Studie sorgt für Diskussion: Blutdruck besser auf 120 senken
Rund jeder dritte Deutsche hat zu hohen Blutdruck. Das kann schlimme Folgen haben. Bluthochdruck erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und weitere gefährliche Erkrankungen. Bislang wurde in der Regel ein oberer Grenzwert von 140 mmHg empfohlen. Einer Studie zufolge wäre jedoch ein systolischer Zielwert von 120 besser. Die neuen Empfehlungen verunsichern viele Patienten.
Blutdruck auf 120 statt auf 140 senken
Laut Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) hat etwa jeder Dritte in Deutschland Bluthochdruck. In der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen sollen es sogar drei Viertel sein. Erhöhter Blutdruck steigert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie koronare Herzerkrankungen, Herzinsuffizienz und Schlaganfall, sowie für chronische Niereninsuffizienz und Demenz. Patienten wurde bislang ein oberer Grenzwert von 140 mmHg empfohlen. Doch im November vergangenen Jahres wurde eine großangelegte US-Studie veröffentlicht, die zu dem Schluss kam, dass man den systolischen Blutdruck auf 120 statt 140 senken sollte, um die Gefahr von Folgekrankheiten zu mindern. Sollen aber deshalb flächendeckend Blutdrucksenker eingesetzt werden? Die Veröffentlichung der sogenannten „Sprint“-Studie sorgte jedenfalls für viel Diskussionen. Auch in Deutschland wurden Patienten dadurch verunsichert.
Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, suchen viele Deutsche seit dem Erscheinen der Untersuchung ärztlichen Rat. „Die Menschen fragen sich, wann sie nun auf 120 eingestellt werden“, sagte Yvonne Dörffel, Leiterin der Medizinischen Poliklinik der Charité in Berlin. Experten in Deutschland sind sich uneins, in welchem Maße das Ergebnis überhaupt praxistauglich ist.
Individuelle Behandlung des Blutdrucks
Mediziner forderten vor kurzem im Fachmagazin „The Lancet“, dass bei allen Patienten mit hohem Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko blutdrucksenkende Medikamente eingesetzt werden sollten – und zwar unabhängig von ihrem Blutdruck. Laut den Wissenschaftlern, die 123 Studien ausgewertet hatten, an denen über 600.000 Menschen beteiligt waren, sei der Grenzwert von 140 für die Behandlung mit Tabletten zu hoch. Sie merkten jedoch an, dass die Studien teils nur bedingt vergleichbar waren. Der Leiter des Hypertoniezentrums München, Martin Middeke, äußerte sich kritisch über die Metaanalyse: „Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Die Behandlung des Blutdrucks ist immer eine individuelle Therapie.“ Zum Beispiel müssten auch Vorerkrankungen beachtet werden.
Sterberisiko sinkt um 13 Prozent
Wie Kazem Rahimi vom George Institute for Global Health an der Universität Oxford und sein Team in „The Lancet“ schreiben, vermindere die Behandlung mit Blutdrucksenkern das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erheblich. Wenn der systolische Blutdruck um zehn Punkte gesenkt werde, verringere sich das Risiko für größere kardiovaskuläre Ereignisse demnach um ein Fünftel, für Schlaganfälle und Herzversagen um ein Viertel und das Sterberisiko um 13 Prozent. „Die Ergebnisse sprechen sehr dafür, den systolischen Blutdruck unter 130 zu senken“, so Rahimi. Wie es heißt, könnten Millionen Leben gerettet werden, wenn alle Risikopatienten mit Blutdrucksenkern behandelt werden, egal was der Grund für ihr erhöhtes Risiko sei.
Der Richtwert für die medikamentöse Behandlung liegt derzeit bei etwa 140/90. Patienten, die einen erhöhten Blutdruck unter diesem Wert haben, wird normalerweise eine Änderung der Lebensweise nahegelegt. Meist kann Bluthochdruck dann durch viel Sport und gesunde Ernährung besiegt werden. Unterstützend können zudem Hausmittel gegen Bluthochdruck wirken.
Studie wegen positiver Ergebnisse frühzeitig abgebrochen
Bernd Sanner, Chefarzt am Agaplesion-Bethesda-Krankenhaus Wuppertal, erklärte, aus großen Studien sei lange bekannt, dass ein Blutdruck bereits ab etwa 115/70 mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht. „Umgekehrt hat man sich dann gefragt: Wenn man versucht, einen überhöhten Blutdruck zu senken, welcher Zielwert ist dann gesundheitlich sinnvoll?“, so der Experte.
Im Jahr 2010 kam eine erste größere Studie zu stärkerer Blutdrucksenkung bei Diabetikern – „Accord“ genannt – zu dem Ergebnis, dass das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Ereignisse nicht deutlich gesenkt wurde. Bei der „Sprint“-Studie wurden mit anderem Probandenkreis erneut zwei Behandlungsansätze verglichen: Ein Teil der Patienten erhielt eine intensive Therapie mit einem systolischen Blutdruck unter 120 als Ziel, der andere eine Standardtherapie, die einen Wert von 140 anstrebt. Insgesamt hatten die Forscher 9.361 Personen aus den USA und Costa Rica untersucht. Alle Teilnehmer waren älter als 50 Jahre und hatten einen Blutdruck von 130 bis 180, hinzu kamen weitere Risikofaktoren für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung wie etwa Übergewicht. Ausgeschlossen von der Studie waren Personen mit Diabetes mellitus oder einem zuvor erlittenen Schlaganfall, berichteten die Wissenschaftler damals im „New England Journal of Medicine“. Die auf fünf Jahre angelegte Untersuchung wurde im August 2015 nach gut drei Jahren frühzeitig abgebrochen – wegen der positiven Ergebnisse, wie es hieß.
Kritik an Studienergebnis
Zwar gab es den Angaben zufolge bei intensiver Therapie gut ein Viertel weniger Todesfälle und ein Drittel weniger kardiovaskuläre Ereignisse, also Herzinfarkt, Koronarsyndrom, Schlaganfall oder Herzinsuffizienz. Allerdings sei auch die Liste der Einschränkungen und die der Nebenwirkungen beeindruckend gewesen. „Es wird schwierig, überhaupt noch Patienten zu finden, für die die Intensivtherapie sinnvoll sein könnte“, meinte Dörffel. Die Medizinerin sieht es zudem kritisch, dass der Einstiegs-Wert bei den im Mittel 68 Jahre alten Patienten bei 139 lag.
„Nur ein Drittel waren überhaupt Menschen mit systolischem Bluthochdruck, die übrigen hatten gar keine deutlich überhöhten Ausgangswerte.“ Außerdem hatten 80 Prozent keine Herz-Kreislauf-Krankheiten – anders als viele Patienten in der Praxis. Von der intensiven Therapie profitiert hätten letztlich vor allem Patienten mit einem ohnehin niedrigen Ausgangswert unter 132 . „Die darüber lagen, hatten kaum oder gar keinen Nutzen.“ Bei Patienten mit bereits bestehender Nierenschwäche habe der Ansatz wenig Effekt gehabt.
Rückgang vor allem bei den Herzschwächezahlen
Dörffel erklärte, die verbreitete Ansicht zu den Studienergebnissen sei, dass sich das Drittel weniger kardiovaskulärer Ereignisse vor allem auf Schlaganfälle und Herzinfarkte beziehe, doch: „Das ist falsch, dabei gibt es keinen deutlichen Unterschied.“ Vielmehr gebe vor allem bei den Herzschwächezahlen einen Rückgang. Middeke vom HZM meinte laut dpa, es sei sehr überraschend, dass sich eine drastische Senkung nicht auf die Schlaganfall- und Herzinfarktzahl auswirkte.
„Herzschwäche ist in der getesteten Altersgruppe generell eine der Haupttodesursachen – und die Mehrzahl der verwendeten Medikamente sind genau solche, wie man sie auch bei Herzinsuffizienz verwendet“, erläuterte Dörffel ihre Theorie dazu. Daher liege der Schluss nahe, dass mit der intensiven Therapie zwar sehr gut drohende Herzinsuffizienzen verhindert wurden, dass aber die Blutdruckeinstellung für die verminderte Todesrate eine geringe Rolle spielte. „Diese Details sind leider in den 37 Seiten Anhang mit den genauen Daten versteckt“, meinte die Medizinerin.
Große Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Laut Middeke habe es zudem große Unterschiede zwischen Männern und Frauen gegeben. So habe das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei intensiver Therapie bei Männern 28 Prozent niedriger gelegen, bei Frauen hingegen nur 16 Prozent. „Insofern muss man genau gucken, wer letzten Endes tatsächlich profitieren kann von einer intensiven Therapie“, sagte Middeke. „Man kann das Ergebnis nicht verallgemeinern.“ In Deutschland würden Blutdruckpatienten etwa alle drei bis sechs Monate beim Arzt vorbei schauen.
„Mit einem Ziel von 120 werden monatliche Kontrollen nötig, weil die Nebenwirkungen größer sind“, erklärte Sanner. Zwar sei dies für die ohnehin schon vollen Praxen eine große Herausforderung. „Dieser Einsatz lohnt aber“, so der Chefarzt. Er hält eine Anpassung auf einen Zielwert von 120 bei einem Teil der über 75 Jahre alten Blutdruckpatienten und bei Menschen über 50 mit kardiovaskulären Risiken für sinnvoll.
„Das ist schon ein relevanter Teil, bestimmt 30 bis 40 Prozent aller Patienten.“ Es müsse aber jeder Fall einzeln betrachtet und entschieden werden. „Da muss man pragmatisch sein: Es ist nicht sinnvoll, jemanden partout auf 120 einzustellen, wenn er dann umfällt oder nicht mehr leistungsfähig ist“, erläuterte Sanner laut dpa. Es werde allgemein ein weiter Weg sein, das neue Ziel bei all denjenigen zu erreichen, für die es sinnvoll sei. „Derzeit sind nur gut 50 Prozent der Bluthochdruckpatienten in Deutschland schon auf 140 eingestellt.“
Großteil der Deutschen weiß über eigenen Bluthochdruck Bescheid
Im europaweiten Vergleich sei dies jedoch ein sehr guter Wert. „Noch vor zehn Jahren hat in Deutschland nur jeder Zehnte den Zielwert erreicht.“ Zudem sei auch das Wissen um den eigenen Wert nach einer Auswertung des RKI inzwischen weitaus besser. „80 Prozent der Menschen mit erhöhtem Blutdruck wissen darum.“ Das Studienergebnis bedeute laut Sanner vor allem einen Paradigmenwechsel. „Zielwerte sind ja immer eine willkürliche Festlegung – wie sollte ein Wert von 139 noch gut sein und einer von 141 schlecht?“ Das neue Ziel von systolischen 120 bedeute schlichtweg, dass man sich bei der Blutdruckreduktion nicht vorschnell zufrieden geben sollte.
Darüber hinaus gelte es, in der Praxis ein weiteres entscheidendes Detail der Studie zu beachten: „Der Blutdruck wurde jeweils automatisiert mit einem speziellen Gerät gemessen, die Patienten saßen dabei in einem ruhigen Raum“, erklärte Middeke. Der Arzteffekt, der den Blutdruck bei vielen Menschen bei der Messung höhergehen lasse, falle damit weg. „Das macht leicht mal 10 aus.“ Wie es in der dpa-Meldung heißt, bedeute das für den Arztbesuch, dass schon ein Blutdruck von 125 bis 130 dem Zielwert der Studie entspreche. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.