Wut auf das eigene Baby: Wochenbettdepressionen werden oft unterschätzt
Oft ereilt Mütter in der ersten Wochen nach der Geburt ihres Kindes der sogenannte „Baby-Blues“, der sich zu einer ernstzunehmenden Wochenbettdepression entwickeln kann. Prominente, wie etwa die Hollywood-Schauspielerin Brooke Shields, sprachen in der Öffentlichkeit über ihre Depressionen. Doch viele andere Mütter schweigen.
Viele Frauen schweigen über ihre Depressionen
Bei vielen Müttern stellen sich nach der Geburt starke Stimmungsschwankungen ein. Der sogenannte „Baby-Blues“ kann sich zu einer ernstzunehmenden Wochenbettdepression, auch postnatale Depression genannt, entwickeln. Ein Großteil der betroffenen Frauen schweigt über dieses Phänomen, meist aus Scham. Zudem wird die Krankheit oft gar nicht erst erkannt. Eigentlich ist sie gut behandelbar. Wochenbettdepressionen sollten daher nicht kleingeredet werden. In einer aktuellen Meldung der Nachrichtenagentur dpa kommen mehrere Experten zum Thema zu Wort. Doch zunächst eine Betroffene:
Wut auf das Baby und Selbstmordgedanken
Hannah Keller (Name von der Redaktion geändert) fiel nach der Geburt ihrer ersten Tochter in eine tiefe Depression. „Ich habe mich monatelang wie hinter Glas gefühlt“, sagte die 35-Jährige aus dem Rhein-Main-Gebiet. „Dass ich weder mir noch dem Kind etwas Irreparables angetan habe, war reine Glückssache.“ Weder ihre Familie noch die Hebamme, der Frauen- oder der Kinderarzt erkannten, was mit der Frau los war. Selbst bei Psychiatern und einer Babyambulanz machte Keller die Erfahrung: „Depressionen nach der Geburt sind ein Stiefkind.“ Der Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Universität, Prof. Andreas Reif, meinte: „Die Ausbildung und das Wissen um diese Symptomatik und diese Erkrankung sind nicht so gut, wie es sein sollte.“ Außerdem würden viele Frauen ihre Depression aus Scham- und Schuldgefühlen nicht mitteilen. „Sie schreiben sich häufig selber zu, sie hätten versagt und seien keine gute Mutter“, so Reif. „Es ist kein Versagen, da kann niemand was dafür.“ Zudem könne die Krankheit gut behandelt werden.
Verstimmungen nach der Geburt
Ziemlich viele Frauen sind betroffen. „Ein Babyblues ist ganz häufig, bei 50 bis 60 Prozent der Frauen“, erklärte Silvia Oddo-Sommerfeld, Leitende Psychologin in der Abteilung für Geburtshilfe der Uniklinik Frankfurt. In der Regel trete die auch „Heultage“ genannte Verstimmung in der ersten Woche nach der Geburt auf, häufig noch im Krankenhaus. Sie sei rein hormonell und müsse normalerweise nicht behandelt werden.
Etwa zehn bis 15 Prozent der Mütter litten nach der Geburt an Depressionen. Allerdings werde dies längst nicht immer diagnostiziert, sagte die Leiterin der Techniker Krankenkasse in Hessen, Barbara Voß. Es gibt aber auch Väter mit Wochenbettdepressionen. Betroffen ist Wissenschaftlern zufolge ein ähnlich hoher Anteil wie bei den Frauen. Nach der Geburt können sich vor allem bei überforderten Männern Depressionen einstellen. Väter in Patchwork-Familien sind laut Experten besonders gefährdet.
Unterschiedliche Ursachen
Auf die Frage nach den Ursachen, erklärte Keller: „Da kam viel zusammen.“ Zum einen war es „eine sehr schnelle, heftige und schmerzhafte Geburt“. Außerdem fand die Verhaltenstherapeutin auf der überfüllten Station der Klinik keine Ruhe, und ihre kleine Tochter schrie von Anfang an, „als ob sie stirbt“. Über ihre ersten Monate als Mutter sagte sie: „Ich habe alles gemacht, was ich machen konnte, damit sie nicht schreit und versucht, den Laden am Laufen zu halten.“ Ihr Umfeld habe mit Unverständnis reagiert: „Für mich war es, als ob ich zur Chemo gehe, und die Leute sagen: Genieß es!“ Nach Einschätzung der Fachleute haben Frauen, die schon einmal unter Stimmungserkrankungen gelitten haben oder in der Schwangerschaft ängstlich und depressiv waren, ein höheres Risiko, zu erkranken. Außerdem können Depressionen in der Familie ein Faktor sein.
„Es ist gar nicht mal so selten, dass sich eine psychische Erkrankung das erste Mal im Wochenbett demaskiert“, so Reif. Nach Einschätzung von Oddo-Sommerfeld spielt auch der soziale Rückhalt der Mutter eine Rolle. „Vor allem wenn der Partner die Frau nicht unterstützt, ist das Risiko etwas höher.“ Reif hingegen sagte: „Klassische postpartale Depressionen finden sich auch bei Frauen, die in einem perfekten Umfeld leben, wo der Partner voll dahinter steht, sich alle freuen und die Geburt glatt ging.“
Depressionen sollten rechtzeitig behandelt werden
Oddo-Sommerfeld zufolge zeigen neuere Studien, dass die Ausrichtung der Persönlichkeit der Mutter ebenfalls ein Risikofaktor sein kann: „In der Regel sind das sehr autonome, gewissenhafte und perfektionistische Frauen“, erläuterte die Psychotherapeutin. „Es fällt ihnen häufig schwer, mit einem Kind nicht mehr alles selbstbestimmt kontrollieren zu können.“ Zudem habe sie in ihrer jahrelangen Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es eher Frauen aus höheren Bildungsschichten trifft. Oddo-Sommerfeld hat eine telefonische „Wochenbettdepression-Hotline“ ins Leben gerufen und fordert betroffene Frauen auf, rasch Hilfe zu suchen. Wochenbettdepressionen treten laut Reif nicht selten beim zweiten Kind wieder auf. Auch Keller ging das bei ihrer zweiten Tochter so. Zwar war die Geburt so selbstbestimmt wie möglich und letztlich „total schön“, doch sechs Wochen später überfiel sie die Depression: „Innerhalb von einer Sekunde auf die andere stand ich vor einem Abgrund, der vorher nicht da war und der nicht mehr wegging.“
Mehrere Monate quälten sie wahnsinnige Todesangst-Attacken. Mit Hilfe von Antidepressiva konnte sie ihre Depressionen überwinden und musste dabei auch nicht auf das Stillen verzichten. Wie Reif erklärte, werde bei der Therapie Psychopharmakologie mit Psychotherapie kombiniert. Es gehe in schweren Fällen auch darum, wieder den Bezug zum Kind zu bekommen. Laut Oddo-Sommerfeld funktioniere Psychotherapie sehr gut, wenn sie in den ersten zwei bis drei Monaten nach der Geburt beginne. Die Expertin warnte: „Wenn man die Depression nicht rechtzeitig behandelt, hat das massive Auswirkungen auf das Kind, die ganze Familie und die Partnerschaft.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.