Viele Erstklässler mit ADHS-Diagnose – Frühe Einschulung erhöht das Risiko
21.10.2014
Viele Kinder erhalten im ersten Jahren nach der Einschulung die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – umgangssprachlich auch „Zappelphilipp-Syndrom“ genannt. Dabei scheint das Einschulungsalter eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen, berichtet die „Welt“ unter Berufung auf die Ergebnisse einer bislang unveröffentlichten Studie der AOK. Mittlerweile seien Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen hierzulande eine der am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei Kindern.
Die AOK-Studie basiert laut Angaben der „Welt“ auf bundesweit rund 3,5 Millionen Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren, die bei der AOK versichert sind. Die Auswertung der Daten habe ergeben, dass die Häufigkeit der ADHS-Diagnosen sich innerhalb von sieben Jahren verdoppelt hat. Vielfach werde Erstklässlern die Diagnose ADHS gestellt, wobei Kinder mit niedrigerem Einschulungsalter stärker gefährdet seien, als diejenigen, welche bei der Einschulung bereits längere Zeit sechs Jahre alt waren. Da die jüngeren Schüler allgemein oft einen niedrigeren Entwicklungsstand aufweisen als ältere Klassenkameraden, sind die vermehrten ADHS-Diagnosen hier möglicherweise schlichtweg auf ihr geringeres Alter zurückzuführen und nicht medizinisch begründet. „In vielen Fällen wird der altersgerechte Entwicklungsstand zu wenig berücksichtigt“, zitiert die „Welt“ den Autor der AOK-Studie und Vize-Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), Helmut Schröder.
Verdopplung der ADHS-Diagnosen in sechs Jahren
Den Ergebnissen der AOK-Studie zufolge erhielten im Jahr 2006 noch 2,3 Prozent der Kinder eine ADHS-Diagnose, während es im Jahr 2012 schon 4,6 Prozent der Kinder waren, berichtet die „Welt“. Damit hat sich die Häufigkeit der Diagnosen in relativ kurzer Zeit verdoppelt, doch die Kinder heute erscheinen nicht wirklich verhaltensauffälliger als noch vor sechs Jahren. Berücksichtigt wurden nur die handfesten Befunde, welche vom Arzt in mindestens zwei Quartalen ausgestellte wurden, berichtet das Nachrichtenjournal weiter. Verdachtsdiagnosen seien nicht eingeflossen. Auffällig ist die starke Verbreitung der Diagnosen bei Jungen. So erhält laut Angaben der „Welt“ knapp jeder zehnte Junge im Alter zwischen neun und elf Jahren eine ADHS-Diagnose, während bei den Mädchen nur etwa halb so viele betroffen seien.
Frühe Einschulung als Risiko für die ADHS-Diagnose?
Vielfach wird das Verhalten der Kinder erstmals in den ersten Jahren nach der Einschulung thematisiert. Die Erstklässler beginnen sich gerade an die Schule zu gewöhnen und haben mit den ersten Schwierigkeiten zu kämpfen, schon folgt die Sprechstunde mit den Klassenlehrern, in der das unruhige Verhalten und die mangelnde Konzentrationsfähigkeit der Kinder diskutiert werden, so die Mitteilung der „Welt“. Nicht selten fällt hier bereits erstmals das Stichwort ADHS. Insbesondere Kinder mit niedrigem Einschulungsalter, die erst kurz vor dem Stichtag sechs Jahre alt geworden sind, erhalten vermehrt die Diagnose ADHS, berichtet die Zeitung unter Berufung auf die Ergebnisse der AOK-Studie. Insgesamt habe die Diagnosehäufigkeit bei den jüngsten Kindern des Schulanfänger-Jahrgangs 2012/2013 bei 6,3 Prozent gelegen, während nur 5,4 Prozent der ältesten Mitschüler des selben Schuljahrgangs eine ADHS-Diagnose erhielten. Die jüngsten Kinder des Jahrgangs unterliegen demnach einer signifikant höherem Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose als ältere Mitschüler, was gegebenenfalls mit der frühzeitigen Verschreibung von Psychopharmaka einhergeht und die altersgerechte Entwicklung der Kinder nachhaltig beeinträchtigen kann.
Kinder unter vorschnellem ADHS-Verdacht
Für die besonders jungen Erstklässler besteht den Ergebnisse der AOK-Studie zufolge die Gefahr, dass altersgerechte Verspieltheit und typische Unbändigkeit als Symptome fehlgedeutet werden, die eine voreilige ADHS-Behandlung zur Folge haben, so die Mitteilung der „Welt“. Doch „wenn Kinder im Schulunterricht andauernd aufstehen, herumlaufen und auf die Ermahnungen der Lehrer nicht reagieren, kann das verschiedene Ursachen haben“, zitiert die Zeitung den Studienautor Helmut Schröder. Entweder liege es daran, dass das Kind noch besonders jung ist und lediglich seinem üblichen altersgerechten Spieltrieb folgt oder das Kind hat tatsächlich ADHS. Oft werde in der Schule durch die Lehrer auf eine mögliche ADHS hingewiesen und diese Vermutung dann durch besorgte Mütter und Väter an den Kinderarzt weitergetragen. „So gerät das betroffene Kind möglicherweise vorschnell unter ADHS-Verdacht“, zitiert die „Welt“ die Kritik des Studienautors.
Vermehrte Behandlung mit Psychopharmaka
Allgemein ist die Wahrscheinlichkeit einer Behandlung mit Psychopharmaka für die Schulkinder den Ergebnissen der AOK-Studie zufolge relativ hoch. So steige mit dem Schulstart auch der Einsatz von Medikamenten, schreibt die „Welt. Werden Kinder mit ADHS-Diagnose im Vorschulalter noch hauptsächlich mit Ergotherapie und Sprecherziehung behandelt, so erhöhe sich im Grundschulalter der Anteil der Patienten, die Arzneien zur Konzentrationsförderung einnehmen, auf 34 Prozent. Jedes dritte Grundschulkind mit ADHS-Diagnose erhalte Psychopharmaka, obwohl in Fachkreisen – nicht zuletzt aufgrund der Nebenwirkungen – ausdrücklich zur Zurückhaltung mit Wirkstoffen wie Methylphenidat (Handelsname zum Beispiel Ritalin) aufgerufen wird. Zudem hat die drastische Zunahme der ADHS-Diagnosen eine kritische Diskussion zu dem vermeintlichen Krankheitsbild ADHS ausgelöst. Oft werden temperamentvolle Kinder, die Schwierigkeiten mit dem klassischen Schulunterricht haben, als verhaltensauffällig eingestuft und erhalten die Diagnose ADHS, so die Kritik.
Schwierige Diagnosestellung bei ADHS
Grundsätzlich ist die Diagnosestellung bei ADHS relativ schwierig, da keine allgemeingültigen biologischen Tests oder Schwellenwerte zur Feststellung der komplexen Störung vorliegen, berichtet die „Welt“. Allerdings wurden durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und verschiedene Fachverbände Kriterien zur Diagnose der ADHS entwickelt. So müssen die Symptome zum Beispiel mindestens seit sechs Monaten auftreten und dabei schon vor dem sechsten Geburtstag erstmals in Erscheinung getreten sein. Auch müssen die Symptome eine deutliche Beeinträchtigung für das tägliche Leben der Betroffenen darstellen und es bedarf einer klaren Abgrenzung gegenüber anderen psychischen Störungen. Des Weiteren muss ausgeschlossen werden, dass die Beschwerden Folge der Einnahme von Medikamenten oder von organischen Erkrankungen sind, berichtet die „Welt“. Insgesamt sei das Risiko von Fehldiagnosen relativ hoch, weshalb Lehrer, Eltern und Ärzte hier gründliche Ursachenforschung betreiben sollten, berichtet die Zeitung unter Berufung auf den Autor der AOK-Studie, Helmut Schröder. Beispielweise würden die vermehrten ADHS-Diagnosen von einigen Experten auch als Folge des Zeitgeistes gesehen, wobei hoher Termin- und Erwartungsdruck Auslöser der Symptome seien, die zur ADHS-Diagnose führen können. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.