Schwierigkeiten junger ADHS-Patienten beim Übergang in die Erwachsenenmedizin
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine extrem häufig gestellte Diagnose bei Kindern und Jugendlichen. Die Erkrankung endet allerdings nicht schlagartig mit dem Übergang ins Erwachsenenalter. Doch die Therapie bricht mit Erreichen der Volljährigkeit oft ab und Betroffene fühlen sich – zu Recht – von der Medizin vernachlässigt.
Bei ADHS-Patienten zeigt sich beim Übergang ins Erwachsenenalter oft ein Bruch in der medizinische Behandlung, auch wenn die Störung – mit ihren Risiken – fortbesteht, warnen Forscher der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg angesichts der Ergebnisse ihrer aktuellen Untersuchung. Sie haben gemeinsam mit Kollegen der Universität Marburg eine Auswertung von Krankenkassendaten vorgenommen, um die therapeutische Versorgung der ADHS-Patienten in verschiedenen Altersstufen zu durchleuchten. Die Ergebnisse wurden im „Deutschen Ärzteblatt“ veröffentlicht.
Daten von 24 Millionen Versicherten ausgewertet
Der Oldenburger Versorgungsforscher Professor Dr. Falk Hoffmann, die Oldenburger Psychiaterin Prof. Dr. Alexandra Philipsen und der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Dr. Christian Bachmann analysierten für ihre Studie die Daten von rund 24 Millionen AOK-Versicherten aus den Jahren 2008 bis 2014. Dabei betrachteten die Wissenschaftler gezielt bestimmte Altersgruppen. Beispielsweise wurden die Daten einer Gruppe von 4.340 Jungen und 1.253 Mädchen ausgewertet, die bei Beginn der Aufzeichnungen im Alter von 15 Jahren waren und über einen Zeitraum von sechs Jahren begleitet wurden.
ADHS-Patienten im Erwachsenenalter nicht angemessen versorgt
Im Alter von 21 Jahren habe die Diagnose nur noch bei 31,2 Prozent der jungen Leute Bestand gehabt, obwohl eine anhaltende Störung bei etwa 50 Prozent zu erwarten wäre, erläutern die Forscher. Laut Prof. Philipsen ist die Auffassung, dass ADHS sich mit der Pubertät auswachse, heute längst überholt. „Die Hälfte der ADHS-Patienten zeigt auch im Erwachsenenalter noch Symptome, wie wir aus anderen Studien wissen“, erläutert die Expertin. Die medikamentöse Behandlung habe im selben Zeitraum noch stärker abgenommen Während noch 51,8 Prozent der 15-jährigen Patienten Medikamente gegen ADHS erhielten, waren es bei den 21-Jährigen nur noch 6,6 Prozent der ursprünglichen Gruppe, berichten die Forscher weiter.
Risiken bei unbehandelter ADHS
Wird ADHS nicht behandelt, birgt dies laut Aussage der Mediziner verschiedene Risiken wie beispielsweise ein höheres Risiko für Depression oder Persönlichkeitsstörungen,. Auch drohe Betroffenen oft ein schlechterer Schulabschluss oder Jobverlust sowie eine höhere Unfallgefahr und Sterblichkeit. Wenn beim Erreichen des 18. – spätestens des 21. Lebensjahres – die Zuständigkeit des Kinder- und Jugendpsychiaters oder Kinderarztes endet, sei daher ein guter Übergang in die erwachsenenmedizinische Versorgung umso wichtiger, betonen die Forscher.
Fehlende Kontinuität in der Versorgung
Den Experten zufolge wirkt sich der Mangel an Kontinuität in der medizinischen Versorgung negativ auf Gesundheit, Wohlbefinden und berufliches Potenzial der Betroffenen aus. Möglicherweise falle ein Teil der jungen Leute beim Wohnortwechsel aufgrund des Studien- oder Ausbildungsbeginns gewissermaßen durchs Raster, so Prof. Hoffmann. Dieses Phänomen sei auch bei chronischen körperlichen Erkrankungen zu beobachten. Nicht immer würden Jugendliche in der Erwachsenenmedizin ankommen, da sie beispielsweise nach einem Umzug zunächst keinen Arzt vor Ort haben, und dann erst wieder auftauchen, wenn sich ihre Beschwerden verschlimmern.
Rückläufige Medikation bei Jugendlichen
Die Studienautoren konnten nach eigenen Angaben jedoch auch einige positive Entwicklungen feststellen. So werteten sie es beispielsweise als erfreuliches Ergebnis, dass der Trend der jahrelang immer weiter ansteigenden Verordnungen von ADHS-Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen offenbar gestoppt wurde. Während im Jahr 2009 noch fast 52 Prozent der 13- bis 14-jährigen ADHS-Patienten Medikamente verschrieben bekamen, so waren es laut Analyse 2014 noch rund 43 Prozent. Die Ursache hierfür bleibe allerdings unklar. „Ob dieser Trend auch auf eine stärkere Nutzung psychotherapeutischer Therapieoptionen – wie Verhaltenstherapie oder Elterntraining – zurückzuführen ist“, kann laut Mitteilung der Universität Oldenburg nicht aus den Studiendaten abgeleitet werden.
Extrem hohe Diagnosehäufigkeit
Weiterhin auffällig bleibt die anhaltend hohe Diagnosehäufigkeit bei Kindern und Jugendlichen, die beispielsweise bei den neunjährigen Jungen im Jahr 2014 bei einem Anteil von 13,9 Prozent gelandet ist. Demnach leidet jeder siebte Junge in dem Alter an ADHS. Dies sei vermutlich Ausdruck einer „Überdiagnostik“, berichten die Autoren. Die Forscher gehen davon aus, dass der Grund hierfür eher in anderen Bereichen liegt. Diese könnten beispielsweise die „schulischen Adaptationsprozesse“ sein; weil in dem Alter die Entscheidung über die weiterführende Schule anstehe.
Steigende Medikationsquote bei Erwachsenen
Den Angaben der Forscher zufolge ist die Diagnosehäufigkeit in allen Altersgruppen gestiegen. Dies gelte auch für die Erwachsenen. Lag die Häufigkeit im Jahr 2009 bei den AOK-Versicherten im Alter bis 69 Jahre noch bei 1,17 Prozent, erreichte sie 2014 bereits 1,51 Prozent. Gut zwei Drittel der ADHS-Patienten seien dabei männlich. Und während die Häufigkeit der medikamentösen Behandlung von ADHS-Patienten im Kindes- und Jugendalter sank, sei sie bei den Erwachsenen gestiegen, schreiben die Wissenschaftler. Die höhere Diagnosehäufigkeit und Medikationsquote bei Erwachsenen führen die Experten auf eine verstärkte Sensibilisierung für ein Fortbestehen der ADHS bei Erwachsenen und auf eine verbesserte Versorgungssituation zurück.
Weiterhin viele unerkannte Fälle
Trotz der steigenden Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen gehen die Wissenschaftler allerdings von weiterhin vielen unerkannten ADHS-Fällen im Erwachsenenalter aus. Zwar sei die Diagnosehäufigkeit bei den 18- bis 69-Jährigen von 0,22 Prozent im Jahr 2009 auf 0,4 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Doch tatsächlich dürfte mindestens ein Prozent der Erwachsenen eine ADHS aufweisen – „und das wäre noch vorsichtig geschätzt“, so Prof. Philipsen. Die Studienautoren sprachen sich für einen Ausbau der ADHS-Erwachsenenambulanzen aus, um den Übergang junger ADHS-Patienten in die Erwachsenenversorgung künftig besser zu gestalten. Heute sei hier angesichts fehlender Einrichtungen mit monatelangen Wartezeiten auf einen Termin zu rechnen. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.