Die tropischen Regenwälder sind die artenreichsten Ökosysteme der Erde und vermutlich bieten diese Arten auch die meisten Heilstoffe.
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Ureinwohnerinnen und Ureinwohner am Amazonas, im Kongo oder in den schwindenden Tropenwäldern Borneos überlieferten eine Vielzahl bereits bekannter Heilpflanzen; doch die meisten Wirkstoffe sind für die Wissenschaft wahrscheinlich noch unentdeckt; allein in Costa Rica entdeckten Forschende in den letzten 25 Jahren 400 neue Pflanzenarten mit vielversprechendem Potenzial.
Der Regenwald: Die bedrohte Apotheke
„Pflanzen erzeugen direkt oder indirekt alle unsere Lebensmittel, die meisten unserer Medikamente, unsere Kleidung. Sie nähren nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seele. Mit Farben und Düften. Und was tun wir? Wir rotten sie aus. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ein Drittel aller weltweit bekannten Arten ausgemerzt haben. Sind wir eigentlich verrückt?“
Dr. Peter Hamilton Raven, bis 2011 Direktor des Botanischen Gartens St. Louis.
Die Biologin Dr. Andrea Flemmer sagt, mehr als 7.000 Medikamente seien aus Pflanzen des tropischen Regenwaldes entwickelt; dabei hätten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erst zwei Prozent der dortigen Pflanzenarten untersucht.
Bereits heute helfen Pflanzen aus dem Regenwald gegen Krebs, Tuberkulose und Malaria, wirken gegen Verstopfung und Husten. Jedes vierte Medikament mit pflanzlichem Ursprung stammt aus Tropenwäldern.
Das Madagaskar-Immergrün Catharanthus roseus enthält Viblastin und Vincristin und damit Mittel gegen Morbus Hodgkin und lymphatische Leukämie. Das Immergrün steigert bei beiden Krebserkrankungen die Heilungschance von 20 auf 80 Prozent. Fünf weitere Immergrün-Arten auf Madagaskar sind noch nicht untersucht.
Die Katzenkralle aus Peru enthält einen Wirkstoff gegen Rheuma, der Jaborandi-Strauch aus Brasilien hilft mit der Substanz Pilocarpin gegen den Grünen Star; die Blüten des philippinischen Ylang-Ylang-Baumes lindern Depressionen, Schlaflosigkeit, Stress und Nervosität.
In den Anden wächst ein Edelweiß, Wira Wira: Es heilt Husten, Schnupfen und Heiserkeit in Form von Tees und Salben.
Ingwer aus dem Tropenwald Südostasiens hilft gegen Verdauungsprobleme und entspannt die Schleimhäute.
Drachenblut-Harz aus einem Baum Südamerikas hilft gegen Verletzungen, Keime und Infektionen sowie gegen Herpes. Caihu, ein bolivianischer Kürbis, hält den Blutdruck in Balance, senkt die Blutfettwerte und hilft so gegen Arterienverkalkung (Arteriosklerose).
Die Blüten der Passionsblume aus den Regenwäldern Mesoamerikas wirken gegen Kopfschmerzen, Nervosität und Panikattacken; die Manayupa-Blume aus Belize hilft gegen Kreuz- und Nervenschmerzen.
Die Yamswurzel enthält einen Wirkstoff für die Antibabypille; das Muskelrelaxans Tubocuranin ist in der südamerikanischen Curare enthalten, und der Chinarindenbaum Amazoniens birgt Chinin, das Mittel gegen Malaria.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bonn fanden in Mexiko mehr als hundert Pflanzen, die sich auf den Blutzucker auswirken. Der Guarumbo-Baum bietet Substanzen, die Diabetes heilen könnten.
Thailändische Palmen und Schmetterlingsblütler enthalten Saponine und Ditterpenoide, die gegen Krebs wirken.
Afrikanische Affodil-Pflanzen helfen offenbar gegen Leukämie.
Der Niembaum aus dem tropischen Indien gilt als Allheilmittel: Er hat Abwehrkräfte gegen Bakterien, Viren, Pilze und Infektionen; er wirkt antidiabetisch, er senkt den Blutdruck und das Cholesterin, er wirkt verhütend, denn er lähmt Spermien.
Die Einheimischen nutzen seine Rinde, seine Blätter, seine Blüten und seine Samen in Form von Tee, Pulver, Saft und Öl. Die Ärzte behandeln damit Lepra, Nesselfieber, Verdauungsprobleme und Erkrankungen der Schilddrüse.
1.300 Arten von Rhododendren blühen von der Türkei bis in den fernen Osten Chinas. Bisher wurden aus Rhododendren 600 Substanzen extrahiert, die heilend wirken: Manche lähmen, andere dämmen Krebs ein.
In Brasilien kennen Indigene die Marapuana-Wurzel, die die Potenz fördert, die Jabuti-Rinde, die Hämorrhoiden bekämpft, das Saratodo-Holz, das Wunden heilt, das Crujirú, das Infektionen entgegenwirkt, und Uxi-Amarelo, das Wechseljahrbeschwerden lindert.
Koka
Kokain fällt im Westen unter die illegalen und „verteufelten“ Drogen. Gegenüber den Blättern des Kokastrauches verhält es sich ungefähr wie siebzigprozentiger Strohrum gegenüber einem Glas Federweißer.
Die Ureinwohner Perus, Boliviens und Kolumbiens nutzen Koka (oder Coca) seit Jahrtausenden: Sie legen die Blätter unter die Zunge – sie lindern den Hunger, erleichtern das Atmen und halten wach.
Sie helfen gegen Zahnschmerzen, Bauchschmerzen, Depressionen und Rheuma. Ohne Koka würden die Bergbauern in mehreren tausend Metern Höhe in den Anden ihre Arbeit kaum leisten können.
Der Kokastrauch wächst in den Anden von Peru, Bolivien und Kolumbien in Höhen zwischen 300 und 2.000 Metern. Heute ist er aber auch in Indien, Sri Lanka, Java und Afrika verbreitet. Koka braucht eine hohe Luftfeuchtigkeit, viel Regen und Lehmboden mit viel Humus.
Kokain macht in hohem Maße psychisch abhängig, bei Kokablättern dagegen besteht diese Gefahr nicht, wenn man sie nutzt wie die Einheimischen: Die kauen die Blätter zusammen mit Kalkasche. Diese verwandeln Kokain in Ecgonin, eine Substanz, die nicht abhängig macht.
In den Herkunftsländern ist Koka nicht nur Droge, sondern ein unentbehrliches Heilmittel. Getrocknete Blätter enthalten zwar Alkaloide, insbesondere Kokain, dazu kommen aber Kohlenhydrate, Calcium, Proteine, Eisen, Vitamin A und Vitamin B 2.
Für die Indigenen ist der Kokastrauch eine der wenigen Möglichkeiten, sich mit Calcium zu versorgen. Koka hilft gegen Hunger, Müdigkeit und Kälte.
Vor allem aber lindert es die Höhenkrankheit. Die entsteht nämlich, weil im Gebirge der Sauerstoffgehalt in der Luft abnimmt; Kokablätter verbessern jedoch die Aufnahme von Sauerstoff. Sie enthalten: Alkaloide, außer Kokain, auch Cinnamoylcocain, und Truxilline, Hygrin und Cuskygrin, dazu Gerbstoffe und ätherisches Öl mit Methylsalicylat.
Evo Morales in Bolivien setzt sich dafür ein, Koka zu legalisieren. Seine Parole lautet: „Coca ja, Cocain nein.“ Tees, Shampoos, Zahnpasta – die Möglichkeiten für Koka-Produkte sind immens.
Dem entgegen steht der „War on drugs“, den vor allem die USA betreiben. Kolumbianische Soldaten, unterstützt von der CIA, zerstörten unzählige Kokafelder.
Die Industriestaaten verhindern also, dass Tropenländer eine Ressource nutzen, während westliche Pharmakonzerne zugleich Biopiraterie betreiben, indem sie Heilstoffe aus den Regenwäldern vermarkten, ohne die Einheimischen zu beteiligen.
Rational erklären lässt sich der Krieg gegen das Koka nicht: Alkohol fordert in den Industrieländern unzählige Tote, zerstört Familien und Persönlichkeiten, macht im Unterschied zu Kokain nicht nur psychisch, sondern physisch abhängig, ist aber auch in den USA legal, ohne die dem Kokastrauch eigenen positiven Eigenschaften zu haben.
„Mate de Coca“, der Kokatee, ist in den Andenländern weit verbreitet und wird in Teebeuteln verkauft. Jeder Beutel enthält ungefähr ein Gramm Kokablätter.
Er hilft gegen Magenleiden und wirkt leicht aufputschend. Körperliche Nebenwirkungen sind nicht bekannt, jedenfalls nicht mehr als bei Schwarztee.
Der Krieg gegen das Koka hat keine medizinischen, sondern historische und politische Gründe. Die spanischen Konquistadoren nutzten die Eigenschaften der Pflanze, um die Indigenen auszubeuten. So schrieb Gonzalo d Zárate: „Die Indios in den Minen können 36 Stunden unter Tag bleiben, ohne zu schlafen und zu essen“.
1946 eiferte die sowjetische Botschaft in Lima gegen die „Drogensklaverei“ amerikanischer Konzerne. US-Politiker schwärmten daraufhin vor den Vereinten Nationen vom Nutzen des Koka-Genusses.
Unter George Bush, dem Älteren, und seinen Nachfolgern hingegen trieb die US-Regierung den Krieg gegen das Koka voran, in erster Linie, weil sich linke Guerillas am Geschäft beteiligten, und die Kartelle von Kali und Medellin zu ernsten Machtfaktoren wurden.
Evo Morales in Bolivien und Hugo Chavez in Venezuela sahen folgerichtig die Legalisierung des Kokas als Befreiung des nationalen Erbes vom US-Imperialismus.
Curare
„Für ihre Pfeile bereiten sie Curare, indem sie aus der roten Haut bestimmter Strychnos-Wurzeln ein Gebräu herstellen, das sie so lange über dem Feuer verdammen lassen, bis die Mischung eine teigige Konsistenz erlangt hat.“ Claude Levi-Strauss
Curare bezeichnet verschiedene Gifte, die Indigene des südamerikanischen Regenwaldes nutzen, um Tiere zu jagen. Sie reiben mit diesen Giften ihre Pfeile ein und stellen sie aus den Extrakten von Lianen her.
Ureinwohnerinnen und Ureinwohner Guayanas stellen Curare aus Mondsamengewächsen her, die sie in Bambusröhren lagern. Das darin enthaltene Turbocarin war in der westlichen Medizin ein bewährtes Narkotikum. Indios in Venezuela und Kolumbien gewinnen ihr Curare aus Brechnüssen: Es enthält Strychnosalkaloide, darunter Alcoferin und Toxiferin.
Curare lähmt die Muskeln und führt den Tod herbei, weil es die Atemmuskeln paralysiert.
Die Wirkung macht das Gift, und Turbocarin lässt sich als Muskelrelaxans einsetzen. Allerdings setzt es auch Histamin frei, beeinträchtigt die Bronchien und senkt den Blutdruck. Heute werden deswegen andere Narkotika verwendet, die diese Nebenwirkungen nicht haben, wie zum Beispiel Atracurium, Mivacurium, Pancuronium, Vecuronium oder Rocuronium.
Die Wirkung von Curare ähnelt dem Coniin des Schierlings, dem Nikotin im Tabak, dem Cytisin im Goldregen, dem Epibatidin der Pfeilgiftfrösche (Dendrobates) und dem Arecolin der Betelnuss.
Heilende Tiere
Nicht nur die Pflanzen, auch die Tiere des Regenwaldes produzieren medizinisch interessante Stoffe. Kegelschnecken verfügen über unzählige Gifte, die das Nervensystem angreifen und deswegen wichtig sein können, um neurologische Erkrankungen zu behandeln.
Pumilitoxin, das Gift des Pfeilgiftfrosches Dendrobates pumilio, stärkt den Herzmuskel, das Gift eines seiner Verwandten aus Ecuador ist für Schmerzmittel nutzbar. Der Schleim eines australischen Baumfrosches wirkt gegen diverse Bakterienarten. Besonders an ihm ist, dass er auch multiresistente Keime abtötet, gegen die normale Antibiotika machtlos sind.
Die Froschsekrete wirken auf Bakterien verheerend: Sie lassen die Keime platzen. Herkömmliche Antibiotika können nichts mehr ausrichten, wenn das Bakterium ein Eiweiß verändert. Die Froschgifte können diese Bakterien indessen auch zerstören, wenn diese mutieren.
Ein mexikanischer Frosch produziert einen Stoff, der den Blutdruck senkt und so dem Herzinfarkt vorbeugen kann. Ein anderer Frosch aus dem Norden des Kontinents vermag Blutkrebszellen zu stoppen.
Der Kambofrosch am Amazones produziert ein Gift, das Magenleiden ebenso lindert wie Migräne. Es enthält Demorphin, ein Narkotikum, das stärker wirkt als Morphium. Außerdem könnte es gegen Malaria eingesetzt werden.
Doch viele dieser „Heilfrösche“ könnten ausgestorben sein, bevor ihr Nutzen vollständig erkannt ist. Die Amphibien schwinden von allen Tiergruppen am schnellsten dahin; Grund ist ein Pilz, der sich über die Kontinente ausbreitet und schon mehrere Arten ausgelöscht hat, und gegen den es kein Gegenmittel gibt.
Neue Ausbeutung?
Ethnomedizinerinnen und -mediziner forschen am Amazonas nach Heilpflanzen, und Pharmakonzerne versprechen sich Millionengewinne. Biopiraterie in großem Ausmaß, steht zu befürchten: Die Indigenen haben das Wissen; reißen sich jetzt westliche Firmen die Patente unter den Nagel?
Zudem siecht die überlieferte Medizin der Indigenen selbst dahin; sie verlieren ihr Land an Agrarkonzerne, schlagen sich als Parias in ausufernden Megacitys durch; der Tropenwald schrumpft jährlich um 13 Millionen Hektar. Mit dem Regenwald verschwinden auch die Heilmittel – von denen viele noch nicht einmal entdeckt sind. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Flemmer, Andrea: Apotheke Regenwald; Natura Viva Verlag, Weil der Stadt, 2009
- Kaiser, Roman: Scent of the Vanishing Flora; Wiley VCH, 1. Auflage, 2010
- Ferreres, Federico et al.: Simple and reproducible HPLC-DAD-ESI-MS/MS analysis of alkaloids in Catharanthus roseus roots; in: Journal of pharmaceutical and biomedical analysis, Vol. 51, Issue 1, 2010, Science Direct
- Schüllner, Falko & Mur, Erich: Phytotherapie in der Rheumatologie; in: Zeitschrift für Phytotherapie, Vol. 33, Seite 158-167, 2012, ResearchGate
- Moss, Mark et al.: Modulation of cognitive performance and mood by aromas of peppermint and ylang-ylang; in: International Journal of Neuroscience, Vol. 118, Issue 1, Seite 59-77, 2008, Taylor & Francis Online
- Rahal, Anu et al.: Neem Extract; in: Nutraceuticals in Veterinary Medicine, Seite 37-50, 2019, ResearchGate
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