Adipositas behandeln: Regulation des Hungergefühls
Nicht nur hierzulande werden fettleibige Menschen häufig stigmatisiert und ausgegrenzt. Dabei ist Adipositas längst eine Volkskrankheit, die durch viele Faktoren entsteht. Auf manche davon haben Betroffene kaum oder gar keinen Einfluss. So stellt sich bei stark Übergewichtigen oft kein Sättigungsgefühl ein. Forschende berichten nun, dass ein Schalter, der über „hungrig“ oder „satt“ maßgeblich mitbestimmt, ein winziges Protein, nur wenige Nanometer groß ist.
Laut einer aktuellen Mitteilung ist es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Charité – Universitätsmedizin Berlin gelungen, das unter anderem für die Regulation des Hungergefühls zuständige Protein und mit ihm in Interaktion stehende Hormone als räumliche Strukturen im Detail abzubilden. Damit konnten die Forschenden die molekularen Mechanismen der Aktivierung, aber auch der Hemmung des Rezeptors im Fachmagazin „Cell Research“ beschreiben. Den Fachleuten zufolge können die neuen Erkenntnisse Grundlage für das Design nebenwirkungsarmer Wirkstoffe zur Behandlung stark übergewichtiger oder adipöser Patientinnen und Patienten sein.
Mechanismen der Appetitregulation entschlüsseln
Wie es in der Mitteilung heißt, sind Untersuchungen an den „Schaltern“ der Gewichtsregulation aktueller denn je. Es gilt Krankheiten zu behandeln, bei denen genetische Defekte zu einem Ausbleiben des Sättigungsgefühls und in der Folge einer ausgeprägten, schwer behandelbaren Fettleibigkeit schon in jungen Jahren führen.
Übergewicht ist eines der drängenden globalen Probleme. Damit einher geht ein erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Fehlfunktionen oder Diabetes. Stetig steigende Zahlen und langfristige Konsequenzen treiben Forscherinnen und Forscher weltweit an, die Mechanismen der Appetitregulation auf molekularer und letztendlich atomarer Ebene zu entschlüsseln.
Im Fokus des Interesses stehen vor allem die Auswirkungen genetischer Defekte auf Appetit und Hungergefühl wie auch die Suche nach möglichen Stellen, an denen im Krankheitsfall medikamentös eingegriffen werden kann.
Hemmung des Hungergefühls
In der jetzt vorliegenden Studie widmet sich das Team um Dr. Patrick Scheerer, Leiter der Arbeitsgruppe Proteinstrukturanalyse und Signaltransduktion am Institut für Medizinische Physik und Biophysik der Charité, einem zentralen Player im Prozess der Regulation des Hungergefühls und damit der Gewichtsregulation des Menschen.
Den Angaben zufolge handelt es sich um ein vorwiegend im Gehirn lokalisiertes Protein, das von Hormonen reguliert wird, die durch ein Andocken an das Protein entscheidende Signale für das Sättigungsgefühl auslösen. Solche Proteine werden Rezeptoren genannt – in diesem Fall ist es der Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R). Seine Aktivierung durch stimulierende Hormone (α-/ß-MSH) hemmt laut den Fachleuten das Hungergefühl.
Gegenregulator ist das sogenannte Agouti-related peptide (AgRP), das den Rezeptor blockiert und zu einem vermehrten Hungergefühl führt. Genetisch bedingte Fehlfunktionen an diesem „Schalter“-Protein führen sehr oft zu leichtem oder schwerem Übergewicht.
Prof. Dr. Peter Kühnen ist auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten spezialisiert, bei denen aufgrund von Gendefekten das Sättigungsgefühl unzureichend übermittelt wird. Auf der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten für diese Formen der Fettleibigkeit hat sich der Endokrinologe intensiv mit den Signalketten der menschlichen Gewichtsregulation befasst, Mutationen in für Botenstoffe und Rezeptoren zuständigen Genen untersucht und mögliche Wirkstoffe analysiert, die einzelne Botenstoffe ersetzen können.
Medikamentöse Behandlung mit Nebenwirkungen
Die Hürde bei einer medikamentösen Behandlung von pathologischem erhöhten Appetit: „Bisher sind diese pharmakologischen Interventionen von Nebenwirkungen begleitet. Diese reichen von einer Dunkelfärbung der Haut – das Melanocortin-Hormon ist unter anderem auch für die Pigmentierung von Haut und Haaren zuständig – bis hin zu kardiovaskulären Ereignissen“, erklärt Prof. Kühnen, der auch an der aktuellen Untersuchung mitgewirkt hat.
„Die Ursache dieser unerwünschten Wirkungen liegt im Aufbau der vorhandenen Medikamente“, so Studienleiter Dr. Scheerer. „Diese adressieren in der Regel nicht nur ein Ziel, sondern verschiedene Rezeptoren aus der gleichen Familie, die aber eine andere Rolle im Organismus spielen. Je genauer wir die Interaktionen zwischen den beteiligten Komponenten kennen, umso gezielter lässt sich eingreifen.“
Im Zuge der aktuellen Studie ist es gelungen, die räumliche Struktur des Hormon-Rezeptors MC4R, einem G-Protein-gekoppelten Rezeptor (GPCR), aufzuklären und sichtbar zu machen. Hierfür reichen herkömmliche optische Methoden aber nicht aus, denn das Protein ist in Nano-Größenordnungen angesiedelt, also winzig klein.
„Wir konnten mittels Kryo-Elektronenmikroskopie, einem hochmodernen Verfahren der Bildgebung, die dreidimensionale Struktur des Rezeptors – im Bereich von 0,26 Nanometer – auflösen und darstellen“, erläutert Nicolas Heyder, Wissenschaftler am Institut für Medizinische Physik und Biophysik und Erstautor der Studie.
„Dabei haben wir den aktiven Rezeptor in zwei Komplexen mit einem Haupteffektor, dem G-protein, der im Inneren der Zelle an den Rezeptor gebunden ist, abgebildet. Die beiden Komplexe unterscheiden sich durch zwei gebundene Hormonvarianten: Setmelanotide und NDP-α-MSH, zwei Wirkstoffe, die in den letzten beiden Jahren als Medikamente zugelassen wurden und die jeweils von einem winzigen Calcium-Ion stabilisiert werden.“
Es hat sich gezeigt, dass beide Rezeptorstrukturen Unterschiede in sehr kleinen, jedoch wichtigen Punkten hinsichtlich der Bindung der Wirkstoffe und des G-Proteins aufweisen. „Diese molekularen Details geben wichtige Hinweise darauf, warum und wie genau verschiedene Liganden, also Informationsmoleküle, die unterschiedlichen Signalwege des MC4R spezifischer beeinflussen. Für eine pharmakologische Intervention ist das von großer Bedeutung“, sagt Heyder.
Ansatzpunkte für eine gezielte Beeinflussung finden
Im Ergebnis beschreibt die neue Arbeit präzise bislang unbekannte Details in der Funktionsweise des Melanocortin-4-Rezeptors – wie er aktiviert, oder aber blockiert wird und wie ein Hormon jeweils mit dem Rezeptor-Protein interagiert und dadurch ein Signal innerhalb der Zelle auslöst.
„Wir erkennen jetzt kleinste Unterschiede im Zusammenspiel von Rezeptor-Hormonvarianten, die wichtig sein können, um neue Medikamente, deren Einsatz mit Nebenwirkungen einherging, weiter zu verbessern“, so Dr. Scheerer. „Die genaue Struktur der Hormonbindungstasche ist nun bekannt und kann gezielt adressiert werden.“
Dies ist ein Schlüssel im translationalen Verständnis zwischen endokrinologischen Aspekten, hier der Hormonregulation, und den strukturellen Eigenschaften zusammenspielender Proteine. Insbesondere konnten die Forschenden aufzeigen, wie sich ein bereits vor der Untersuchung bekannter, den Rezeptor inaktivierender Regulator – ein Antagonist – in seiner Bindung im Wesentlichen an nur einer Stelle vom aktivierenden Agonisten unterscheidet, sonst aber fast identisch gebunden ist.
„Dieser Unterschied deutet sehr genau darauf hin, an welcher Stelle der Rezeptor blockiert werden kann und wo eine sensible Schalterstelle für die Aktivierung des Proteins lokalisiert ist“, sagt Dr. Scheerer.
In künftigen Arbeiten wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch mehr über das System mit MC4R im Zentrum herausfinden und damit Ansatzpunkte für eine gezielte Beeinflussung. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Charité – Universitätsmedizin Berlin: Hungrig oder satt: Auf kleinste Details kommt es an, (Abruf: 28.09.2021), Charité – Universitätsmedizin Berlin
- Heyder N et al.: Structures of active melanocortin-4 receptor–Gs-protein complexes with NDP-α-MSH and setmelanotide; in: Cell Research, (veröffentlicht: 24.09.2021), Cell Research
Wichtiger Hinweis:
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