„Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesentlichen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewussten. Alle Schwierigkeit, ja alle scheinbare Unmöglichkeit eines wahren Verständnisses wird von hier aus deutlich.“ Carl Gustav Carus (1846). Träume spielen in der Kunst und Literatur Europas eine prägende Rolle – seit der Antike.
Inhaltsverzeichnis
Von der Antike bis zur Moderne
In den Dichtungen der antiken Griechen und Römer verschwimmt die Grenze zwischen Literatur und Glauben, weil Träume auch Botschaften der Götter beinhalten. In der Moderne ist das Traummotiv ein Joker des Autors, da die Leser oft im Unterschied zu den Figuren wissen, dass es sich um einen Traum handelt und welche Ursachen er hat. In der fantastischen Literatur entsteht zudem Spannung dadurch, dass der Leser wie Figuren oft nicht wissen, ob es sich um einen Traum handelt oder nicht.
Der Autor führt die Leser immer tiefer in eine Traumwelt ein und klärt erst am Ende auf, ob dies alles wirklich passiert und mit übersinnlichen Geschehnissen zusammen hängt, oder sich rational erklärt, wenn die Figuren aus dem Traum aufwachen. Oder aber, das Ende bleibt offen – hier bieten Alpträume eine Steilvorlage, weil Menschen bei realen Träumen die Stimmungen mit in das Tagesgeschehen nehmen.
Anarchische Lust an der Freiheit des Traums
Felix Krämer schreibt in seinem Essay „Schwarze Romantik – Eine Annäherung“: „Wenn sich in Dalis Gemälde Der Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Erwachen ein Tiger auf eine nackte Frau stürzt, wenn der Hinterleib dieses Raubtiers aus dem aufgerissenen Maul eines Fischs emporwächst und dieser sich wiederum aus einem Granatapfel herausschält, wenn das spitze Bajonett eines heran fliegenden Gewehrs sich in den Körper der Nackten zu bohren droht, während ein Elefant auf seinen endlos langen Spinnenbeinen vorbei spaziert, dann wird die anarchische Lust an der Welt des Traums überdeutlich.“
Der Maler Max Ernst, studierter Philosoph und Psychologe, forderte sogar „die Grenzen zwischen der sogenannten Innenwelt und der Außenwelt aufzulösen.“
Alpträume – Ein Spielplatz für Kreative
Alpträume bieten für Kunstschaffende einen reichen Nährboden: Sie sind durch keinen Rahmen eingeengt, als literarisches Motiv sprengen sie per se den von der Alltagsrealität vorgegebenen Rahmen; sie dürfen Logik und sogar Naturgesetzen widersprechen und ermöglichen so ein Höchstmaß an kreativer Entfaltung.
Folgerichtig badeten sich Goethe wie Schiller, Lessing oder Diderot in Träumen – mit einer wichtigen Einschränkung. Der Träumende bleibt im Zeitalter der Aufklärung in seine äußere Wirklichkeit eingebunden. Die Vernunft bettet das Traumgeschehen ein.
Die Schwarze Romantik
„Man kennt zwei seelischen Schichten, worin der Mensch hemmungsloser und unbedingter sich äußert: die Bezirke des Traums und des Unbewussten. Als man diese als entscheidende Kräfte akzeptierte, war (…) die Wendung zur Romantik vollzogen“, schrieb Einstein.
Gegen 1800 sahen Künstler der Romantik das Unerklärliche und Geheimnisvolle nicht mehr als Problem, sondern als Quelle der Inspiration. Statt für das Sicht- und Messbare begeisterten sie sich für das Numinose: Das Bizarre, der Wahnsinn und der Alptraum war ihnen attraktiver als das Makellose.
Die schwarze Romantik liebte das Irrationale, das Unheimlich-Gespenstische und das Dämonisch-Grosteske. Die ihr verfallenen Maler und Schriftsteller loteten die Welten der Alpträume, psychischen Störungen, Ängste und dunklen Seiten des Menschlichen aus, so weit es nur möglich war. Sie wollten überhaupt nicht mehr die Grenze zwischen Alptraum und Wirklichkeit zeigen, sondern diese Grenze in ihren Werken gerade aufheben.
Ihr Ideal war es, mit narrativen Formen dem Traum nahe zu kommen; ihre Figuren gerieten in Zwielicht, Dämmerung und Anderswelt, wo die Schatten zum Leben erwachen und der Schein Wirklichkeit wird. Die schwarze Romantik fängt da an, wo die Vernunft endet, und die Figuren des Verdrängten hervortreten. Der Alptraum wurde zum Vorbild eines poetischen Modells.
Piranesi und „Der Nachtmahr“
Der Künstler Giovanni Battista Piranesi zählt zu den Vorbildern der Schwarzen Romantik. Seine Stiche aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie „Die Zugbrücke“ zeigen unterirdische Verliese und bedrückende Settings.
Führende Schriftsteller der Schwarzen Romantik wie Horace Walpole, Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire oder E.T. A. Hoffmann interpretierten Piranesis Visionen als in Kunst umgesetzte Alpträume des Künstlers.
Ein weiterer Meilenstein der im Bild festgehaltenen Alpträume war „Der Nachtmahr“ Johann Heinrich Füsslis von 1781. Nightmare bedeutet im englischen Alptraum und bezeichnet zugleich ein dämonisches Pferd. Alptraum kommt vom Alb (Elf), der sich im Volksglauben bei einem schrecklichen Traum, dem Träumer auf die Brust setzte.
Füssli setzte diese Vorstellungen direkt um. Eine Frau im weißen Nachthemd liegt schlafend auf ihrem Bett, während ein hässlicher nackter Alb auf ihrer Brust hockt, ein Geschöpf mit übergroßen Ohren, dem Gesicht eines alten Mannes mit affenartigen Zügen und einem boshaften Ausdruck im Gesicht. Aus der Dunkelheit im Hintergrund blickt ein geisterhaft graues Pferd mit weißen Augäpfeln ohne Pupillen.
Johannes Grave schreibt in seinem Essay „Die „Nachtseiten der bildenden Kunst“ um 1800“: „Offenkundig zeigt das Bild weder ausschließlich die vom Alptraum bedrängte Frau noch allein den schaurigen Traum selbst. Die Wirklichkeit der Schlafenden und ihr Traumgeschehen verschmelzen indes in einer Art und Weise, die auch den Betrachter schaudern lässt.“
Wie dies geschieht, schildert Grave: „Er mag sich zwar zunächst in sicherer Distanz zum dargestellten Geschehen wähnen, sein Blick droht aber im selben Maß voyeuristische Züge anzunehmen, wie es die Augenpaare des Albs und des Pferdekopfs suggerieren.“ Auch der Betrachter verliert die Kontrolle: „Dass ein solcher Blick nicht mehr von rationaler Kontrolle und Souveränität zeugt, veranschaulichen die geisterhaft leeren und dennoch seltsam leuchtenden Augäpfel des Pferdes. Der Blick selbst scheint zu einer Quelle von Gewalt und Schrecken zu werden.“
Es gibt, so Grave, keinen objektiven Blick: „Auf diese Weise führt Füsslis Nachtmahr nicht nur jene eigentümliche Grenzüberschreitung zwischen Wirklichkeit und Fiktion vor Augen, wie sie jedem Traumbild eigen ist. Das Gemälde verdeutlicht vielmehr, dass wir keinen sicheren, externen Standpunkt gewinnen können, um als vermeintlich Unbeteiligte auf die Eigendynamik der traumhaften Erscheinungen zu blicken.“ Füssli nahm derart künstlerisch Erkenntnisse der modernen Traumforschung vorweg.
Füsslis Themen waren der ewige Konflikt zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Traum und Wachzustand.
Sigmund Freud hängte eine Kopie des „Nachtmahrs“ in den Eingang seiner psychotherapeutischen Praxis.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
1797 zeichnete Francisco de Goya die ersten Skizzen seiner Werkes „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, die heute im Museo Nacional del Prado in Madrid zu sehen sind. Grave schreibt: „Es ist die Geburt von Phantomen und Monstren aus dem Zusammenspiel von freier Einbildungskraft und entfesselter Zeichenhand, der sich der Betrachter ausgeliefert sieht. (…) Die Zeichnung, so zeigt sich bald, gibt die Eigenaktivität der Einbildungskraft in Schlaf und Traum nicht nur wieder, sondern ist deren Austragungsort und Vollzugsform.“
Goya verrückte also auch mit seinem Stil die Grenze des Wirklichen: „Er bietet die Grundlage dafür, dass sich die unheimlichen, grausamen oder peinlichen Szenen weder eindeutig der Wirklichkeit noch allein einer fernen Fantasiewelt zuschlagen lassen. Indem Goya auf die klassische Linearperspektive und damit auf eine unmissverständliche Klärung der räumlichen Verhältnisse verzichtet und stattdessen den bald als Fläche, bald als Tiefe erscheinenden Grund (…) zur Geltung bringtm siedelt er seine Darstellungen in einer ortlosen Zwischenwelt an, die dennoch voll von Bezügen zur Wirklichkeit ist.“
Seine Kunst „dient nicht mehr allein dazu, die kaum kontrollierbaren Bildwelten der Einbildungskraft anschaulich werden zu lassen, sondern hat selbst entscheidenden Anteil an der Hervorbringung dieser unheimlichen Bilder,“ so Grave.
Hubertus Kolbe interpretiert das Werk in seinem Beitrag „Albtraum-Angst-Apokalypse. Das Unheimliche und Katastrophale in der Kunst der Moderne“: „Die Ungeheuer kommen immer dann hervor, wenn sich die Vernunft zurückzieht – um dem Unklaren der Imagination, den wilden Sprüngen der Fantasie, dem Unkontrollierbaren der Kreativität den Vortritt zu lassen.“ Er gibt auch eine Erklärung, warum Alpträume nicht nur erschrecken, sondern auch anziehen: „Das Furchtbare ist anziehend und abstoßend zugleich, es fasziniert und erzeugt Ekel, wer ihm verfällt, wird sich nur um den Preis der (…) Langeweile wieder von ihm lösen.“
Träume der Todesangst
Werke der Romantik von Baudelaire bis Novalis, von Tieck bis Kleist, von Hoffmann bis Poe sind ohne Träume unmöglich. Manche Geschichten von E.T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe sind nichts anderes als Literatur gewordene Träume der Todesangst, Baudelaire feiert die bizarre Entgrenzung, wie wir sie in Alpträumen erleben.
Der Träumende ist der Held der Romantik
Die Wirklichkeit war für die Romantiker ihre erträumte Märchenwelt, das Unbewusste, ihr Held der sehnsuchtsvolle Träumer, der Genuss der höchste Zweck des
Lebens. Fantasie und Gemüt sollten die nüchterne Welt mit Leben füllen, Unklarheit und Uneindeutigkeit, Verschwimmen der Formen und Genres setzte die Opposition zum Primat des Verstandes. Völlige Subjektivität, Individualisierung, Freiheit, Weltoffenheit waren die Einstellungen, die die Romantiker den bürgerlichen Tugenden der Moderne, dem Fleiß, der Genauigkeit, der Pünktlichkeit und der Sparsamkeit entgegenstellten.
Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit sprengen
„Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“, schrieb der Romantiker Novalis. Die romantischen Dichter bauten Illusionen auf, die sie zerstörten; sie wollten das Leben poetisieren; sie erweiterten sich die Freiräume für Einfühlsamkeit, sie zelebrierten alle Transitionen, den Transvestivismus und stellten die freie Fantasie über die Form. Sie wollten die Grenze zwischen Wissenschaft und Poesie, Traum und Wirklichkeit sprengen.
In den Geschichten und Bildern der Romantiker ist Imagination und Realität nicht klar zu trennen, sie wirken gerade durch das Spiel mit Illusion und Desillusion und stellen die Sinneseindrücke des Lesers wie Betrachters auf die Probe.
Mareike Hennig schreibt in „Was du im Dunkeln gesehen… Schwarze Romantik in der deutschen Malerei bis 1850“: „Dunkel und Nacht beherbergen in der Romantik eben nicht mehr nur Gefahr und Schrecken, sondern auch Geheimnis und Traum, Gebiete, die in Abgründe, aber auch zur Erkenntnis führen können, ambivalent und reizvoll zugleich.“
Roland Borgards beschreibt in „Das Licht ward entfernt – Zur Literatur der Schwarzen Romantik“ die besondere Bedeutung der Nacht und des Traums für die Romantik: „Der aufklärerischen Vorliebe für den Tag, die Helligkeit, die Klarheit und damit verbunden das Sehen, das Denken, die Ordnung und die Rationalität steht mit der der Romantik eine offenbar lichtempfindliche, lichtscheue Epoche entgegen.“
Im Gefolge der Aufklärung
Zugleich setzt aber die Leidenschaft der Romantiker für das Unbewusste, den Wahnsinn und den Alptraum die Aufklärung voraus. Die Psychologie in der Literatur entfaltet sich das erste Mal in der Romantik und ihrem Bedürfnis, die Schatteninhalte der Psyche so unmittelbar wie möglich auszudrücken.
Novalis hielt nicht viel vom rationalen Denken. Es war für ihn „nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blassgraues, schwaches Leben”. Im Traum vermuteten die Romantiker den Kern der Poesie – diese aber sahen sie als wesentliche Quelle der Erkenntnis.
Psychoanalyse und regressive Sehnsucht
Eine Vorahnung der Jahrzehnte später in der Psychoanalyse diskutierten Bedeutung des Unbewussten verband sich mit der Sehnsucht danach, archaischen Ursprüngen des Menschseins nahe zu kommen. So skizzierte Schlegel Träume als „Faden eines andern dunklen Bewusstseins, (…) welches scheinbar im regellosen Spiel umherirrt, eigentlich aber nur einem andern und eignen Gesetz der bildlichen Ähnlichkeit oder der Wahlverwandtschaft des innern Gefühls folgt; und diesem in dunklen und hellern Bildern nach bewusstem und unbewusstem Gefühl waltenden Vermögen der Einbildungskraft ist außerdem, dass es die Herrschaft über den besonnenen und wachen Zustand des Menschen mit der Vernunft teilt, auch die dunkle Traumwelt des schlummernden Bewusstseins dahin gegeben.”
Trancezustände
Der romantische Maler Caspar David Friedrich schrieb: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“ Das wirklich Bedrohliche entsteht demnach nicht in der Außenwelt, die der Mensch abbildet, sondern in seinem eigenen Gehirn – das gilt auch für den Alptraum.
In Deutschland verbanden die Romantiker die Vorstellung eines Systemwandels mit einem Rückzug aus der Gesellschaft; die Verklärung des Alltags sollte ihn verändern. Rousseaus Idee des Naturzustands gab das Vorbild für die Verherrlichung eines ursprünglichen unreflektierten Weltverständnis, das die modernen Menschen verloren hatten und nur bei Kindern und im Volk noch vorhanden war.
Eine Sehnsucht, deren Ziel unbestimmbar bleiben musste, fand ihre Orte: Ruinen, Burgen, Friedhöfe, Wälder, Höhlen und allgemein ursprüngliche Naturlandschaften, aber auch das “Morgenland”, den “Orient” oder andere ferne Länder.
Romantiker wie Clemens von Brentano begaben sich bewusst in Zustände zwischen Traum und Wachheit und versuchten, die dort auftauchenden Bilderwelten festzuhalten. So entstanden äußerst assoziative Stimmungen, immer verbunden mit einer alles überlagernden Krise und einer Untergangsatmosphäre, die keine literarischen Grenzen kannte: Alptraum, Todesahnung und Gefühl gingen ineinander über.
Ludwig Tieck, Joseph von Eichendorff, aber auch Baudelaire und Edgar Allan Poe schufen neue Möglichkeiten, den Alptraum in die Literatur einzubringen. Wegweisend waren unter anderem „Die Elixiere des Teufels“ (1815-16) von E.T. A. Hoffmann.
Kunst und Psychoanalyse
In der Frühzeit der Psychoanalyse, 1881, schuf Max Klinger die Grafik „Ängste“: Ein Mann liegt schlafend auf einem Kissen. Horrorfiguren leiten den Träumenden zu einem Handschuh, der in der Grafikreihe zu einem Fetisch der Liebe wurde, sich aber aber jetzt zu einer Gefahr verwandelt.
Kohle schreibt, dass (Klingers) durchaus modernen Blätter nicht nur inhaltlich, sonderngerade auch strukturell die Assoziativität des Traums in eine ästhetisch adäquate Form bringen.“
Odilon Redon zeigte schließlich in „Ich sah ein großes fahles Licht“ nicht mehr den Träumenden, sondern den Alptraum selbst, ein großes, fahles Licht, das sich aus Dunkelheit herausdrängt. Redon malte „wie ein Traum“, so Kohle: „Die Elemente einer kohärenten Erzählung werden so zusammengestellt, dass die Kohärenz verloren geht. Das den Betrachter auf das Tiefste Verwirrende resultiert noch mehr aus dieser Disparität als aus dem Düsteren der (…) Erzählung selber.“
Die Expressionisten
Die Romantiker berauschten sich an allen Traumwelten. Bei den Expressionisten nach dem und während des ersten Weltkriegs stand jedoch der Alptraum im Mittelpunkt. Werke wie „Kokain“ von Gottfried Benn oder „Verfall“ von Johannes R. Becher sind in Worte gefasste Träume vom Untergang, der Zerstörung des Menschen und der Vernichtung der Welt.
Der Surrealismus
„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität“, postulierte 1924 der Begründer des Surrealismus, André Breton.
Den Surrealismus prägten ebenso Freuds Traumdeutungen wie die Alpträume des Expressionismus. Das Unbewusste war ihnen der Urgrund der Kunst, die eigene Psyche zentrales Thema ihrer Kunst. Wahrheit suchten sie im Rausch, Wahnsinn und in Träumen. Aus Widersprüchen wie Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit sollte einer traumhafte Überwirklichkeit entstehen, um die Menschen zu befreien.
Ingo Borges schreibt in „Die Allmacht des Traums. Romantik und Surrealismus“: „(…) keine „Gothic novel“ kommt ohne Nachtbilder aus. Auch für die Surrealisten war die Nacht die Zeit, in welcher der Mensch auf sich zurückgeworfen und im Traum mit Verdrängtem und Unbewussten konfrontiert wird.“
Die Alptraumwelten von H.P. Lovecraft
Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) zählt zu den bekanntesten Autoren unheimlich-fantastischer Geschichten. Vor allem handelt es sich bei seinen Erzählungen um Universen der Angst. Unmenschliche Wesen beherrschen seine Welten, für diese sind die Zivilisationen der Menschen nur ein Spielball kosmischer Machtspiele.
Literatur und Traum
Lovecrafts Qualität besteht nicht in raffinierten Handlungen, komplexen Charakteren oder erstaunlichen Pointen, sondern darin, den Leser unmittelbar in die Bilder von Alptraumwelten hinein zu ziehen. Sein literarisches Können war stets umstritten, handwerklich hielten ihn viele Kritiker für einen Dilettanten, dessen gehäufte Adjektive und wiederkehrende Muster von alten Büchern, finsteren Kulten und ominösen Kreaturen an die Groschenromane erinnern würden. Dies sei dahingestellt.
Wichtig ist bei dem Autor jedoch die Verbindung von Literatur und Traum. In Lovecrafts sich wiederholenden kosmischen Bedrohungen, Höllenschlunden, verfallenen Städten, fauligen Dschungeln und „unbeschreiblichen“ Monstern aus einer anderen Welt spiegeln sich Bilder des Unbewussten, wie sie im Traum auftreten. Lovecraft analysiert nicht den Zerfall der individuellen Psyche wie Edgar Allan Poe, sondern er stellt die Abgründe dar, statt sie aufzuklären und lässt die Bilder also solche stehen.
Der Erzähler gerät in einen Alptraum
Wie in einem schlimmen Traum erleben Lovecrafst Erzähler Geschehnisse, die in ihre Ordnung von Raum und Zeit nicht hineinpassen. Im Gegensatz zur klassischen Kurzgeschichte sind dabei die Handlungen der Erzähler für dieses Grauen vollkommen unwichtig – außer, dass sie die Büchse der Pandora öffnen. Abscheuliche Riten, dunkle Kulte, Wälder voller Monströsitäten zeichnen in atmosphärischer Dichte selbst den Schrecken aus. Der einzelne Mensch ist unwichtig, die Welt selbst wird zum Grauen, das ist den Mustern von Traumbildern vergleichbar.
Alpträume zeigen die Wahrheit
Auch in den Geschichten selbst spielen die Träume der Erzähler eine entscheidende Rolle, sei es, dass ein Mensch in „Schatten aus der Zeit“ von seiner Existenz im Körper einer uralten Spezies träumt und damit von einer erfahrenen Wirklichkeit, sei es in der „Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“, dass der Erzähler durch seine Träume zum Weltenschöpfer wird.
Die Erzähler, ob Künstler oder Wissenschaftler erkennen, dass die Mythen der alten Bücher und Überlieferungen, die sie selbst für Ammenmärchen hielten, wahr sind. Sie entwerfen eine alltägliche Erklärung nach der anderen für den Schrecken, und zweifeln dennoch Schritt für Schritt mehr an ihren rationalen Erklärungen. Traumbilder, die wie bei C.G. Jung Muster des Unbewussten sein könnten, werden empirisch bestätigt und kommen in die wirkliche Welt. Die Welt wird anormal.
Entsetzen ohne Erwachen
Statt aus dem Traum zu erwachen, merken die Erzähler am Ende, das „alles stimmt“. Einzelne Bilder kehren immer wieder wie das Heulen des Windes in „Berge des Wahnsinns“. Der Erzähler selbst erschrickt vor seinen Erlebnissen, wie in einem Traum vor dem Erwachen verdichten sich die Bilder am Ende der Geschichten immer mehr. Sie ähneln immer mehr Fieberfantasien, Psychosen oder Manien, also den Zuständen, in denen innere und äußere Wirklichkeit für die Betroffenen nicht mehr unterscheidbar sind.
Traum, Wahn und Wirklichkeit
Der Erzähler selbst hält die Erlebnisse für Träume, bis er, in der Psychiatrie oder der Vorbereitung zum Suizid, merkt, dass sie keine sind. Bilder des Unbewussten, wie sie sich im Traum verbreiten, werden in den Erzählungen des Autors zu einem Geschehen in der materiellen Welt. In eben dieser Grenzüberschreitung liegt das Grauen von Lovecrafts Geschichten.
Traum ohne Auflösung
Seine Mythenwesen, alte Götter, Yog-Sothoth, Cthulhu oder Shub-Niggurath, bleiben im Geheimnisvollen, wie ein Traum, der nicht durchanalysiert, nicht seziert, nicht klassifiziert ist. Dieses Dunkel, diese Unklarheit, in Freuds Begriffen das Es, überwältigt die Erzähler, und im besten Fall den Leser. Es gibt keine Auflösung, die Struktur und Ordnung bringen könnte. Das Unbekannte selbst löst wie im Traum die Angst aus. Ein erklärter Cthulhu ist nicht mehr schrecklich, ebenso wie ein verarbeiteter Traum. Höhlen liegen unter Höhlen, Abgründe unter Abgründen, Architektur besteht aus unbekannter Geometrie, die den Naturgesetzen zuwiderläuft, so, wie Menschen es jede Nacht in ihren Träumen erleben.
Fantastischer Realismus
Lovecrafts fantastischer Realismus besteht wie die Grenze zwischen Traum und Wachzustand in dem Zusammenprall zweier Welten, einer normalen und einer fantastischen. Der Clou bei ihm besteht darin, dass die fantastische Welt die wirkliche ist.
Diese andere Welt verbirgt sich hinter der normalen Welt, und sie ist grauenhaft. Träume, Schlafwandeln, wirres Sprechen im Schlaf, Veränderungen von Raum und Zeit bauen zum Beispiel in „Träume im Hexenhaus“ das Grauen auf. Diese zwei Welten drücken sich auch darin aus, dass moderne Wissenschaftler mit den archaischen Schrecken konfrontiert werden, mit Hexen und Ungeheuern.
Regression des Lesers
Das bedeutet, der Schriftsteller zwingt seine Leser vom technischen Denken der Neuzeit in die ältesten Muster der Psyche, der Kindheit und Traumsymbole zurück. Der Mythos, die plastische Darstellung des Unbewussten, durchdringt bei Lovecraft die Wissenschaft. Es könnte sich auch um Träume von Wissenschaftlern seiner Zeit handeln, evolutionär veränderte Tierspezies, Hypothesen über vierte Dimensionen, die Möglichkeit des Lebens auf anderen Planeten.
Neue Mythen, altes Unbewusstes
Der Autor stellt zwischen neuen Mythen und altem Unbewussten eine Linie her. Letztendlich sind die „alten Götter“ nicht nur feindselig gegenüber den Menschen, sie sind auch vollkommen amoralisch, wie Schreckensbilder im Traum. Lovecrafts Beitrag zur fantastischen Literatur besteht darin, dass er die uralten Muster des Unbewussten im technischen Zeitalter zu neuem Leben erweckte. (Dr. Utz Anhalt)
Literatur:
Felix Krämer (Hg.): Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst (Austellungskatalog). Frankfurt am Main 2012.
Autoren- und Quelleninformationen
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