Guillain-Barré-Syndrom: SARS-CoV-2 kann seltene Autoimmunerkrankung auslösen
Bei vielen Menschen, die sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren, kommt es nur zu leichten oder gar keinen Symptomen. In manchen Fällen nimmt die Krankheit jedoch einen schweren Verlauf. Zudem haben Forschende auch häufig neurologische Beschwerden bei COVID-19 festgestellt. Und wie jetzt berichtet wird, kann der neuartige Erreger auch das gefürchtete Guillain-Barré-Syndrom auslösen.
Wie auf dem öffentlichen Gesundheitsportal Österreichs „Gesundheit.gv.at“ erklärt wird, ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) eine sehr seltene Autoimmunerkrankung. Dabei attackiert das Immunsystem körpereigene periphere, also außerhalb von Gehirn und Wirbelsäule befindliche Nervenzellen und zerstört deren isolierende Myelinschicht. Die auch „akute idiopathische Polyneuritis“ genannte Erkrankung kann auch durch das neue Coronavirus ausgelöst werden.
Bei SARS-CoV-2-Infektion kommt es schneller zu schwerer neurologischer Komplikation
Laut einer aktuellen Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN) wurde Anfang April in dem Fachmagazin „Lancet Neurology“ erstmals die Möglichkeit eines SARS-CoV-2-assoziierten Guillain-Barré-Syndroms (GBS) diskutiert.
Kurz darauf folgten in den Fachzeitschriften „New England Journal of Medicine“ und „Neurology“ zwei weitere Publikationen aus Europa, die ein GBS beziehungsweise eine GBS-Variante bei COVID-19-Patientinnen und -Patienten beschreiben.
Das GBS entsteht häufig in Folge von Infektionen, zum Beispiel nach bakterieller Darminfektion oder Infektion mit dem Zytomegalievirus.
Jetzt reiht sich auch das Coronavirus SARS-CoV-2 in die Reihe der GBS-auslösenden Erreger ein. Eine Besonderheit: Während es oft zwei bis vier Wochen dauert, bis ein Infekt-assoziiertes GBS auftritt, kam es bei den SARS-CoV-2-Infektion bereits nach fünf bis zehn Tagen zu dieser schweren neurologischen Komplikation.
Atemmuskulatur kann in Mitleidenschaft gezogen werden
Wie die DGN erklärt, ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ein schweres neurologisches Krankheitsbild. Durch eine überschießende Autoimmunreaktion, oft in Folge von Infekten, wird die Myelinschicht der peripheren Nerven geschädigt, so dass die Nervenfasern keine Reize mehr übertragen können.
Nachweisbar sind beim GBS häufig Autoantikörper gegen Baubestandteile der Nervenmembranen (Ganglioside) im Blut. Folgen sind Lähmungen (Paresen), die meistens beidseitig in den Beinen beginnen und dann auch die Arme und das Gesicht betreffen.
Bei einigen Patientinnen und Patienten kann sogar die Atemmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen werden, so dass sie beatmet werden müssen.
Laut der DGN erhalten die Betroffenen zur Therapie entweder hochdosiert intravenös Immunglobuline oder es erfolgt eine Plasmapherese, ein extrakorporales Blutreinigungsverfahren, bei dem die krankheitsauslösenden Autoantikörper herausgefiltert werden.
Es dauert oft viele Wochen, bis sich die Symptome zurückbilden, bei manchen Patientinnen und Patienten bleiben dauerhaft neurologische Beschwerden bestehen.
Patientin ohne Atemwegssymptome, Fieber oder Durchfall
Bekannt ist, dass etwa drei Viertel aller GBS-Fälle in Folge von Infektionen auftreten, sei es durch eine bakterielle Darmentzündung mit Campylobacter jejuni oder einer Infektion der oberen Luftwege mit dem Zytomegalievirus oder anderen Viren. Nun wurde in den genannten Magazinen erstmals über SARS-CoV-2-assoziierte GBS-Fälle berichtet:
Der erste Fallbericht eines vermutlich SARS-CoV-2-assoziierten GBS betrifft eine 61-jährige Frau aus China, die mit Paresen (Lähmungen) der unteren Extremitäten in die Klinik aufgenommen wurde, aber keine Atemwegssymptome, Fieber oder Durchfall aufwies. In den folgenden drei Tagen breiteten sich die Paresen aus.
Den Angaben zufolge erfolgte die Therapie mit i.v.-Immunglobulinen. An Tag acht entwickelte die Patientin Husten, Fieber und wies im Thorax-CT Zeichen einer viralen Pneumonie auf. Der SARS-CoV-19-Rachenabstrich war positiv.
Die Autoren diskutieren ein SARS-CoV-2-assoziiertes GBS, weil die klassischen respiratorischen COVID-19-Symptome aber erst eine Woche nach Beginn des GBS hinzukamen, müsse auch die Möglichkeit eines zufälligen koinzidenten Auftretens beider Erkrankungen in Betracht gezogen werden.
Patienten hatten SARS-CoV-2-positive Rachenabstriche
Doch schon zwei Wochen später wurde eine Fallserie mit GBS bei fünf italienischen SARS-CoV-2-Patienten veröffentlicht. Von 1.000 bis 1.200 Covid-19-Betroffenen erkrankten fünf innerhalb von fünf bis zehn Tagen nach Symptombeginn von COVID-19 an einem GBS, drei dieser Personen mussten maschinell beatmet werden.
Allerdings konnte in der Studie nicht abgegrenzt werden, ob die Beatmung wegen des GBS oder der respiratorischen Infektion notwendig wurde.
Eine dritte Arbeit aus Madrid stellt zwei Kasuistiken von Covid-19-Patienten mit der GBS-Variante des Miller Fisher-Syndromes (MFS) vor. Im Serum waren MFS-auslösende Gangliosid-Antikörper nachweisbar und beide Männer hatten SARS-CoV-2-positive Rachenabstriche.
Das klassische GBS oder das MFS treten typischerweise zehn Tage bis zu vier Wochen nach der zugrundeliegenden Infektion auf, also in der Regel, nachdem die Betroffenen von der Infektionskrankheit genesen sind.
Bei SARS-CoV-2-Infektionen hingegen ist das Intervall deutlich kürzer. Alle bisher berichteten Patienten erkrankten bereits fünf bis zehn Tage nach Symptombeginn der COVID-19-Erkrankung.
Ursache der Beatmungspflichtigkeit
„Bei beatmeten Patienten auf der Intensivstation stellt das GBS eine wichtige Differentialdiagnose zur sog. Critical Illness-Neuropathie dar, einer peripheren Nervenschädigung, die in der Regel erst später im Krankheitsverlauf bei Patienten auf der Intensivstation auftritt,“ erklärt Prof. Dr. Helmar Lehmann von der Neurologischen Universitätsklinik Köln.
„Die Unterscheidung ist aber relevant, um nicht die Behandlung mit Immunglobulinen zu versäumen“, ergänzt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Wichtig ist also, dass bei Patientinnen und Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom (oder Miller Fisher-Syndrom) abgeklärt wird, ob eine SARS-CoV-2-Infektion vorliegt. Umgekehrt muss bei Betroffenen mit schweren COVID-19-Verläufen, die beatmet werden müssen, abgeklärt werden, ob nicht ein GBS/MFS eigentliche Ursache der Beatmungspflichtigkeit sein könnte.
Dies gilt laut der DGN insbesondere, wenn der bildgebende Befund der Lungen nicht auf Organschädigungen deutet, die eine maschinelle Beatmung notwendig machen. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN): SARS-CoV-2 kann das gefürchtete Guillain-Barré-Syndrom auslösen, (Abruf: 25.04.2020), Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
- Zhao H, Shen D, Zhou H et al.: Guillain-Barré syndrome associated with SARS-CoV-2 infection: causality or coincidence?; in: Lancet Neurology, (veröffentlicht: 01.04.2020), Lancet Neurology
- Toscano G, Palmerini F, Ravaglia S et al.: Guillain–Barré Syndrome Associated with SARS-CoV-2; in: New England Journal of Medicine, (veröffentlicht: 17.04.2020), New England Journal of Medicine
- Gutiérrez-Ortiz C, Méndez A, Rodrigo-Rey S et al.: Miller Fisher Syndrome and polyneuritis cranialis in COVID-19; in: Neurology, (veröffentlicht: 17.04.2020), Neurology
- Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: www.gesundheit.gv.at: Guillain-Barré-Syndrom (Abruf: 25.04.2020), gesundheit.gv.at
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.