Kinder weisen ähnliche SARS-CoV-2-Viruslast wie Erwachsene auf
Kinder und Jugendliche sind in Bezug auf das Coronavirus SARS-CoV-2 wahrscheinlich genauso infektiös wie Erwachsene. Dies geht aus der bislang größten deutschen Analyse hervor, in der Daten von über 3.700 COVID-19-Erkrankten verschiedener Altersgruppen ausgewertet und miteinander verglichen wurden. Die Analyse legt nahe, dass eine uneingeschränkte Öffnung aller Schulen und Kindergärten mit Vorsicht betrachtet werden muss.
Ein Forschungsteam der Charité Universitätsmedizin Berlin unter der Leitung des Virologen Professor Dr. Christian Drosten veröffentliche die erste größere Analyse, die eine erste Einschätzung über die Rolle der Kinder in der Coronavirus-Pandemie erlaubt. Die Auswertung von 3.712 COVID-19-Betroffenen zeigte, dass es keinen signifikanten Unterschied in der SARS-CoV-2-Viruslast in den verschiedenen Altersgruppen gibt. Die Analyse mit dem Titel: „An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age“ kann auf der Webseite der Charité eingesehen werden.
Kinder scheinen genauso infektiös wie Erwachsene zu sein
Die Viruslast in den Atemwegen unterscheidet sich bei verschiedenen Altersgruppen nicht im relevanten Maße, berichtet eine Forschungsgruppe um den Virologen Professor Dr. Christian Drosten. Das Team analysierte die Viruslast von 3.712 COVID-19-Patientinnen und -Patienten aus verschiedenen Alterskategorien. Dabei konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den einzelnen Altersgruppen aufgedeckt werden. Dies deutet darauf hin, dass Kinder im gleichen Maße infektiös sind, wie Erwachsene.
Einschränkung der Studie
Bei den Daten handelt es sich um ein vorläufiges Ergebnis, dass noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat und in keinem Fachjournal veröffentlicht wurde. Es wurde nur die Virusast untersucht. Unklar bleibt noch, ob Kinder das Virus genauso häufig weitergeben wie Erwachsene. Diese Frage ist derzeit schwer zu klären, da alle Schulen und Kitas geschlossen sind und es somit keine Möglichkeit gibt, eine Studie hierzu unter realen Bedingungen durchzuführen.
Keine endgültige Aussage zur Infektiösität möglich
Bei den Daten handelt es sich um Laborauswertungen. Professor Drosten betont in seinem NDR-Podcast, dass solche Daten „nur indirekte Hinweise geben“ können. Dennoch lasse sich aus früheren Studien ableiten, dass die Viruslast im Rachen durchaus mit dem Übertragungspotenzial korreliere.
Einige Agumente sprechen dem Virologen zufolge aber auch dafür, dass Kinder trotz gleicher Viruslast weniger infektiös seien könnten. So verlaufe eine SARS-CoV-2-Infektion bei Kindern häufiger asymptomatisch oder mild, sie husten weniger und könnten deshalb weniger Viren in die Atemluft freisetzen. Andererseits würden sie auch weniger Distanz zu anderen Kindern und Bezugspersonen wahren.
Drosten: „Das Ergebnis war klar.“
Das Team der Charité staffelte erstmals die vorliegenden Daten in Altersgruppen und unterteilte sie in soziale Kategorisierungen wie Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schulen, Studierende, Erwachsene und ältere Erwachsene. Diese Gegenüberstellung zeigte ein klares Ergebnis: „Wir können in Kindergruppen nicht nachweisen, dass sie im Vergleich zu Erwachsenen unterschiedliche Viruskonzentrationen in den Atemwegen haben“, so Drosten.
Auch bei geringer Symptomatik hohe Virusast
Zudem zeigte die Analyse, dass auch Kindern, die keine Symptome nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickelten, eine hohe Viruslast aufwiesen. Im direkten Vergleich zu Kindern mit Symptomen war die Viruslast bei den asymptomatischen Kindern sogar höher – was darauf hindeutet, dass asymptomatische Verläufe bei Kindern sogar mit einem höheren Risiko für weitere Ansteckungen verbunden seien könnten.
Kinderklinik zeichnet ein anderes Bild
Ein Forschungsteam des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München plädiert stattdessen dafür, die Schließungen von Schulen und Kitas kritisch zu überdenken. In einem Bericht, der kürzlich im „Deutschen Ärzteblatt“ veröffentlicht wurde, führen die Forschenden Beweise aus mehreren Studien zusammen, die darauf hindeuten, dass Kinder eine untergeordnete Rolle bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 spielen.
Laut der Forschungsgruppe sind in Deutschland aktuell nur zwei bis drei Prozent der gemeldeten COVID-19- Fälle im Kindesalter. In zwei Studien aus Island und Italien konnte bei Kindern unter zehn Jahren SARS-CoV-2 nicht nachgewiesen werden. Es komme bei Kindern und Jugendlichen sehr selten zu schweren COVID-19-Verläufen. Todesfälle seien in diesem Zusammenhang noch viel seltener. Am 31. März 2020 waren dem Forschungsteam nur sieben Fälle weltweit bekannt.
Alles dreht sich um die Frage, ob Kinder SARS-CoV-2 übertragen
Doch auch die Forschenden des Dr. von Haunerschen Kinderspitals weisen darauf hin, dass die Frage der Übertragung nicht abschließend geklärt ist. Da so viele Kinder asymptomatische Verläufe entwickeln, ist stark anzunehmen, dass die Dunkelziffer bei Kindern extrem hoch ist. Denn Kinder werden aufgrund der fehlenden Symptomatik weitaus weniger getestet.
Die Forschenden fanden Hinweise darauf, dass Kinder auch hier eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen. Laut einem Bericht des Joint Mission Team der WHO konnten in China bei Untersuchungen des Ausbruchs nicht beobachtet werden, dass Kinder für die Ansteckung von Erwachsenen verantwortlich sind. Daten aus Studien über Haushaltsübertragungen deuten zudem darauf hin, dass Kinder in der Regel nicht verantwortlich für die Ansteckung innerhalb von Haushalten sind. Die Daten seien aber vage, da viele Schulen bereits geschlossen waren und Kinder somit wenige Möglichkeiten hatten, sich zu infizieren.
Langsame SARS-CoV-2-Ausbreitung bei junger Bevölkerung
Das Forschungsteam weist darauf hin, dass auch mathematische Modelle zeigen, dass der Altersdurchschnitt der Bevölkerung eine Rolle bei der SARS-CoV-2 Ausbreitung spielt. So sei die Basis-Reproduktionszahl R0 von Land zu Land umso geringer, je jünger das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist. In Entwicklungsländern mit hohem Kinderanteil konnte eine langsamere Ausbreitung von SARS-CoV-2 beobachtet werden – ein weiterer Hinweise darauf, dass Kinder keine tragende Rolle spielen.
Recht auf Bildung müsse Vorrang haben
Die Forschenden des Dr. von Haunerschen Kinderspitals kommen zu dem Ergebnis, dass nach derzeitigem Wissensstand Kinder nicht wesentlich an der Übertragung von SARS-CoV-2 beteiligt zu sein scheinen und flächendeckende Schließung von Schulen, Kindergärten und Kinderkrippen weniger als erwartet zur Eindämmung der Pandemie beitragen. Deshalb solle „dem Recht der Kinder auf Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft Vorrang eingeräumt werden.“
Warum ist die Beurteilung von Kindern so schwer?
Insgesamt zeigt sich ein zwiegespaltenes Bild über die Rolle der Kinder in der Coronavirus-Pandemie. Da in den meisten Ländern frühzeitige Schulschließungen erfolgten, gibt es kaum Erfahrungswerte über mögliche Folgen. Da Kinder überwiegend asymptomatische SARS-CoV-2-Infektionen vorweisen, gibt es nur wenige belastbare Daten. Zudem wurden vorhandene Daten überwiegend unter den derzeitigen Maßnahmen erhoben und erlauben keinen eindeutigen Rückschluss auf gewöhnliche Umstände. Am leichtesten könnte wohl derzeit in Schweden eine solche Untersuchung durchgeführt werden. Professor Drosten zeigte sich verwundert darüber, dass es dort kein Forschungsprojekt in diese Richtung zu geben scheint. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Christian Drosten, u.a.: An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age, Charité Universitätsmedizin Berlin, 2020, zoonosen.charite.de
- Tilmann Schober, Anita Rack-Hoch, Anna Kern, u.a.: Kinder haben das Recht auf Bildung; in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 19, 2020, aerzteblatt.de
- NDR: Coronavirus Update (37) mit Christian Drosten: Noch mal Thema Kinder: Zwei neue Studien (veröffentlicht: 30.04.2020), ndr.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.