Verhaltensstörungen bezeichnen Verhalten, das als „nicht normal“ gilt. Hier fängt das Problem an, eine solche Störung zu fassen. Geht es um „Störenfriede“? Norm bedeutet erst einmal nur, dass eine solche Norm gesetzt wird. Was aber eine Gesellschaft als normal ansieht, ist historisch und kulturell sehr unterschiedlich. Würden wir es im Westen zum Beispiel als gestörtes Verhalten ansehen, wenn sich eine Frau in Saudi-Arabien den Niqab vom Gesicht reißt?
Inhaltsverzeichnis
Definition und Abgrenzung
„Unter einer Verhaltensstörung versteht man eine Regelübertretung, die vom Handelnden selbst oder von jemandem, der sich ihm gegenüber in einer Machtposition befindet, als störend und unangemessen beurteilt wird.“ (Havers, 1978)
Jemand, der sich an die gesetzte Norm anpasst, ist umgekehrt nicht zwingend psychisch gesund: Generationen von deutschen Männern, die um 1900 zur Welt kamen, fiel es einfacher, Millionen von Menschen auf Befehl zu ermorden, als ihren autoritären Vätern, Lehrern oder Offizieren , die sie zu diesem Mord abrichteten, auch nur den kleinsten Widerstand entgegen zu setzen.
Homoerotik und sexuelle Promiskuitivität zum Beispiel galten in Deutschland noch vor wenigen Jahrzehnten als gestörtes Verhalten – als abnormal. Dabei widersprachen diese Spielarten der Körperlichkeit lediglich den Moralvorstellungen einer verklemmten Gesellschaft und sind keinesfalls Störungen, sondern Ausdruck des weiten Spektrums sexueller Vielfalt von Menschen.
Der Leidensdruck
Sinnvoll ist es hingegen, wie bei allen psychischen Störungen, vom Leidensdruck auszugehen. Leiden die Betroffenen und leiden Andere unter ihrem Verhalten? Haben sie deswegen Probleme, sich in sozialen Beziehungen und Gruppen zu integrieren?
Bei heute psychiatrisch anerkannten Verhaltensstörungen trifft zu, dass diese die Betroffenen und ihre soziale Umwelt belasten: Auffällige Störungen sind unberechtigte Aggressionen gegen Menschen und Tiere, absichtliches Zerstören von Gegenständen, hyperaktives Ausagieren, extreme Ängstlichkeit, unverhältnismäßige Reaktionen, unkontrollierte Wutausbrüche, Schreien, Einnässen in fortgeschrittenem Alter oder obszönes Verhalten.
Unterschiedliche Verhaltensstörungen
Die Störungsbilder nehmen vielerlei Gestalt an. Generell lassen sich vier Formen unterscheiden, die allerdings ineinander übergehen.
1.) Aggressive Verhaltensstörungen. Diese äußern sich durch außerordentliche Aggressionen, und zwar sowohl verbal wie körperlich. Die Betroffenen streiten sich wegen Nichtigkeiten, zerstören Gegenstände, geraten wegen nichtigen Anlässen in Wutanfälle, bedrohen Andere und kommandieren sie herum.
2.) Gerade umgekehrt sind pathologische Hemmungen: Die davon Betroffenen ziehen sich zurück, reagieren überempfindlich, sind überängstlich, weinen häufig und leiden unter extremen Gefühlen von Minderwertigkeit.
3.) Dann gibt es Störungen im Verhalten, die dem Alter unangemessen, aber in einem jüngeren Alter normal sind. Dazu gehört am deutlichsten das Einnässen, aber auch das Leben in einer magischen Welt, wenn die Kleinkindphase, in der das Kind Realität und Fantasie nicht trennt, längst vorbei ist.
Wenn sich ein Dreijähriger in der Trotzphase zum Beispiel auf den Boden wirft, weint und schreit, um seinen Willen durchzusetzen, ist das keine Störung, sondern im Gegenteil eine gesunde Entwicklung. In diesem Alter begreift der Mensch sich selbst nämlich als Individuum, das sich von seiner Umwelt und anderen Individuen unterscheidet: Er entwickelt eine Theory of Mind. Die Trotzreaktionen bedeuten „Ich bin ich, und ich will etwas.“
Bei einer gesunden Entwicklung lernt das Kind aber in den Jahren danach, soziale Bedürfnisse nicht nur zu differenzieren, sondern sich vielschichtig zu artikulieren und eine Frustrationstoleranz aufzubauen. Diese ist für das Anpassen der eigenen Bedürfnisse an die Umwelt sogar lebensnotwendig. Wenn also ein 14jähriger, der seinen Willen nicht bekommt, sich auf den Boden wirft, heult und schreit, dann deutet das auf eine Verhaltensstörung hin.
Das auffällige Verhalten bestimmter Persönlichkeitsstörungen ist eine Folge der nicht gelungenen Anpassung der frühkindlichen Bedürfnisse an soziale Beziehungen und die Außenwelt. So gehört es zu den Merkmalen des Borderline-Syndroms, dass die Betroffenen Bezugspersonen in absolut Gut und absolut Böse aufspalten und daran scheitern, sich selbst und andere Menschen in ihrer Komplexität zu verstehen.
Auffälligkeiten im Verhalten zwischen rasender Wut und symbiotischer Anpassung, Gefühlsausbrüchen, die die Betroffenen selbst nicht erklären können und Phasen von Apathie ist eine direkte Folge der Entwicklungsdefizite – die Kranken haben keine stabile Identität entwickelt und kein Selbstbild, aus dem heraus sie das Selbst von Anderen von dem eigenen Selbst unterscheiden könnten.
4.) Die vierte Form ist die sozialisierte Delinquenz. Die Betroffenen bilden Banden, schwänzen häufig die Schule, begehen mit anderen Delinquenten zusammen Diebstähle oder Einbrüche. Die Verhaltensmuster üben sie in Gruppen ein, erlernen sie zugleich durch Nachahmung wie direkte Verstärkung.
Ob hier Störungen vorliegen, hängt indessen vom sozialen Kontext ab. Wenn Jugendliche in Slums, die keine soziale Perspektive haben, ihren Lebensunterhalt durch Drogenhandel oder Einbrüche sichern, handelt es sich nicht um ein gestörtes Verhalten, sondern um eine Überlebensstrategie. Als Störung lässt es sich hingegen bezeichnen, wenn es für das delinquente Verhalten keine „objektiven“ Gründe gibt. Kleptomanie zum Beispiel hat nichts damit zu tun, dass jemand stiehlt, weil er Dinge zum Leben braucht.
Der Situation unangemessen
Eine Verhaltensstörung muss strikt getrennt werden von dem, was ein Milieu, eine Klasse, eine politische Weltanschauung oder Religion als gesellschaftlich nicht opportun ansieht. Kennzeichen einer Störung ist hingegen, dass das Verhalten keinen angemessenen Umgang mit der jeweiligen Situation darstellt, und auch aus der Sicht des Betroffenen nicht zum Ziel führt.
Es handelt sich in der Regel also gerade nicht um ein gezieltes Überschreiten von Normen und Regeln. Verhalten, das dazu dient, Menschen, deren Normen die Betroffenen kritisieren, zu provozieren, ist keine Störung. Indessen gibt es auch Menschen mit signifikanten Störungen, die diese als Provokation oder Protest rationalisieren, und die Übergänge lassen sich schwer voneinander trennen.
Ursachen von Verhaltensstörungen
Es kommen verschiedene Ursachen in Betracht. Oft liegen die Wurzeln in der Familie: Dazu gehören psychische Erkrankungen der Eltern (vor allem der Mutter), Alkoholismus der Eltern, psychischer, physischer und sexueller Missbrauch im Elternhaus, Verlust wichtiger Bezugspersonen, abwesende Väter, lieblose Eltern, familiäre Verwahrlosung oder eine kriminelle Karriere der Eltern.
Individuelle Erfahrungen spielen ebenfalls hinein: Misserfolg in sozialen Beziehungen, Freundschaften oder sexuelle Enttäuschungen; generell mangelnde Anerkennung durch Eltern, Mitschüler oder Lehrer, chronische Krankheiten, die Erfahrung des „Anders Seins“, aber auch Mobbing in Kindergarten, Schule oder dem Lebensumfeld.
„Verhaltensstörungen“ stellen oft auch eine innere Rebellion gegen Hierarchien da. Die davon Betroffenen weigern sich un- oder halb bewusst, den Kommandos von Eltern und Lehrern zu folgen. Sie sind aber intellektuell nicht in der Lage oder durch die Situation gezwungen, ihren Unmut als konkrete Kritik zu äußern.
Stattdessen protestieren sie durch ungewolltes Verhalten. Sie verweigern sich in der Schule, lassen das von der Mutter geschmierte Pausenbrot verschimmeln, machen ihre Hausaufgaben nicht, oder ziehen in der Klasse den Mantel nicht aus. Selbst Einnässen kann eine Protestform darstellen.
Psychische Störungen
Gestörtes Verhalten kann durch ernsthafte organische oder psychische Schäden bedingt sein: Dazu gehören Hirnschäden, Traumatisierungen und verschiedene Erkrankungen. Viele Kinder gelten als gestört, bis sich herausstellt, dass ihr ungewöhnliches Benehmen Symptom einer Basiserkrankung ist.
Zu den psychischen Störungen, die untrennbar mit Verhaltensstörungen verbunden sind, gehören Bipolarität, Depressionen, das Borderline-Syndrom, die Posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie sowie das gesamte Spektrum der autistischen Störungen.
Hinzu kommen affektive Störungen, das Tourette-Syndrom, das Messie-Syndrom, das Münchhausen-Syndrom und alle Arten der Wahnerkrankungen, von Eifersuchtswahn über Größenwahn bis zu Verschwörungswahn. Dissozialität, narzisstische Störungen und Angststörungen zeichnet ebenfalls ein gestörtes Verhalten aus.
Substanzmissbrauch
Verhaltensstörungen sind außerdem ein typisches Anzeichen von Substanzmissbrauch: Alkoholismus, Heroin- oder Kokainsucht, der exzessive Gebrauch von Amphetaminen, Halluzinogenen, Extasy etc. führt mittelfristig zu gestörtem Verhalten, auch außerhalb der rauschhaften Phase.
Vielen dieser Störungen liegen Erziehungsfehler zugrunde. Vereinfacht gesagt: Kinder, die autoritären Eltern ausgesetzt sind, die nichts dürfen und keinen Raum haben, sich zu entfalten, laufen Gefahr, überängstlich zu werden. Kinder, die der Gewalt ihrer Eltern hilflos ausgesetzt sind, setzen Gewalt ebenfalls ein und entwickeln aggressives Verhalten. Kinder, deren Eltern an Borderline-Erkrankungen leiden oder extrem narzisstisch sind, lernen, verbindlichen Aussagen generell zu misstrauen und suchen nach dem Haar in der Suppe.
Erziehung
Tatsächlich sind die meisten schwächeren Verhaltensstörungen die Folge von Erziehung: Kinder benehmen sich in sozialen Gruppen auffällig, weil sie zu sehr verwöhnt werden; die beiden Elternteile haben unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung, was das Kind einer Double-Bind Situation aussetzt, in der es nichts „richtig“ machen kann; die Eltern projizieren ihre Probleme, Wünsche und Bedürfnisse auf das Kind; die Eltern leiden selbst an affektiven Störungen, Angststörungen etc. und halten das Kind in diesen gefangen.
Selbstschädigendes Verhalten
Die Störungen können sich zu einem echten Problem ausweiten, nicht zuletzt für die Betroffenen selbst: Selbst verletzendes Verhalten (SVV) bezeichnet Handlungen, in denen Individuen Körpergewebe zerstören für Ziele, die nicht ästhetisch oder sozial etabliert sind, wie zum Beispiel Piercings, Brandings oder Scarvings. Schnitte im Unterhautgewebe sind bei weitem die verbreitetste Form dieser selbst verursachten Wunden.
Die Betroffenen verletzen sich an jedem Teil des Körpers, aber meist an den Armen und Handgelenken. Die Schwere der Handlungen variiert von oberflächlichen Wunden bis zu solchen, die dauerhafte Entstellungen hinterlassen. Begonnen wird mit dem Ritzen in der Regel in den späten Teenagerjahren oder im frühen Erwachsenenalter. Manche Betroffene fügen sich nur einige Male Wunden zu, während andere diese Handlung als Teil des Alltags etablieren und es ihnen schlecht geht, wenn sie sie zeitweise einstellen.
Direkt nach dem Ritzen fühlen sie, wie (psychischer und körperlicher) Druck nachlässt. Wenn dieses Gefühl abebbt, tritt Scham und Schuld an seine Stelle, gefolgt von der Wiederkehr der quälenden Emotionen, die den Menschen dazu trieben, sich selbst zu verletzen, um ihnen zu entfliehen.
ADS
Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zeichnet sich aus durch innere Unruhe, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Hyperaktivität, Stimmungsschwankungen und in schwereren Fällen durch eine Persönlichkeitsstörung.
Psychiater warnen davor, dass ADS sich zu einer Modediagnose entwickelt hat, die Eltern und Lehrer von ihrer Verantwortung entlastet, wenn ein Kind „auffällig wird.“ Typische Symptome von ADS können ihre Ursache nämlich auch in Bewegungsmangel haben, in einem Leistungsdruck, der Kindern Freiräume zerstört, in überehrgeizigen Eltern, die ihre Kinder permanentem Druck aussetzen, etc. Das hat dann aber mit der psychischen Erkrankung ADS erst einmal nichts zu tun.
Die intellektuelle Leistung leidet, weil die Betroffenen von einem Thema zum nächsten springen und so nicht nachhaltig Wissen abspeichern, das sie später umsetzen könnten; dazu verschlechtern sich die schulischen Leistungen. Hyperaktive Kinder haben Probleme in der peer group und den Familienbeziehungen. Da sie in sozialen Beziehungen mit ihrem Verhalten anecken, entwickeln sie Ängste und Depressionen. Auch Aggressivität kann die Folge sein.
Manche ADS-Patienten schlittern in die Kriminalität, sie experimentieren früh mit Betäubungsmitteln, Unfälle durch riskantes Verhalten häufen sich, und, wenn sie volljährig sind, häufen sich Verkehrsunfälle, weil sie zu schnell fahren.
Hyperaktive Kinder geraten häufig in Schwierigkeiten in ihren Beziehungen zu Erwachsenen, später in Partnerschaften und am Arbeitsplatz. Es fehlt ihnen an emotionaler Selbstkontrolle, um ihren Antrieb und ihre Motivation zu organisieren. Die Hyperaktivität fördert Beeinträchtigungen im Gedächtnis, einen Mangel an räumlichen Fertigkeiten und der Sprachfertigkeit.
Bekommen die Betroffenen die Symptome nicht in der Griff, häufen sich in späteren Lebensjahren die Probleme. Im Beruf können sie nicht kontinuierlich an einem Thema haben, sie werden zur Last für sich selbst und für ihre Kollegen. Was ihre Kollegen in Wochen erarbeitet haben, machen sie durch ihre Unfähigkeit, zuzuhören und sich zu konzentrieren, zunichte.
Sie halten sich weder an Absprachen noch gehen sie auf das ein, was ihre Kollegen Zeit und Mühe kostet. Manche versuchen sich zum Beispiel mit Cannabis selbst zu behandeln, was aber zur Falle wird. Zu der psychischen Störung kommt jetzt noch die psychische Abhängigkeit von der Substanz, zur Konzentrationsschwäche jetzt noch die rauschbedingte Unfähigkeit, klare Gedanken zu bilden. In jeder Firmenstruktur, die auf Kooperation und Verbindlichkeit angewiesen ist, werden derart Gestörte zu einer Zumutung für alle Beteiligten – auch für sich selbst. Sie machen kaputt, was andere aufbauen.
Typen von ADS
Es gibt verschiedene Arten, wie ADS sich äußert:
Das unaufmerksame ADS, auch als Attention Deficit Disorder bekannt: Die davon Betroffenen sind zwar unaufmerksam und können sich schlecht konzentrieren, sind sich aber weder hyperaktiv noch übergriffig. Diese Störung bleibt häufig unbemerkt und wird deshalb oft zu spät diagnostiziert, das heißt, in einer Zeit, in der die Betroffenen bereits massive Entwicklungsdefizite aufweisen.
Von diesem Typ sind prozentual mehr Mädchen betroffen als von den beiden anderen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, Gehörtes aufzunehmen, und sie achten nicht auf Details. Sie sind desorganisiert, vergessen und verlieren Dinge.
Kombiniertes ADS ist die häufigste Form: Bei diesen Kindern geht Unaufmerksamkeit mit Hyperaktivität und Impulsivität einher.
Die dritte Form ist die hyperaktiv-impulsive ADS. Diese Schüler zeigen hyperaktives und impulsives Verhalten, aber können ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Dieser Typ ist nicht weit verbreitet, er betrifft nur jedes zehnte Kind mit ADS.
Erkennbare Zeichen von Hyperativität und Impulsivität umfassen lautes Reden, das Problem, auf einer Stelle zu sitzen und ruhig zu spielen. Außerdem unterbrechen die Betroffenen andere, rennen und klettern auf gefährliche Weise, reden, ohne nachzudenken, und haben Probleme, ihre Emotionen zu zügeln und zu warten, bis sie an der Reihe sind.
Das Asperger-Syndrom
Dieses Syndrom gehört zum autistischen Formenkreis. Im Unterschied zum klassischen Autismus sind den Betroffenen soziale Beziehungen zu anderen Menschen wichtig, doch zu ihrer Störung gehört, dass sie soziale Kommunikation in wesentlichen Punkten nicht verstehen. Das führt zu einem Verhalten, das es ihnen erschwert, Freundschaften aufzubauen. Sie finden dann keine Verbindung zu Altersgenossen wegen ihrem Mangel an sozialen Fähigkeiten. Sie haben Probleme, mit anderen Kindern zu reden oder an Gruppenaktivität teilzunehmen.
Das kann Kinder mit Asperger erschüttern, denn sie wollen sich intensiv mit ihren Altersgenossen verbinden. Einige Betroffene haben jedoch kein Verlangen, Freundschaften zu schließen und ziehen es vor, allein zu sein. Junge Kinder mit Asperger Syndrom zeigen bisweilen selektiven Mutismus. Das heißt, sie sprechen zum Beispiel nur frei, wenn sie mit den Anwesenden vertraut sind und verstummen gegenüber Fremden. Unmittelbare Familienangehörige sind normalerweise nicht betroffen, weil sich das Kind wohl dabei fühlt, mit ihnen zu reden.
Deutlich zeigt sich dieses Vermeidungsverhalten in der Schule und der Öffentlichkeit, und einige Kinder weigern sich von einem sehr frühen Alter an, mit Fremden zu sprechen. Dies verschwindet manchmal von selbst, bei anderen Kindern hilft eine Therapie. Betroffenen fällt es oft schwer, sich in andere einzufühlen. Wenn sie älter werden, lernen sie indessen, wie andere auf sie reagieren. Sie lernen es, aber sie fühlen es nicht. Während sie zum Beispiel angemessen reagieren und die “richtigen” Antworten geben, verstehen sie nicht, warum sie andere brüskieren.
Das zeigt sich, wenn Aspergerkinder zu ruppig mit anderen Kindern spielen oder harte Worte benutzen, ohne zu wissen, dass sie die andere Person damit beleidigen. Wenn sie auf dieses Verhalten angesprochen werden, antworten diese Kinder dann, das, was sie gesagt hätten, sei wahr, und sie verstünden das Problem nicht.
Menschen, die unter Asperger leiden, finden es oft schwierig, Augenkontakt mit ihren Gesprächspartnern herzustellen. Manche glauben, dieses Verhalten resultiert aus einem Mangel an Vertrauen. Andere vermuten, Augenkontakt lässt die Betroffenen unwohl fühlen. Es gibt sogar die Theorie, dass Asperger-Patienten nicht verstehen, wie wichtig dieser Blickkontakt ist und warum, weil sie soziale Kommunikation nicht begreifen. Das kann sogar zum umgekehrten Problem führen, wenn Betroffene Augenkontakt erzwingen und andere Menschen damit verunsichern.
Depressionen
Depressive leiden unter Niedergeschlagenheit. Sie sind antriebslos, ständig müde, und ihre Gedanken kreisen um Suizid, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie verlieren die Freude an Dingen, die ihnen Spaß machten, sie stumpfen ab (Emotionslosigkeit), und sie werden lethargisch.
Typisch ist der Grübelzwang, die Betroffenen können nicht abschalten und ihre Gedanken drehen sich. Manche entwickeln wahnhafte Ideen: Sie fühlen sich schuldig, sehen sich als Versager und leiden an objektiv unbegründeten Ängsten. Eine Depression äußert sich auch körperlich durch Schluckprobleme, Kopf-, Rücken- und Gliederschmerzen, Verlust des Appetits, Menstruationsprobleme und dem Fehlen sexuellen Begehrens.
Zwangsstörungen
Zwänge sind auch Verhaltensstörungen, in denen die Betroffenen ein bestimmte Verhaltensweise zwanghaft ausführen: Unbewusst versuchen sie damit, Fantasien, Impulse oder Handlungen ungeschehen zu machen, die für sie mit Schuld besetzt sind. Einfach gesagt: Wer sich ständig die Hände wäscht und unter einer autoritären Erziehung litt, wäscht sich damit rein von der Angst, für „Sünden“ bestraft zu werden.
Wer Zwangsstörungen behandelt, sollte zuerst Gedanken und Realität der Patienten trennen. Zwangsgestörte reagieren meist erleichtert, wenn sie begreifen, dass ihr Denken allein keine Folgen hat.
Affektive Psychosen
Affektive Psychosen bezeichnet affektive Störungen, in denen die Stimmungsschwankungen so außer Kontrolle geraten, dass die Betroffenen die Realität nicht mehr prüfen können – bzw. Unbewusstes und äußere Wirklichkeit nicht trennen. Dazu gehören die irrealen Ängste bei Depressiven und Bipolaren ebenso wie der Größenwahn von Manikern. Ein Mensch in einer manischen Phase, der glaubt, er sei die Wiedergeburt von Mutter Theresa, ist nicht nur manisch, sondern auch psychotisch.
Bipolare Störung
Die bipolare Störung kennzeichnet ein Wechsel zwischen euphorischem Größenwahn (Manie) und tiefster Niedergeschlagenheit (Depression). Die Manie zeigt sich als ständige überschwängliche Stimmung, die mehr als eine Woche andauert. Die Leitsymptome sind eine Fehlwahrnehmung eigener Grandiosität, ein gesenktes Schlafbedürfnis (die Betroffenen sind bisweilen über 48 Stunden unterwegs), extreme Gesprächigkeit bis hin zu Redezwang, und außerdem Ideenflucht.
Die Manie
Das gestörte Verhalten zeigt sich als Redefluss ohne inhaltlichen Zusammenhang, die Ideen überschlagen sich, die Gedanken rasen, soziale Tabus spielen keine Rolle; Manische überschätzen sich, lassen sich leicht ablenken, ihre Handlungen wechseln ständig; sie benehmen sich rücksichtslos und sexuell getrieben. Sie essen kaum noch und schlafen wenig. Sie verlieren die Distanz zur Umwelt ebenso wie ihre Selbstkritik.
In der reizbaren Variante sind die Gestörten extrem aggressiv: Sie fühlen sich unentwegt provoziert, beleidigen, und sie greifen andere Menschen an – körperlich wie verbal. Ein Auslöser ist, dass andere ihre Luftschlösser nicht ernst nehmen. Schwere Manien gehen in eine Psychose über: Die Betroffenen haben Wahnvorstellungen.
Sie sind zerstreut, sie haben tausend grandiose Ideen, denken diese aber nicht zu Ende. Sie lassen sich von unwichtigen Reizen ablenken und verspüren einen starken Drang, „etwas zu tun“. Das äußert sich in sexuellen Abenteuern, Konsumrausch, bis hin zu finanziellen „Investitionen“, die die Betroffenen in den Ruin treiben. Da die Maniker die Grenzen anderer überschreiten, sind Konflikte mit Mitmenschen, der Polizei, Ladenbesitzern etc. vorprogrammiert.
Als manische Phase gilt diese Stimmungsstörung dann, wenn sie den Alltag der Patienten deutlich beeinträchtigt, das Berufsleben Schaden nimmt oder soziale Beziehungen stört. Sie erfordert einen Aufenthalt in einem Krankenhaus, um zu verhindern, dass die Patienten sich oder andere schaden. Wesentlich für die Unterscheidung ist, dass dieses Verhalten nicht Folge von Drogenmissbrauch, Medikamenten oder medizinischen Behandlungen ist, bzw. keine andere physiologische Ursache hat.
Die depressive Phase
Auf diese Manie folgt die depressive Phase. Die gedrückte Stimmung hält mehrere Tage hintereinander fast den ganzen Tag an, die Betroffenen erscheinen wehleidig und klagen über innere Leere. Sie leiden unter Schlaflosigkeit oder umgekehrt unter einem gesteigerten Bedürfnis, zu schlafen. Ihre Bewegungen erscheinen wie in Zeitlupe, gleichzeitig sind die Patienten innerlich unruhig. Typisch ist das Gefühl der chronischen Erschöpfung.
Die Betroffenen empfinden sich als wertlos und Schuldgefühle plagen sie. Sie können sich schlecht konzentrieren und sind unfähig, Entscheidungen zu treffen. Ihre Gedanken kreisen um den Tod und Suizid, ohne aber konkrete Pläne zu schmieden.
Wann beginnt eine Verhaltensstörung?
Wir müssen differenzieren zwischen einer kulturübergreifenden Verhaltensstörung und einer kulturbedingten Interpretation von Verhalten. Auch wertet die Psychologie vieles heute mitnichten als gestört, was vor wenigen Jahrzehnten noch als dieses galt.
So galt jemand zum Beispiel noch vor nicht allzu langer Zeit als „nicht richtig im Kopf“, wenn er mit sich selbst redete. Heute ist indessen belegt, dass Selbstgespräche, die nicht aus einem Wahn herrühren, dazu dienen, Fragen zu reflektieren, ins Bewusstsein zu bringen und Lösungen zu erarbeiten.
Auch extreme Verhaltensformen müssen nicht auf eine Störung hindeuten, wenn sie in einer Gesellschaft etabliert sind: Wenn sich zum Beispiel Schiiten zur Feier des Märtyrers Hussein in die Haut schneiden, um sein Märtyrium zu reinszenieren, mag zwar der kulturfremde Betrachter den Kopf schütteln, ein solches etabliertes Verhalten ist aber nicht als Störung zu werten.
Diagnosen
Der Diagnoseschlüssel unterscheidet organische und symptomatisch-psychische sowie wahnhafte, neurotische und affektive Störungen, Verhaltensstörungen aus Überlastung oder als Folge von Persönlichkeitsstörungen.
Des weiteren gibt es gestörtes Verhalten als Folge einer Entwicklungsstörung und in Folge eingeschränkter Intelligenz, frühe sowie erworbene Störungen. Dabei sind die Unterschiede gewaltig, zwischen beginnenden Auffälligkeiten und ausgewachsenen psychischen Krankheiten.
Die Formen, die diese Störungsbilder annehmen, variieren sehr: Erst einmal gibt es wenig Überschneidungen zwischen einem überaggressiven Schüler, der jeden Versuch, ihn zu einer Therapie zu veranlassen, mit Gewalt beantwortet, und einem „Zappelphilipp“, der an ADS leidet und an den Nerven seiner Umwelt sägt.
Wann sprechen wir von Verhaltensstörungen?
Für eine Störung ist also nicht entscheidend, ob der Gartennachbar, der den Rasen mit der Nagelschere schneidet, spielende Kinder frech findet, sondern ob bestimmte extreme Verhaltensmuster in außergewöhnlich hohem Maß auftreten, mindestens sechs Monate lang und in verschiedenen Bereichen des Lebens.
Hinzu kommen Verhaltensweisen, die für die kindliche Entwicklung untypisch sind, diese Entwicklung sogar einschränken, und, vor allem, Probleme für das Kind verursachen. Egal ob ein Kind nämlich unter chronischer Konzentrationslosigkeit leidet, extrem schüchtern ist, oder sich bereits früh durch kriminelles Verhalten auszeichnet – immer bringt es sich selbst dadurch ins Abseits.
Psychosoziale Symptome bei Kindern
– Das Kind hält sich nicht an vereinbarte Regeln und verletzt die Rechte anderer Menschen, ohne Reue zu zeigen (dissoziale Störung)
– Das Kind verhält sich übermäßig aggressiv gegenüber anderen Menschen.
– Es verhält sich extrem schüchtern in einem Ausmaß, das über bloßes Fremdeln hinaus geht (Angststörung)
– Das Kind drängt sich ständig in den Mittelpunkt und giert nach Aufmerksamkeit (narzisstische Störung)
– Es stiehlt häufig (außerhalb von altersbedingten Mutproben etc.)
Ursachen und Ressourcen
Heute spielt ein Ansatz, der sich an den Ressourcen des Patienten statt an den Ursachen seines Verhaltens orientiert, eine immer wichtigere Rolle. Das heißt, es geht nicht mehr nur darum, warum ein Mensch sich problematisch verhält, sondern vor allem darum, welche Fähigkeiten er hat, an diesem Verhalten konstruktiv zu arbeiten.
Da das Verhalten das Hauptsymptom ist, lässt sich, unabhängig von der Ursache, die Gesamtsituation des Patienten verbessern, wenn er dieses ändert. So können Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten Deeskalationsstrategien entwickeln. Jene lassen sich am besten erarbeiten, wenn der Kontext bekannt ist, in dem es zu dem schädlichen Verhalten kommt.
Behandlung und Therapie
Gesprächs- und Verhaltenstherapien versprechen die besten Aussichten auf Heilung. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen erstens ihre Verhaltensweisen ändern wollen und zweitens wissen, welche sie ändern sollen.
Das gilt zunächst einmal unabhängig von der tieferen Ursache: Ein Traumatisierter, der deutliche Auffälligkeiten entwickelt, wenn Trigger sein Trauma aktivieren, kann lernen, diese Auslöser zu vermeiden; zeigt ein Kind auffälliges Verhalten nach der Trennung der Eltern oder weil ein Elternteil latent psychisch krank ist, dann hilft vermutlich eine Familientherapie.
Bei der Diagnose geht es erst einmal darum, zu erkennen, wann der Betroffene sich auffällig verhält. Eine Störung zeichnet sich aus durch ein generelles Verhalten der Betroffenen. Das bedeutet: Jemand, der extrem aggressiv auftritt, fällt immer wieder auf, weil er sich schlägt, andere beleidigt oder angreift – unabhängig von der Situation
Zeigt sich ein Kind jedoch nur gegenüber einem bestimmten Lehrer aggressiv, nicht aber gegenüber seinen Mitschülern, seinen Eltern oder Altersgenossen, dann liegt mit ziemlicher Sicherheit ein Antipathie gegenüber dem Lehrer vor, nicht aber eine Störung.
Dieser Aspekt ist wichtig, da manche Eltern und Lehrer unbequeme Kinder gerne mit dem Stempel ADS versehen, obwohl es sich in Wirklichkeit um berechtigten Protest gegen ihre Selbstherrlichkeit handelt. Auch wenn viele Eltern und Lehrer es nicht gerne hören: Trotz, Ungehorsam oder mangelnde Aufmerksamkeit sind auch Teil zu einer völlig normalen Entwicklung. Wer beim todlangweiligen Unterricht eines pädagogisch ungenügenden Lehrers Papierflugzeuge faltet, der verhält sich nicht gestört, sondern der Situation angemessen.
Neben einer Therapie, die bei jeder Verhaltensstörung angebracht ist, unterscheidet sich die Behandlung je nach Basiserkrankung. Bei psychischen Krankheiten, die mit einem gestörten Hormonspiegel oder Mineralienmangel einher gehen, helfen entsprechende Präparate, bei Bipolaren Lithium, bei Schizophrenie Antipsychotika, bei familiär bedingten Fällen eine Familientherapie. Bei Alkohol- oder Substanzmissbrauch empfiehlt sich eine Suchttherapie. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
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Wichtiger Hinweis:
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