pathologische Verbitterungen stellen sich ein, wenn dieses Verhalten chronisch wird.
Rache ist süß?
Chronisch Verbitterte profitieren keinesfalls davon, wenn sie ihre Rachefantasien in die Tat umsetzen. Das Erlebte bleibt nicht ungeschehen, und der Betroffene gewinnt keine Perspektive für sein Leben. Im Gegenteil: Zum Kränkungstrauma gesellen sich jetzt Gefühle von Schuld und Scham.
Kränkungen sind alltäglich
Anlässe dafür, gekränkt zu sein, gibt es viele: Die Frau meines Herzens bevorzugt meinen besten Freund; ich werde gekündigt, obwohl ich mich im Job engagiert habe; weniger begabte Kommilitonen machen Karriere, während ich auf der Strecke bleibe; ich lade einen Freund zum Essen ein, stehe den ganzen Tag in der Küche, und er kommt nicht. Es kränkt, wenn Menschen mich anlügen, denen ich vertraue, ebenso wie wenn sich jemand die renovierte Wohnung auf die Fahnen schreibt, obwohl er World of Warcraft gespielt hat, während ich die Fliesen legte.
Kränkung kann auch aus interkulturellen Missverständnissen und, schlimmer, aus Ignoranz kommen.
Kränkungen verarbeiten
Viele Menschen können alltägliche Kränkungen verarbeiten. Dazu gibt es viele Wege: Wir können die Situation offen mit anderen besprechen, zeigen, dass sie uns verletzt hat. Oder wir „sitzen sie aus“: Der Deutschlehrer, der meine Beiträge im Unterricht notorisch lächerlich macht, wird mich nicht ein Leben lang begleiten, an die Stelle des Ex-Freundes, der uns sitzen gelassen hat, kommt ein neuer Partner.
Manche Menschen haben ein „dickes Fell“. Sie lassen sich auch von gezielten Beleidigungen und Ehrverletzungen nicht aus der Fassung bringen, sondern konzentrieren sich stattdessen auf ihre Projekte. Dieser Weg ist oft erfolgreich.
Bei anderen überdecken positive Erfahrungen die Kränkungen. Wenn „Freunde“ hinter ihrem Rücken schlecht über sie reden, gleichen das andere Freunde, auf die sie sich verlassen können, wieder aus. Die verletzenden Sprüche des einen Lehrers werden durch das faire Verhalten eiens anderen wieder ausgeglichen.
Doch bisweilen können Menschen mit Kränkungen nicht umgehen, die kränkenden Geschehnisse brennen sich in ihrer Psyche ein – sie verbittern. Jetzt sitzen sie im Gefängnis. Das kränkende Erlebnis bleibt bestehen, die Betroffenen kreisen ständig darum. Sie machen andere dafür verantwortlich, den Ehepartner, den Chef, die Freunde. Sie leiden und finden keinen Ausweg aus dem Leid.
Wer ist gefährdet?
Verbitterungen entstehen, wenn unsere „basic believes“ erschüttert werden. Je starrer also dieses Korsett aus Werten und Normen ist und je ausschließlicher wir unser Leben darauf ausrichten, umso tiefer ist die Verletzung, wenn es nicht greift. Engstirnige Menschen mit einem eingeschränkten Rahmen, in dem sie ihr Berufs- und Privatleben organisieren, sind einem hohen Risiko ausgesetzt, an Verbitterung zu erkranken, wenn dieser soziale Käfig zerbricht.
Typische Leitbilder sind „Leistung wird belohnt“, „Eheliche Treue bis in den Tod“, „Jeder bekommt, was ihm zusteht“, „wer hart arbeitet, kommt zum Erfolg“, „Im Leben gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit“.
Der treue Angestellte, der nur für seine eine Firma lebt, steht im Nichts, wenn ihm nach 30 Jahren gekündigt wird, ohne, dass ihn die Schuld trifft. Der gläubige FDJ-Sekretär stand 1990 im Nichts, als es „seine DDR“ auf einmal nicht mehr gab. Die frühzeitig verheiratete Frau, die die eigene Karriere für die Ehe und die Kinder aufgab, hat keine Optionen, wenn der Gatte sie verlässt.
Weltoffenheit als Medizin
Ein starres Gerüst aus Werten und Normen erhöht das Risiko für Verbitterungen massiv. Kritisches Denken, Weltoffenheit und interkulturelle Erfahrungen sind hingegen gute „Arzneien“, um dieser Störung vorzubeugen. Wer einen Plan B im Kopf hat, sein Leben auf mehrere Säulen stellt, der gerät weniger in Gefahr zu verbittern als jemand, der einseitig ausgerichtete Vorstellungen davon, wie „die Welt sein soll“ zur Basis seines Lebens macht.
Verbitterung als psychische Krankheit
Verbitterte Menschen gelten gemeinhin als sozial unverträglich. Sie fallen anderen zur Last, weil sie auch ihren Mitmenschen keinen positiven Input geben. Sie wirken selbstmitleidig und passiv-aggressiv. Sie nörgeln, ohne sich an konstruktiven Lösungen ihres Problems zu beteiligen. Salopp gesagt: Sie reißen andere psychisch runter.
Kaum bekannt ist indessen, dass Verbitterung sich zu schweren psychischen Erkrankungen entwickeln kann. Verbitterung ist psychisch zerstörerischer als eine reine Depression oder Angststörung.
Kein Vergeben
Ein verbitterter Mensch kann anderen, die ihn real oder vermeintlich verletzten, nicht vergeben. Das ist auch für ihn ein Riesenproblem, denn Vergeben bedeutet auch, Wunden zu schließen. Da der Betroffene aber anderen Menschen die Schuld an seinem Leid gibt, macht er sich selbst zum passiven Opfer, und die daraus resultierende Unfähigkeit, zu handeln, dehnt sich auch Lebensbereiche aus, die mit der ursprünglichen Kränkung gar nichts zu tun haben. Der pathologisch Verbitterte macht schließlich sein eigenes Leben von der erlittenen Schmach abhängig und tut nichts, um sein eigenes Leben zu verbessern.
Tickende Zeitbomben
Betroffene können den Ausbruch ihrer Gefühle nicht kontrollieren. Sie fühlen sich mit dem Rücken zur Wand und Gefühlsausbrüche sind der hilflose Versuch, die Kontrolle wieder zu gewinnen. Trotz mischt sich mit Ohnmacht, Wut mit Resignation, Rachenfantasie mit Autoaggression. Am Ende kann Mord oder Suizid stehen. Jeder dritte Patient mit einem Kränkungstrauma entwickelt konkrete Fantasien, um die „Bösewichte“ zu bestrafen.
Die Betroffenen isolieren sich zudem sozial. Sie leben in einer psychischen Hölle.
Keine bewusste Entscheidung
Die Verbitterung führt dabei immer tiefer in einen Irrweg. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr lässt sich grübeln, wer wann wie boshaft zu mir war, ohne dass mich das im geringsten weiterbringt – im Gegenteil. Statt die Wunden der Psyche zu heilen, streue ich immer wieder Salz hinein.
Menschen, die an tiefer Verbitterung erkranken, verstehen nicht mehr, dass Versöhnung ebenso ein bewusster Prozess ist wie „offene Rechnungen“ zu haben. Dabei wäre es bereits der erste Schritt zur Heilung zu begreifen, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelt – ganz egal, wie diese ausfällt.
Auch sich klar darüber zu werden, welcher Mensch mich warum, wie und wann verletzt hat, ohne ihm zu vergeben, kann bereits aus der Verbitterung führen. Sich Rache vorzubehalten und im Hier und Jetzt das eigene Leben wieder aufzubauen, ist bereits ein konstruktiver Prozess.
Merkmale von Verbitterung
Verbitterung zeigt sich als als fiktive Bestrafung des Aggressors durch Akte der Selbstzerstörung: „Ich bringe mich um, vielleicht merkt ihr dann, was ihr getan habt“. Dieses Selbst zerstören läuft auch schleichend durch Beschädigungen im eigenen Leben, um es „denen“ zu zeigen.
Typisch für Störungen, die sich in Folge einer Verbitterung entwickeln, sind Selbstzweifel, fehlender Appetit, Lustlosigkeit und Schlafprobleme. Dazu kommt ein tiefes Gefühl der Ohnmacht.
Die Verbitterten müssen das auslösende Geschehnis zwanghaft im Geist wiederholen und von einer ernsten psychischen Störung müssen wir dann ausgehen, wenn sie aus diesem Käfig ohne professionelle Hilfe nicht heraus kommen. Ob sie wollen oder nicht, die Erinnerung ist ständig im Kopf der Betroffenen. Sie vergraben sich in ihrem Unglück und zementieren eine Trotzhaltung.
Verstehen
Bewusst oder unbewusst weigern sie sich, die andere Seite zu verstehen. Verstehen bedeutet dabei nicht notwendig akzeptieren oder Freundschaft schließen, es meint erst einmal nur einen Perspektivwechsel, um aus Sicht des Anderen nachzuvollziehen, was dieser getan hat.
Dabei muss es gar nicht darum gehen, den anderen von einer Schuld frei zu sprechen. Aber wenn ich die Motive der „Bösewichte“ verstehe, kann ich mein eigenes Leben von den traumatisierenden Geschehnissen trennen und für die Zukunft daraus lernen.
Der Verbitterte jedoch klagt erstens andere an und macht sich zweitens Selbstvorwürfe, richtet seinen Energie aber nicht mehr darauf, aus schlechten Erfahrungen zu lernen. Mehr noch: Er blockiert sein Leben dadurch, dass er auf immer in dem Geschehnis gefangen bleibt, während die Gesellschaft um ihn herum sich immer weiter von ihm selbst entfernt.
Im Mittelpunkt des Lebens
Verbitterung bedeutet Hoffnungslosigkeit und Tunnelblick. Sämtliche Lebensbereiche sind davon betroffen, tragischerweise auch solche, die mit dem Geschehnis nichts zu haben. Ein Merkmal dafür ist, dass sie das Lebenszentrum der Patienten trifft.
Um sich davor zu schützen, ist es wichtig, sich vielfältige Lebensoptionen offen zu halten, denn Kränkungen führen besonders dann zu Verbitterung, wenn sie sich in dem Lebensbereich abspielen, in den wir die meiste Energie, die größte Leidenschaft und die intensivsten Gefühle investieren.
Ein typischer Bereich für Verbitterung ist der Beruf. Zum Beispiel kann das auslösende Geschehnis für einen Politiker sein, durch parteiinterne Intrigen abgesägt zu werden. Seine Jugend verbrachte er damit, bei jedem Wetter auf Parteiständen Broschüren zu verteilen und beim Straßenfest die Bratwürste zu wenden; statt am Baggersee saß er im Sommer auf Kreistagssitzungen und in Arbeitsgruppen. Er kaute das Graubrot der Kommunalpolitik, und bei der entscheidenden Wahl zum Kandidaten für die Landtagswahl wurde er rausgetrickst.
Im Ernstfall suchen sich solche Betroffenen keine alternativen Felder oder starten einen Neuanfang, sondern verbittern. Sie ziehen sich aus der Politik zurück, bleiben an dem Geschehnis hängen, verallgemeinern es nach dem Motto „Politik ist ein dreckiges Geschäft, und der Mensch ist von Grund auf schlecht“.
Verbitterung kann sich auch in sozialen Beziehungen entwickeln. Nehmen wir eine Frau, die Jahrzehnte ihres Lebens investiert, um eine gute Mutter zu sein. Sie fördert ihre Kinder, wo sie nur kann, hat kaum ein eigenes Leben, denkt immer zuerst an ihre Sprösslinge und dann an sich, richtet ihr ganzes Leben darauf aus, dass es den Kindern gut geht. Dann klaut der 18jährige Sohn das Tafelsilber und verschwindet. Sie erleidet einen Unfall, sitzt im Rollstuhl, und die inzwischen erwachsene Tochter kommt sie nicht einmal besuchen. Die Betroffene hat das Gefühl, dass ihre Lebensleistung als Mutter nichts wert war. Sie fragt sich ständig „Was habe ich falsch gemacht“ und wacht nachts auf mit Hass auf ihre Kinder.
Wie helfen?
Betroffene verlieren soziale Kontakte. Keiner möchte auf Dauer eine Beziehung zu jemand pflegen, der immer nur vom eigenen Leid erzählt, Vorwürfe macht und immer wieder die gleichen traumatischen Geschichten erzählt, ohne dass die Freunde und Bekannten damit irgend etwas zu tun haben.
Für den Verbitterten spitzt sich die Lage jetzt zu. Ohne Kontakte zu anderen Menschen, die ihm positiven Input geben könnten, verliert er sich immer mehr in seinem Labyrinth aus Vorwürfen, Unglück und Einsamkeit. Sie empfinden jetzt alles, was in der Außenwelt geschieht als gegen sich gerichtet. Diese extreme Empfindlichkeit ist für Mitmenschen schwer auszuhalten, am meisten leiden aber sie selbst darunter.
Die körperlichen Folgen sind ähnlich denen einer Depression. Die Betroffenen vernachlässigen die eigene Gesundheit, sie sind stark suchtgefährdet, sie werden übergewichtig, und das Risiko für klassische Erkrankungen als Folge psychischer Belastungen und ungesunder Lebensweise folgen – von Bluthochdruck bis zum Herzinfarkt.
Soziale Folgen
Der Zustand führt dazu, dass sich die Betroffenen Lebensperspektiven verbauen. Ein Mensch, der verbittert ist, weil er seinen Arbeitsplatz verloren hat, kreist um das reale oder vermeintliche Unrecht, sucht sich aber keinen neuen. Kommt er doch in die Gelegenheit, eine neue Stelle anzutreten, stört seinen neuen Chef das Kreisen um das vergangene Geschehen, das nichts mit der neuen Arbeit zu hat, vermutlich so sehr, dass er gleich wieder hinaus geworfen wird.
Zusätzlich zu seinen eigenen Blockaden handelt sich der Verbitterte einen Ruf ein, der ihn aus beruflich und sozial erfüllenden Beziehungen ausgrenzt. Wenn sich Bekannte von ihm zusammen schließen, um ein neues Projekt zu starten, werden sie nicht den „Nörgler“ einbeziehen, der „alles kaputt macht“.
Immer tiefer in den Abgrund
Die mit der Verbitterung verbundenen Verhaltensweisen machen es dem Betroffenen zunehmend unmöglich, beruflich wieder Fuß zu fassen – auch und gerade dort, wo er sich auskennt. Mit jemandem, der ständig klagt, dass doch alles „sowieso keinen Sinn hat“, der die Hoffnung auf positive Entwicklung verloren hat, Menschen mit einer positiven Sicht gar als „naiv“ abwertet, möchte niemand eine Firma gründen, egal, wie gut dieser Mensch fachlich ist.
Bei privaten Beziehungen sieht es ähnlich aus. Der Ex-Gatte, dessen Frau mit dem besten Freund durchgebrannt ist findet keine neue Partnerin. Stattdessen plagt er sich mit Vorwürfen gegen seine verschwundene Ehefrau, ertrinkt in Rachefantasien und bleibt allein.
Wer verbittert ist, der erstarrt.
Die posttraumatische Verbitterungsstörung
Verbitterung ist erst in jüngster Zeit als psychiatrisches Syndrom anerkannt, mit dem komplizierten Namen „Posttraumatische Verbitterungsstörung“. Der Begriff benennt die Ursache dieses Zustandes in diesem klinischen Sinn.
Die Ursache der Störung ist eine traumatische Erfahrung, was auch erklärt, dass die Betroffenen wie bei anderen Traumatisierungen das mit dem Trauma verbundene Ereignis wieder und wieder im Gedächtnis durchspielen müssen.
„Nörgelossis“ – ein psychiatrisches Syndrom?
Verbitterung als psychische Störung untersuchten Ärzte nach der Wiedervereinigung. Es gibt ein Klischee vom „Nörgelossi“, der sich immer als Opfer ansieht, selbst nichts tut, um an seiner Situation etwas zu ändern und allem und jeden, der DDR wie dem Westen den Schuld an seiner persönlichen Misere gibt.
Dieses Klischee hat auch einen ernsten Hintergrund, und der zeigt sich bisweilen in psychiatrischen Kliniken. Dorthin kamen in den 1990er Jahren immer mehr Ostdeutsche – auf Dauer krank geschrieben, mit unterschiedlichen oder keinen Diagnosen. Die meisten von ihnen meinten, Anspruch auf eine Rente zu haben.
Diese ostdeutschen Patienten hatten vieles gemeinsam: Sie sahen sich als Opfer, wollten sich deshalb nicht helfen lassen, schwankten zwischen Aggressivität und Resignation, Rachefantasien und Selbstzerstörung.
Das Team des Psychiaters Michael Linden erkannte ein neues psychiatrisches Syndrom – die Posttraumatische Verbitterungsstörung. Als Störung unterscheidet sie sich massiv vom bloßen „Nörgelossi“, der „Jammerliese“ oder dem „Meckerfritze“.
Die Betroffenen sind keine psychisch Stabilen mit einer negativen Einstellung zur Umwelt, sondern ihr Zustand verbindet Depression mit Kränkung. Ihr Verhalten entspricht auch dem anderer Traumatisierter – sie vermeiden den Ort, der sie mit dem Geschehnis erinnert wie ihren ehemaligen Arbeitsplatz, sie wirken bedrückt und werden aggressiv, wenn sie über das Geschehene erzählen. Wie andere Traumatisierte gibt es Trigger, die eine Flut negativer Gefühle auslösen, die mit dem Trauma verbunden sind.
Die Verbitterungsstörung ähnelt der Posttraumatischen Belastungsstörung. Doch das Krankheitsbild weicht ab. Die Belastungsstörung wird vor allem durch reale oder empfundene Bedrohungen des Lebens hervorgerufen und zeichnet sich vor allem durch Angststörungen aus; die Verbitterungsstörung entsteht durch psychische Verletzungen.
In Deutschland leiden unter dieser vermutlich bis zu 4 % der Menschen. Von der WHO ist sie noch nicht als Krankheit anerkannt.
Persönliche und soziale Krise
Die Verbitterungs-Störung speziell bei Ostdeutschen war kein Zufall. Viele Menschen in der ehemaligen DDR waren verletzt, weil eine Jahrzehnte währende Erwerbsbiografie mitsamt der darum entworfenen sozialen Identität von einem Tag auf den anderen nichts mehr zählte.
Helmut Kohl versprach ihnen „blühende Landschaften“ so wie die DDR-Bonzen zuvor ein „Paradies der Werktätigen“. Stattdessen verloren sie ihren Job, flogen aus ihren Wohnungen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten und fühlten sich in jeder Hinsicht betrogen.
Die darauf folgende Verbitterung grassiert ebenso unter Hartz-IV-Opfern im Westen Deutschlands, die sich oft nach vielen Jahren Arbeit als Entrechtete hin- und hergeschoben sehen, wie es den Jobcentern und Lohndrückern gerade in den Kram passt.
Generell häufen sich Verbitterungen im Sinne von Kränkungsdepressionen nach gesellschaftlichen Veränderungen. In der Schweiz zum Beispiel stieg die Anzahl der Patienten nach der Finanzkrise 2008: Menschen empfinden ihre Kündigung als ungerecht und können sie nicht verarbeiten.
Allerdings können auch Naturkatastrophen zu Kränkungsdepressionen führen. So entwickelten Menschen, deren Häuser durch Elbhochwasser zerstört wurden, diese Symptome. Zum einen trifft es sie unverschuldet, zum anderen machen sie die Regierung, die Katastrophenschutzdienste oder die Nachbarn dafür verantwortlich, dass die Katastrophe einen solchen Schaden anrichtete.
Verletzung anderer
Wie bei einer Kündigung oder dem Ende einer Beziehung, bedeutet Verbitterung hier, dass die Betroffenen sich als Opfer sehen und nicht begreifen, dass sie sich selbst helfen können. Wenn jemand ihnen diese Option zeigt, reagieren sie ihm gegenüber aggressiv und verletzen diejenigen, die ihnen konstruktive Wege aus der Krise zeigen.
Für sein soziales Umfeld wird er zur Belastung. Er ist unerträglich für sich selbst und unerträglich für andere. Sieht er das Freunde ein glückliches Leben führen, macht er es schlecht. Bald hat er den Ruf, ein „Stänkerer“ zu sein: Er „verpestet die Luft“, wenn andere sich wohl fühlen.
Erzählt der Sohn von seinem neuen Job, von den freundlichen Kollegen und der guten Atmosphäre, interveniert der Verbitterte und sagt „du wirst dich noch wundern“. Schwärmt die Tochter von ihrer neuen Liebe, kommentiert er „Scheidung wird teuer“.
Er sieht sich selbst als Opfer, wird aber übergriffig bei anderen. Er ist tief verletzt und verletzt andere. Irgend wann möchte niemand mit ihm noch etwas zu haben.
„Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange den Zorn festhält, er verschließt die Erregung in seinem Inneren und hört erst damit auf, wenn er Vergeltung geübt hat… Diese Art von Menschen ist sich selbst und den engsten Freunden eine schwere Last.“ Aristoteles
Gefahr für sich und andere
Die Rachefantasien des Betroffenen nerven nicht nur, sie können für Mitmenschen zur realen Gefahr werden. Um ihn zur Aggressivität zu reizen, reicht es, wenn jemand den Kranken auch nur entfernt an sein Trauma erinnert – vollkommen unabhängig von dem Objekt der Rache selbst. Es reicht, wenn ein Mensch erfolgreich in einem Job arbeitet, der dem ähnelt, aus dem der Verbitterte gekündigt wurde, um diesen Menschen als „Verräter“ anzugreifen. Meist wissen die Opfer nicht einmal, warum er sich sich auf sie „einschießt“.
Nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse anderer, ist therapeutische Hilfe geboten. Verbitterte sind tickende Zeitbomben – nicht nur Selbstmord, sondern auch Amok laufen können eine Folge der Verbitterung sein.
Therapie
Verbitterte sind schwierig zu therapieren. Der Leidensdruck ist zwar hoch, was generell die Bereitschaft erhöht, sich in Therapie zu begeben, aber die Einsicht fehlt. Zu den Symptomen einer Verbitterungsstörung gehört gerade, dass die Betroffenen unfähig sind, selbst an ihrem „Schicksal“ etwas zu ändern oder ändern zu wollen.
Einer der wenigen Wege, ihnen zu helfen, ist die Weisheitstherapie. Hier geht es darum, die psychischen Fähigkeiten zu entwickeln, um Lebenskrisen zu meistern. Es geht um genau die Fähigkeiten, die den Patienten fehlen.
Empathie und Toleranz
Empathie und Toleranz helfen zum Beispiel, das Handeln anderer Menschen zu verstehen. Verständnis, auch das müssen die Patienten lernen, bedeutet nicht gleichzeitig Entschulden. Ein Opfer-Täter-Ausgleich, in dem sich Opfer und Täter eines Delikts wie Körperverletzung zum Beispiel im Beisein eines Therapeuten zusammen setzten, dient nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer. Dessen Handeln zu verstehen, macht nicht das Verbrechen gut, befreit das Opfer aber von lähmender Ratlosigkeit.
Verbitterung bedeutet nicht mehr lachen zu können außer aus Schadenfreude. Humor schafft hingegen eine emotionale Distanz zum Geschehen und ermöglicht dadurch einen Freiraum für den Betroffenen, der ihm neue Perspektiven eröffnet. Das abgegriffene Sprichwort „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, bringt das auf den Punkt.
Empathie bedeutet sich einzufühlen. Wichtig ist der Wechsel der Perspektive. Wie hätte ich gehandelt, wenn ich der Arbeitgeber, der „Verräter“ gewesen wäre. Wenn einem Menschen in der Fantasie „nichts Menschliches fremd ist“, fällt es leichter, das eigene Missgeschick loszulassen. Pathologisch Verbitterte zeigten in Studien auffallend weniger der „Weisheitskompetenzen“ als nicht Verbitterte.
Narzisstische Verbitterung
Verbitterung hat nicht nur mit objektiven Krisen zu tun wie dem Verlust des Arbeitsplatzes oder dem Scheitern einer Beziehung, sondern auch mit dem narzisstischen Kreisen um irreale Konstruktionen eines grandiosen „Ich“. Diese werden in der neoliberalen Propaganda leider zum alleingültigen Wert, der immer mehr Menschen in die Sackgasse ihrer eigenen Wunschvorstellungen laufen lässt.
Leidet ein solcher Mensch an einer Verbitterungsstörung, weil die Welt nicht dafür da ist, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, ist es sehr schwer, ihn aus dieser Sackgasse heraus zu holen. Solch ein Mensch wird unter Umständen eher mit 40 als Folge von Alkohol- und Drogenmissbrauch im Grab liegen als einzugestehen, dass er nicht so großartig ist, wie er sich darstellt.
Falls er doch einen Funken Bereitschaft zeigt, seine durch falsche Fantasien entstandene Verbitterung zu bewältigen, kann er in der Therapie lernen, dass die Welt ihm nichts schuldet, es also insofern auch keinen Schuldigen gibt und er kein Opfer ist.
Perspektivwechsel
In der Weisheitstherapie dienen Rollenspiele dazu, die Verkrustung der Betroffenen aufzubrechen. So sprechen Therapeut und Patient über fiktive Situationen, die mit dem Kernproblem zu tun haben. Die Patienten nehmen jetzt die Rolle der „Bösewichte“ ein.
Zugleich diskutieren sie über ihre eigenen Vorstellungen von ehelicher Treue, Kündigung am Arbeitsplatz etc. und danach diskutieren sie die Sichtweisen anderer. So entsteht eine emotionale Distanz zum traumatisierenden Erlebnis.
In einem solchen Weisheitstraining können Verbitterte zwar ein wenig aus ihrem Schneckenhaus heraus gucken, doch sind andere und lang anhaltende Therapien notwendig, um das Trauma zu bewältigen, das am Anfang der Störung stand.
Sie lernen im Idealfall durch das Training, dass Werte und Normen relativ sein können, dass es nicht einen, sondern unzählige Lebensentwürfe gibt, und dass Menschen sich im Leben immer wieder entscheiden müssen. Zu akzeptieren, dass Unsicherheit zum Leben gehört und man Widersprüche aushalten kann, ist die Voraussetzung, damit die Patienten aus ihrem psychischen Gefängnis heraus gelangen.
Stereotypen aufbrechen
Therapien für Verbitterungsgestörte basieren auf der Verhaltensanalyse wie auf der Analyse automatischer Gedanken und Schemata. Gerade solche Schemata stellen einen Kern der Probleme der Betroffenen dar, ohne dass sie sich dessen bewusst sind.
Dann geht es darum, die mit Problemen belasteten Bereiche neu zu benennen und in der Welt zu handeln, soziale Kontakte wieder aufzubauen und Erfahrungen zu sammeln, die den Betroffenen zeigen, dass sie keine passiven Opfer sind, sondern in der Außenwelt wirken können. Außerdem lernen sie, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu benennen, zu akzeptieren und in einen Kontext zu stellen.
Ansprüche relativieren
Wesentlich, vor allem für narzisstisch Verbitterte, ist es, die eigenen Ansprüche zu relativieren und zu sich selbst auf Distanz zu gehen. Bewährt hat sich die Methode der Lösung „unlösbarer Probleme“. Dabei werden den Betroffenen Konflikte vorgestellt, in denen sie handeln sollen auf der Basis der Übungen mit Humor, Empathie und emotionaler Beweglichkeit. Am Ende übertragen sie diese Fähigkeiten dann auf die eigene Situation. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Charité – Universitätsmedizin Berlin: Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) (Abruf: 30.07.2019), psychosomatik.charite.de
- American Psychological Association: Posttraumatic embitterment disorder, PTED (Abruf: 30.07.2019), psycnet.apa.org
- National Bullying Helpline: PTED - Post Traumatic Embitterment Disorder (Abruf: 30.07.2019), nationalbullyinghelpline.co.uk
- Lee, Kyungsoo / Song, Ho Chul / Choi, Euy Jin / u.a.: Posttraumatic Embitterment Disorder in Patients with Chronic Kidney Disease, Clinical Psychopharmacology and Neuroscience, 2019, cpn.or.kr
- Dvir, Yael: Posttraumatic Embitterment Disorder: Definition, Evidence, Diagnosis, Treatment, Psychiatric Servicesm 2007, ps.psychiatryonline.org
- Linden, Michael: Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung (Fortschritte der Psychotherapie / Manuale für die Praxis), Hogrefe Verlag, 2017
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.