Neue Richtlinie für Bluthochdruck ohne Vorteile für Betroffene
Kein Gesundheitsexperte bezweifelt, dass Bluthochdruck ein enormes Gesundheitsrisiko darstellt. Doch ab wann wird er wirklich gefährlich? In den USA wird Hypertonie-Patienten im Vergleich zu hier schon ab niedrigeren Werten zur Behandlung geraten. Ein Schutz vor tödlichen Herzerkrankungen wird damit allerdings nicht erreicht, berichten nun deutsche Forscher.
Risikofaktor für tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Bluthochdruck (Hypertonie) gilt vor allem in der westlichen Welt als Volkskrankheit. Allein in Deutschland sind etwa 20 bis 30 Millionen Menschen davon betroffen. Ein zu hoher Blutdruck ist ein bedeutender Risikofaktor für gefährliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Doch wo beginnt gefährlicher Bluthochdruck? Auf diese Frage geben Gesundheitsexperten unterschiedliche Antworten. Beispielsweise gelten Patienten in den USA früher als krank als hierzulande. Deutsche Forscher berichten nun jedoch, dass diese Kategorisierung nicht unbedingt von Vorteil für die Betroffenen ist.
Neue Blutdruckrichtwerte
Bis vor kurzem galt: Hypertonie wird durch einen systolischen Blutdruck von über 140 mmHg oder einen diastolischen Blutdruck von mehr als 90 mmHg definiert.
Doch in der letzten Zeit mehrten sich die Stimmen, die meinen, dass 120 statt 140 das neue Blutdruck-Ziel sein soll.
US-amerikanische Fachgesellschaften haben die Blutdruckrichtwerte im vergangenen Jahr heruntergesetzt (neu 130/80 mmHg). Seitdem gelten dort bis zu 40 Prozent mehr als Hypertonie-Patienten.
Ein deutsches Forscherteam um Prof. Karl-Heinz Ladwig von der Technischen Universität München (TUM) und dem Helmholtz Zentrum München kommt allerdings jetzt zu dem Schluss, dass eine niedrige Schwelle für eine Behandlung nicht vor tödlichen Herzerkrankungen schützt.
Patienten sollen zu gesünderer Lebensweise angeregt werden
Wie die TUM in einer Mitteilung berichtet, gibt es in den Leitlinien des American College of Cardiology seit 2017 eine zusätzliche Kategorie für Bluthochdruck: „Stage 1 Hypertension“.
Demnach müssen Patientinnen und Patienten mit den entsprechenden Werten (130-139 mmHg / 80-89 mmHg) behandelt werden. Die European Society of Cardiology hingegen sieht bei diesen Werten noch einen „erhöht normalen Blutdruck“ und keinen zwingenden Handlungsbedarf.
„Die Idee hinter den US-Leitlinien ist, Bluthochdruck möglichst früh zu senken und durch die Diagnose einer Erkrankung Patienten zu motivieren, gesünder zu leben“, erklärte Prof. Karl-Heinz Ladwig, Forscher an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des TUM-Universitätsklinikums rechts der Isar und am Helmholtz Zentrum München.
Ladwig und sein Team haben sich anhand von Daten von knapp 12.000 Patientinnen und Patienten ein Bild der Situation in Deutschland verschafft.
„Wir haben untersucht, wie hoch innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren das Risiko für Menschen in den verschiedenen ‘Blutdruck-Kategorien’ war, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben und welche anderen Risikofaktoren jeweils vorlagen“, erläuterte Seryan Atasoy, Erstautorin der Studie und Epidemiologin am Helmholtz Zentrum München und der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Die Ergebnisse der Studie wurden im „European Heart Journal“ veröffentlicht.
Motivations-Effekt ist fraglich
Den Angaben zufolge war das Risiko an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben in der neugeschaffenen Kategorie „Stage 1 Hypertension“ nicht signifikant höher als bei normalem Blutdruck.
„Auch der Motivations-Effekt ist fraglich“, so Karl-Heinz Ladwig.
Bei Betroffenen mit gefährlichem Bluthochdruck, die sowohl nach US- als auch nach europäischen Leitlinien mit Medikamenten behandelt werden sollen („Stage 2 Hypertension“), sei das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben, deutlich erhöht.
„Gleichzeitig sind Risikofaktoren wie Rauchen und Bewegungsmangel besonders ausgeprägt. Das zeigt, dass viele trotz Diagnose ihren Lebensstil nicht umstellen.“
Während Personen mit gefährlicher Hypertonie grundsätzlich seltener depressiv waren als andere, lag der Wert bei einer Teilmenge deutlich höher:
Bei etwa der Hälfte derjenigen, die wegen des gefährlichen Bluthochdrucks Medikamente einnahmen, wurden depressive Stimmungslagen festgestellt.
Bei den Nicht-Behandelten war dies nur bei rund einem Drittel der Fall.
Depressionen als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
„Wir nehmen an, dass es sich um einen Labeling-Effekt handelt“, sagte Ladwig. „Wird man offiziell mit dem Etikett ‘krank’ versehen, wirkt sich das auf die psychische Gesundheit aus.“
Bereits in einer früheren Studie hatten Ladwig und sein Team gezeigt, dass Depressionen einen ähnlich hohen Risikofaktor für tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen darstellen wie hohe Cholesterinwerte oder Fettleibigkeit (Adipositas).
„Unsere Daten zeigen, dass Depressionen eine mittlere Effektstärke innerhalb der großen nicht angeborenen Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen erreichen“, erklärte Ladwig damals in einer Mitteilung.
Er schlug vor: „Bei Hochrisikopatienten sollte die diagnostische Abklärung einer Depression als Begleiterkrankung Standard werden. Das könnte man mit einfachen Mitteln erfassen.“
Zusätzlicher psychischer Druck
„Das American College of Cardiology selbst hat errechnet, dass der Anteil der Erwachsenen mit der Diagnose Bluthochdruck durch die neue Leitlinie von 32 auf 46 Prozent steigt“, erläuterte Karl-Heinz Ladwig.
„14 Prozent werden also zusätzlich psychischem Druck ausgeliefert – ohne dass für sie eine signifikant höhere Gefahr bestehen würde, eine tödliche Herz-Kreislauferkrankung zu entwickeln und ohne, dass eine Motivationswirkung der Diagnose zu erwarten wäre.“
Daher wäre eine Übernahme der US-Leitlinien in Europa aus Ladwigs Sicht grundsätzlich falsch. (ad)
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