Welt-Autismus-Tag 2015: Gegen Diskriminierung von Autisten
03.04.2015
Autismus ist eine Entwicklungsstörung, bei der Betroffene Schwierigkeiten mit der Dechiffrierung von Gestik und Mimik haben. In der Folge verstehen sie häufig nicht, was andere meinen. Dennoch können Autisten – häufig mit Unterstützung – ein normales Leben führen und beruflich Fuß fassen, sofern sie klare Arbeitsanweisungen erhalten und nicht überfordert werden. In der Gesellschaft herrscht jedoch nicht selten das Bild des unselbständigen Menschen mit geistiger Behinderung, der ohne fremde Hilfe kaum den Alltag bewältigen kann. Angesichts des Welt-Autismus-Tags am 2. April wollen Ärzte, Organisationen und Betroffene auf die Diskriminierung aufmerksam machen, der viele Autisten ausgesetzt sind und durch die sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Die Nachrichtenagentur „dpa“ sprach mit einem Betroffenen und Experten über das Thema.
Beruflich Fuß fassen mit Autismus
Leif Petersen ist Auszubildender in einem Hamburger Reformhaus. Der zukünftige Verkäufer hat seinen Traumjob gefunden, wie er der Nachrichtenagentur erzählt. Der 29-Jährige ist Autist. Die Entwicklungsstörung hat zur Folge, dass er nicht mehrere Dinge gleichzeitig machen kann und klare Anweisungen von seiner Vorgesetzten benötigt, um einen reibungslosen Arbeitsablauf zu gewährleisten. Zu Petersens Aufgaben gehören unter anderem die Beratung von Kunden, der Verkauf von Brot und Aufräumtätigkeiten. An zwei Tagen in der Woche geht er zur Berufsschule. Wer den freundlichen Mann hinter dem Verkaufstresen sieht, würde vermutlich nicht auf die Idee kommen, dass er an Autismus leidet.
„Ich brauche eine Chefin, die mir klare Anweisungen gibt, die auch Verständnis für meine Situation hat", sagt der zukünftige Verkäufer für Reform- und Diätwaren. Die Reformhausinhaberin ist von der Arbeit des 29-Jährigen sehr angetan. „Herr Petersen ist über ein langes Praktikum gekommen. Da hat er sich so gut gezeigt", berichtet Tanja Parker gegenüber der Nachrichtenagentur. „Das ist ein junger Mann, der wahnsinnig freundlich ist und auf den man sich total verlassen kann." Er habe aber Schwierigkeiten dabei, mehrere Sachen gleichzeitig zu machen. Problematisch sei auch Schriftliches und der Umgang mit Zahlen.
Die fachlichen Fähigkeiten sind bei Autisten häufig nicht eingeschränkt
Petersen hat zuvor bereits eine Ausbildung als Sozialtherapeutischer Assistent und eine als Gärtner im Obstanbau absolviert, zudem ein längeres Praktikum in einer Karosseriebaufirma. „Diese Arbeit war nicht so mein Ding", erklärt der angehende Verkäufer. Es habe Probleme mit den Kollegen gegeben. Im Reformhaus fühle er sich dagegen sehr wohl. „Das ist eine wunderbare Arbeit." Seine Chefin ist bereit, ihm mehr Zeit und Unterstützung bei seinen Aufgaben zu geben. Parker kennt die Probleme von Menschen mit einer Entwicklungsstörung, da sie selbst ein betroffenes Kind hat. Sie ärgere sich darüber, dass die Inklusion in der Schule nicht funktioniere.
Friedrich Nolte vom Bundesverband Autismus Deutschland betont im Gespräch mit der Nachrichtenagentur, dass Autisten meist keine Einschränkungen im fachlichen Bereich hätten. Vielmehr würden Probleme bei informellen Dingen auftreten. So kämen manche regelmäßig zu spät oder hätten Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kollegen. „Durch solche Dinge kann es dann schwierig werden", so Nolte.
Autisten werden häufig diskriminiert
Nicht selten werden Autisten diskriminiert. Angesichts des heutigen Welt-Autismus-Tages machen Experten und Organisationen wie der Bundesverband Autismus weltweit auf das Problem aufmerksam. So werde Kindern mit einer autistischen Störung oft der Zugang zur gewünschten Schulform versagt, Erwachsene hätten meist wenig Chancen auf einen Arbeitsplatz. Durch diese „Benachteiligungsspirale" von unzureichender Schulbildung über Arbeitslosigkeit und geringem Einkommen würden die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft gedrängt, erläutert Vereinsvorsitzende Maria Kaminski gegenüber der Nachrichtenagentur.
Astrid Grothe von autWorker, einer Hamburger Genossenschaft, die Menschen mit Autismus bei der beruflichen Integration unterstützt, kennt die Schwierigkeiten. Bereits im Vorstellungsgespräch würden 80 bis 90 Prozent der Autisten scheitern, berichtet sie gegenüber der Agentur. Mittlerweile haben einige IT-Firmen aber sogar gezielt Stellen für Menschen mit dem Asperger-Syndrom, einer leichteren Form des Autismus, geschaffen. Die Unternehmen wollen die einzigartige Fähigkeitender Betroffenen hinsichtlich ihres analytisch-logischen Denkens, der Genauigkeit, des Konzentrationsvermögens und der Mustererkennung nutzen, um beispielsweise auch kleinste Softwarefehler von ihnen aufspüren zu lassen. Die durch die Entwicklungsstörung begründeten Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Interaktion könnten durch Jobcoaches ausgeglichen werden, die den direkten Kontakt zu den Kunden übernehmen. Der Konzern SAP will bis zum Jahr 2020 ein Prozent seiner Stellen mit Mitarbeitern mit dem Asperger Syndrom vor allem in den Bereichen Programmierung, Software-Tests und Qualitätssicherung besetzen.
Dieses Beispiel zeigt, dass Autisten wichtige Aufgaben in Unternehmen übernehmen können. Auch wenn sie in anderen Bereichen, wie dem fehlenden Vermögen zwischen den Zeilen lesen zu können, Defizite haben, wie Daniel Schöttle, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, gegenüber der Nachrichtenagentur erläutert. „Wenn jemand in mein Büro kommt und sagt: ,Hier ist es aber frisch!’, dann würde ich das als Aufforderung verstehen, das Fenster zu schließen. Ein Autist würde nur antworten: ,Ja, hier ist es frisch.’"
UN-Berichterstatter machen auf Diskriminierung von Autisten aufmerksam
Den Vereinten Nationen zufolge seien weltweit etwa ein Prozent der Weltbevölkerung, rund 70 Millionen Menschen, von Autismus betroffen. Viele würden unter Diskriminierung und Verletzung ihrer Menschenrechte leiden, teilen der UN-Berichterstatter für Behinderte und für das Recht auf Gesundheit in einer gemeinsamen Erklärung mit. In vielen Ländern seien Autisten mehr oder weniger auf sich allein gestellt, es gebe keine besondere Fürsorge, die es möglich mache, ihr Recht auf Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umzusetzen. Autisten seien häufig entwürdigenden Praktiken ausgesetzt, die unter dem Deckmantel einer Behandlung oder Schutzmaßnahme ergriffen würden, kritisieren die UN-Berichterstatter. (ag)
>Bild: Tim Reckmann / pixelio.de
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