Wirtschaft und Gesundheit gehen Hand in Hand
Während der Coronavirus-Pandemie erfährt die weltweite Wirtschaft starke Einschnitte. Bei vielen Personen entstand der Eindruck, dass die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit im direkten Konflikt mit den wirtschaftlichen Interessen stehen. Die gemeinsame Studie einer medizinischen und einer wirtschaftlichen Institution zeigte nun, dass die Eindämmungsmaßnahmen nicht nur dem Schutz der Gesundheit, sondern auch dem Schutz der Wirtschaft dienen.
Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. (ifo) zeigten in einer gemeinsamen Forschungsarbeit, dass mit einer schnellen Lockerung nicht zwangsweise eine schnelle Erholung der Wirtschaft einhergeht. Werden die Maßnahmen zu schnell heruntergefahren, könnten der Schaden und die Erholungsdauer weitaus größer werden, als bei einem „ umsichtigen, schrittweisen Öffnungsprozess“. Die Forschungsarbeit ist auf der Webseite des ifo einsehbar.
Wirtschaftsinstitut warnt vor schnellen Lockerungen
„Die Strategie umsichtiger, schrittweiser Lockerungen ist nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch wirtschaftlich vorzuziehen“, betonen ifo-Präsident Clemens Fuest und Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am HZI. In einer gemeinsam erstellten Simulationsanalyse zeigten die beiden Institutionen, dass eine kurzfristig erhöhte Wirtschaftstätigkeit wahrscheinlich zu einer Gesamtverlängerung der Beschränkungen führen wird. Die Gesamtkosten der Krise würde hierdurch steigen.
Schnelle Lockerung = schnelle Erholung?
Der erstmalige Schulterschluss zwischen einem wirtschaftlichen und einem medizinischen Institut widerspricht der weit verbreiteten Ansicht, dass vor allem die auferlegten Eindämmungsmaßnahmen der Wirtschaft schaden. „Nicht zutreffend ist, dass eine sehr schnelle Lockerung wirtschaftlichen Nutzen stiftet und deshalb ein Konflikt zu gesundheitspolitischen Zielen entsteht“, erklären die Forschungsleiter. Die Analyse zeigte, dass die Interessen von Gesundheit und Wirtschaft nicht gegenläufig, sondern gemeinsam sind.
300 Neuinfektionen am Tag sind machbar
Die Forschenden schätzen, dass rund 300 COVID-19-Neuinfektionen pro Tag von den Gesundheitsämtern zurückverfolgt werden können. Bei gleichzeitiger Ausweitung der Testkapazitäten und mehr Personal für die Erfassung könnten auf diese Weise Infektionsketten verhindert werden, ohne dass wesentliche Kontaktbeschränkungen bestehen.
Wirtschaftliche Schäden sind an die Reproduktionszahl gekoppelt
Das Forschungsteam entwarf ein Modell, dass die wirtschaftlichen Schäden in Verbindung mit der Reproduktionenszahl des Coronavirus SARS-CoV-2 bringt. Die Reproduktionszahl (R) gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt. Bei R=1,0 steckt eine erkrankte Person im Laufe der Krankheit genau eine weitere an, bei R=2,0 zwei weitere.
Den goldenen Mittelweg errechnen
Am 20. April 2020 konnte R auf 0,627 gesenkt werden. Die Forschenden errechneten, dass es im Laufe der Jahre 2020 und 2021 zu einem gesamten Verlust von rund 333 Milliarden Euro kommen würde, wenn diese Ansteckungszahl aufrechterhalten wird. Bei leichten Lockerungen, bei denen sich R auf 0,75 einpendelt, könnte der Verlust um etwa 26 Milliarden Euro vermindert werden.
Bei weiteren Lockerungen auf bis zu R=0,9 würden sich keine nennenswerten Besserungen für die Wirtschaft einstellen, die gesamten Todesfälle in Verbindung mit COVID-19 würden jedoch dem Modell zufolge ansteigen. Steigt R über 1,0 ist dies der Studie zufolge sowohl mit höheren wirtschaftlichen Schäden, als auch mit mehr Todesfällen verbunden. Bereits ab R=1,0 sei mit zusätzlich 20.000 Todesopfern bis Ende 2021 zu rechnen.
Zu starke Maßnahmen schaden der Wirtschaft
Das Modell zeigte auch, dass starke Einschränkungen größere volkswirtschaftliche Kosten verursachen. Wird die Reproduktionszahl durch Maßnahmen auf 0,5 gedrückt, würden die wirtschaftlichen Schäden um 77 Milliarden Euro ansteigen.
Der goldene Mittelwert scheint bei R=0,75 zu liegen
Die Studie zeigt erstmals, dass gesundheitliche und wirtschaftliche Interessen nicht gegenläufig sind, sondern Hand in Hand gehen. Während leichte Lockerungen zu weniger wirtschaftlichen Schäden führen, sind umfängliche Aufhebungen der Maßnahmen nach Ansicht der Forschenden weder aus gesundheitlicher noch aus wirtschaftlicher Sicht zu empfehlen. Der goldene Mittelweg zwischen Gesundheit und Wirtschaft scheint bei R=0,75 zu liegen.
Einschränkungen der Studie
Der Virologe Professor Dr. Christian Drosten kommentierte die Studie in seinem NDR-Coronavirus-Podcast. Er gibt zu bedenken, dass bei dem Modell viele Annahmen getroffen wurden, die die Realität vergröbert darstellen. Dies sei aus Mangel an empirischen Daten und Erfahrungswerten aus Wirtschaft auch nicht anders machbar.
Drosten und auch die Autoren der Studie räumen ein, dass der Wert von R=0,75 nicht exakt stimmen muss. Dennoch zeige die Studie eindrücklich, dass Wirtschaft und Gesundheit nicht gegensätzlich, sondern gemeinsam betrachtet werden sollten und dass die Ziele zur Eindämmung von SARS-CoV-2 sowohl von wirtschaftlichem als auch von gesundheitspolitischem Interesse sind. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Meyer-Hermann, Michael; Dorn, Florian; Khailaie, Sahamoddin; u.a.: Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona- Pandemie; ifo Institut, München, 2020, ifo.de
- ifo: Infektionsforscher für begrenzte, schrittweise Öffnungen (veröffentlicht: 13.05.2020), ifo.de
- NDR: Coronavirus-Update (41) mit Christian Drosten (veröffentlicht: 14.05.2020), ndr.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.