SARS-CoV-2: Wie das Virus effektiver in Wirtszellen eindringt
Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und die durch den Erreger ausgelöste Krankheit COVID-19 schreitet weiter voran. Inzwischen wurden weltweit mehr als 200 Millionen Infektionen mit dem Erreger registriert. Hierzulande sind bislang fast 3,8 Millionen Fälle bekannt geworden. Doch wie kann sich das Virus so gut im Menschen ausbreiten? Dazu gibt es nun neue Erkenntnisse von deutschen Forschenden.
Wie gelingt es dem Coronavirus SARS-CoV-2 sich so effektiv im menschlichen Körper auszubreiten? Einer der Gründe ist, dass es sich ursprüngliche „Gegner“ zu „Helfern“ macht, heißt es in einer aktuellen Mitteilung des Universitätsklinikums Ulm.
Immunsystem wird ausgetrickst
Das Coronavirus SARS-CoV-2 nutzt eine Vielzahl an raffinierten Strategien, um das menschliche Immunsystem auszutricksen. Nur so gelingt es dem Erreger, Menschen effektiv zu infizieren und sich rasch auszubreiten.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ulmer Universitätsmedizin haben jetzt herausgefunden, dass das Virus, das für die COVID-19-Pandemie verantwortlich ist, bestimmte Membranproteine „kapert“ und für seine eigene Vermehrung nutzt.
Dabei geht es um sogenannte Interferon-induzierte Transmembranproteine (IFITMs), die bislang eher für ihre antivirale Wirkung bekannt sind. Sie halten etwa verschiedene virale Krankheitserreger, wie zum Beispiel HIV oder Grippeviren, in Schach.
Die neue Studie hat nun gezeigt, dass das SARS-CoV-2 IFITMs benutzt, um effektiver in Wirtszellen einzudringen. Die Forschenden konnten nachweisen, dass das Coronavirus diese Transmembranproteine „missbraucht“ und dadurch noch infektiöser wird.
Veröffentlicht wurden die Ergebnisse vor kurzem in dem Fachjournal „Nature Communications“.
Scheinbare Widersprüche lassen sich erklären
„Diese Ergebnisse haben uns sehr überrascht. Waren Interferon-induzierte Transmembranproteine doch bislang eher für ihre antivirale Wirkung bekannt“, erläutert Professor Frank Kirchhoff, Leiter des Instituts für Molekulare Virologie am Universitätsklinikum Ulm und Seniorautor der Studie.
Die aktuellen Ulmer Daten stehen vermeintlich im Widerspruch zu Resultaten anderer Forschungsgruppen, die berichteten, dass IFITM-Proteine humane Coronaviren hemmen. „Die scheinbaren Widersprüche lassen sich jedoch erklären“, betont Dr. Konstantin Sparrer vom Institut für Molekulare Virologie, der an der Studie ebenfalls federführend beteiligt war.
„Frühere Ergebnisse – die wir übrigens experimentell bestätigen konnten – wurden unter sehr künstlichen Bedingungen erzielt. So wurden beispielsweise die IFITMs artifiziell überexprimiert und meist sogenannte Pseudovirionen verwendet“, erklärt Kirchhoff.
Er ergänzt: „Wenn jedoch Zellen aus relevanten menschlichen Geweben wie Lunge, Herz oder Darm mit richtigem SARS-COV-2 infiziert werden, erhöhen IFITMs die virale Infektion und Produktion infektiöser Viren um mehrere Größenordnungen. Dies konnten wir in unserer Studie ebenfalls zeigen.“
Erste Hinweise auf den verstärkenden Mechanismus
Den Angaben zufolge wurden für die Studie, an der auch internationale Kooperationspartner und zahlreiche weitere Forschende der Ulmer Universitätsmedizin beteiligt waren, experimentelle Bedingungen genutzt, die eine größere physiologische Relevanz als die bisher verwendeten Systeme haben.
So wurden unter anderem primäre Lungen-, Herz- und Darmzellen sowie Organoide verwendet. Bei schweren Verläufen gehören Lunge, Herz und Darm zu den Hauptzielen einer Infektion mit SARS-CoV-2. Organoide sind künstliche 3D-Miniorgane, die die reale Situation – zum Beispiel im Darm – besser nachbilden als herkömmliche Zellkulturen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden auch erste Hinweise auf den verstärkenden Mechanismus.
„Mit hochleistungsmikroskopischer Bildgebung und hochempfindlichen Interaktionstests konnten wir nachweisen, dass das Spike-Protein von SARS-CoV-2 mit den IFITMs interagiert und diese ausnutzt, was den Virus-Eintritt fördert“, erläutern Caterina Prelli Bozzo und Rayhane Nchioua – beide sind Erstautorinnen der Studie.
Umgekehrt konnten die Forschenden zeigen, dass die Infektion weit weniger effizient abläuft, wenn die Produktion dieser Membranproteine experimentell unterdrückt wird.
Therapeutisches Potential
Das unerwartete Ergebnis, dass IFITMs Kofaktoren einer effektiven Coronavirus-Infektion sind, hat auch therapeutisches Potential. „Blockiert man die IFITMs mit Antikörpern, hemmt dies die Infektion menschlicher Lungen-, Herz- und Darmzellen“, so die Forschenden.
Weiterhin hilft das Ergebnis zu erklären, wieso sich SARS-CoV-2 so effizient ausbreiten kann: unter anderem indem es Interferon-induzierte Transmembranproteine, die normalerweise antiviral wirken, für eigene Zwecke missbraucht. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsklinikum Ulm: Coronavirus kapert antivirale Immunfaktoren, (Abruf: 07.08.2021), Universitätsklinikum Ulm
- Caterina Prelli Bozzo, Rayhane Nchioua, Meta Volcic, Lennart Koepke, Jana Krüger, Desiree Schütz, Sandra Heller, Christina M. Stürzel, Dorota Kmiec, Carina Conzelmann, Janis Müller, Fabian Zech, Elisabeth Braun, Rüdiger Groß , Lukas Wettstein , Tatjana Weil, Johanna Weiß, Federica Diofano, Armando A. Rodríguez Alfonso, Sebastian Wiese, Daniel Sauter, Jan Münch, Christine Goffinet, Alberto Catanese, Michael Schön, Tobias M. Boeckers, Steffen Stenger, Kei Sato, Steffen Just, Alexander Kleger, Konstantin M. J. Sparrer & Frank Kirchhoff: IFITM proteins promote SARS-CoV-2 infection and are targets for virus inhibition in vitro; in: Nature Communications, (veröffentlicht: 28.07.2021), Nature Communications
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.