Autoimmunerkrankungen möglichst früh behandeln
Bei Autoimmunerkrankungen ist das Immunsystem fehlgesteuert und körpereigene Strukturen – Zellen und Organe – werden angegriffen. Für manche dieser Krankheiten sollte eine frühzeitige und kostengünstige Therapie bereitgestellt werden, um eine langfristige Behinderung zu verhindern und die Lebensqualität zu erhalten.
Forschende der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) haben eine Studie zu den Autoimmunerkrankungen Neuromyelitis optica Spektrumerkrankung (NMOSD) und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierte Erkrankungen (MOGAD) durchgeführt und ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift „Neurology“ veröffentlicht.
Kosten von rund 60.000 Euro pro Jahr
Wenn es um seltene Erkrankungen geht, fehlt es häufig an aussagekräftigen Studien und Erkenntnissen über die sozioökonomischen Krankheitskosten und die Lebensqualität der Betroffenen. Laut einer aktuellen Mitteilung hat die Klinik für Neurologie der MHH hier nun eine Lücke geschlossen.
In einer multizentrischen Studie untersuchte ein Forschungsteam diese Aspekte bei den seltenen Autoimmunerkrankungen Neuromyelitis optica Spektrumerkrankung (NMOSD) und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierte Erkrankungen (MOGAD).
Die Fachleute stellten fest, dass die Erkrankungen mit durchschnittlich rund 60.000 Euro pro Jahr für die Betroffenen, ihre Familien und die Gesellschaft mit hohen Kosten verbunden sind. Und auch die Auswirkungen auf die Lebensqualität sind enorm – abhängig vom Schweregrad der Krankheit.
Bleibende Beeinträchtigungen möglich
Den Angaben zufolge sind NMOSD und MOGAD autoimmune Erkrankungen, die ähnlich wie Multiple Sklerose (MS) in der Regel schubförmige Entzündungen des zentralen Nervensystems (ZNS) verursachen. Oft betroffen sind das Rückenmark und die Sehnerven. In Deutschland leiden rund 2.000 bis 2.500 Menschen an einer NMOSD.
„Die Krankheitsschübe können beispielsweise Sehstörungen bis hin zur Erblindung, Muskelkrämpfe und Lähmungen, Schmerzen sowie Harn- und Stuhlinkontinenz verursachen. Trotz intensivierter Schubtherapie kann es zu bleibenden Beeinträchtigungen kommen“, erläutert Professorin Dr. Corinna Trebst, Studienleiterin und stellvertretende Direktorin der Klinik für Neurologie.
Informelle Pflegekosten als wichtigster Kostentreiber
„Zuverlässige Aussagen über die krankheitsbedingten Kosten und die Lebensqualität stellen eine Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen und zur Steigerung der Versorgungsqualität für unsere Patientinnen und Patienten dar“, erklärt der Initiator und Erstautor Dr. Martin Hümmert den Hintergrund der Studie. Bislang gab es in dieser Hinsicht keine ausreichenden Daten zur NMOSD und MOGAD.
In die multizentrische Studie, die Dr. Hümmert gemeinsam mit Professorin Trebst koordinierte, konnten 212 Patientinnen und Patienten eingeschlossen werden – für eine seltene Erkrankung eine sehr große Anzahl.
Es wurden umfassende Angaben zum Verbrauch medizinischer und nicht-medizinischer Ressourcen und zur Arbeitsfähigkeit der Patientinnen und Patienten erhoben. Die durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Gesamtkosten der Erkrankung beliefen sich auf etwa 60.000 Euro.
Der wichtigste Kostentreiber waren informelle Pflegekosten, also finanzielle Belastungen, die dadurch entstehen, dass zum Beispiel nicht Pflegedienste die Betreuung der Betroffenen übernehmen, sondern Angehörige. Häufig müssen diese dafür ihre Arbeitszeit beträchtlich reduzieren. „Der Anteil der informellen Pflege an den Gesamtkosten liegt bei 28 Prozent“, so Trebst.
Weitere Kostentreiber sind indirekte Kosten, etwa für behindertengerechte Umbauten am Haus sowie für Arzneimittel, insbesondere Immuntherapeutika. „Mit zunehmender Schwere der Erkrankung steigen die sozioökonomischen Kosten dramatisch an“, sagt Dr. Hümmert.
„Gleichzeitig sinkt die Lebensqualität der Betroffenen.“ Im Durchschnitt wiesen die Patientinnen und Patienten eine schlechtere Lebensqualität auf als an MS Erkrankte.
Symptome bekämpfen und Schübe verhindern
Bei der Behandlung von NMOSD und MOGAD verfolgen Ärztinnen und Ärzte zwei Ziele. Zum einen sollen während eines Schubes die akuten Symptome bekämpft werden und zum anderen sollen weitere Schübe verhindert werden.
Während bei der Schubbehandlung hochdosiertes Kortison und Blutwäscheverfahren eingesetzt werden, kommen bei der dauerhaften Langzeitbehandlung sogenannte Immuntherapien zum Einsatz.
Im Untersuchungszeitraum der Studie, 2017 bis 2019, waren dies noch nicht zugelassene vergleichsweise kostengünstige Off-Label-Therapien, die 13 Prozent der Gesamtkosten ausmachten. Inzwischen gibt es in Deutschland zwei zugelassene Immuntherapien.
„Das ist ein riesiger Fortschritt bei der Behandlung, davon können unsere Patientinnen und Patienten sehr profitieren“, sagt Trebst. Gleichzeitig seien jedoch die Kosten für die neuen Therapeutika immens. Die neuen In-Label-NMOSD-Therapeutika gehören zu den teuersten Medikamenten weltweit.
Grundlage für Kostenbewertung
„Da unsere Erhebung unmittelbar vor Zulassung der neuen Immuntherapeutika stattfand, bieten unsere Studiendaten gewissermaßen eine Grundlage für die Kostenbewertung neuer Therapien bei seltenen Erkrankungen“, erläutert Dr. Hümmert.
„Klar ist aber bereits jetzt, dass eine gesundheitspolitische Diskussion darüber erforderlich ist, wie die langfristige Versorgung unserer Patientinnen und Patienten mit innovativen Therapien auch in Zukunft gesichert werden kann.“
Professorin Trebst fügt hinzu: „Aus unserer Sicht sprechen die Ergebnisse der Studie für eine frühzeitige, individuell zugeschnittene und kosteneffiziente Therapie, um langfristige Behinderungen zu verhindern und die Lebensqualität zu erhalten.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Medizinische Hochschule Hannover: Daten sprechen für frühzeitige Therapie, (Abruf: 10.05.2022), Medizinische Hochschule Hannover
- Martin W. Hümmert, Louisa M. Schöppe, et al.: Costs and Health-Related Quality of Life in Patients With NMO Spectrum Disorders and MOG-Antibody–Associated Disease; in: Neurology, (veröffentlicht: 15.03.2022), Neurology
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.