Situation in Bergamo: „Wir sind weit über den Kipppunkt hinaus!“
Bergamo – die 120.000 Einwohner-Stadt in Norditalien mit der malerischen Altstadt war bis vor kurzem noch ein beliebtes Ausflugsziel in der wohlhabenden Lombardei. Zur Zeit wütet das Coronavirus SARS-CoV-2 hier besonders stark. Ein Team von Ärztinnen und Ärzten aus der Region veröffentlichte nun einen Bericht, der zeigt, dass die Region in den letzten Tagen völlig außer Kontrolle geraten ist. Die heutige patientenfokussierte Versorgung sei auf Pandemien wie COVID-19 einfach nicht gut vorbereitet, warnt das Team.
Intensivmedizinerinnen und Intensivmediziner aus einer Klinik der Stadt Bergamo schildern die aktuelle Lage in dem von Covid-19 stark betroffenen Krankenhaus Papa Giovanni XXIII. Das Team bezeichnet die Lage als humanitäre Krise, die mit einem zentralisierten Gesundheitswesen nicht zu bewältigen sei. Der Bericht wurde kürzlich in dem renommierten Fachjournal „NEJM Catalyst“ publiziert.
Bergamo ist Italiens Epizentrum der COVID-19-Epidemie
Die Lombardei ist eine der reichsten und am dichtesten besiedelten Regionen Europas und ist heute am stärksten betroffen. „Wir arbeiten im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII. in Bergamo, einer brandneuen, hochmodernen Einrichtung mit 48 Intensivbetten“, berichtet das Ärzteteam. Obwohl es sich um eine relativ kleine Stadt handelt, sei hier das Epizentrum der italienischen COVID-19-Epidemie. Tausende Fälle sind dort zur Zeit registriert – mehr als in Mailand oder anderswo im Land.
Völlige Überlastung
„Unser eigenes Krankenhaus ist hochgradig kontaminiert, und wir sind weit über den Kipppunkt hinaus“, erklären die Medizinerinnen und Mediziner. 300 von 900 Betten seien mit Covid-19-Betroffenen belegt. Ganze 70 Prozent der Intensivbetten seien für schwerkranke Covid-19-Patientinnen und -Patienten mit einer vernünftigen Überlebenschance reserviert. Das gesamte Krankenhaus arbeitet weit unter dem normalen Versorgungsstandard.
Dies äußert sich dem Bericht zufolge, indem beispielsweise ältere Patientinnen und Patienten nicht wiederbelebt werden. Sie sterben ohne angemessene Palliativversorgung und werden von körperlich und emotional erschöpftem Personal behandelt, dass zuvor keinen persönlichen Kontakt zu den Betroffenen hatte.
Außer Kontrolle geraten
Dabei steht das Krankenhaus den Fachleuten zufolge noch relativ gut dar. Die Situation in der Umgebung sei noch schlimmer. Die meisten Krankenhäuser seien überfüllt und stünden kurz vor dem Zusammenbruch, während Medikamente, mechanische Beatmungsgeräte, Sauerstoff und persönliche Schutzausrüstung nicht zur Verfügung stehen.
Die Betroffenen liegen auf Matratzen auf dem Boden. Die Friedhöfe kommen nicht mit den Beerdigungen hinterher, Schwangerschaftsbetreuungen und Entbindungen geraten ins Wanken und auch die Situation in den Gefängnissen wird den Ärztinnen und Ärzten zufolge immer explosiver. „Leider scheint die Außenwelt nicht zu wissen, dass dieser Ausbruch in Bergamo außer Kontrolle geraten ist“, schreibt das Team in dem aktuellen Bericht.
Pandemie-Lösungen für alle – nicht nur für Krankenhäuser
„Wir erfahren zum Beispiel, dass Krankenhäuser die Hauptüberträger von Covid-19 sein könnten, da sie schnell von Infizierten bevölkert werden, was die Übertragung auf nicht infizierte Personen erleichtert“, so das Ärzteteam. Die Beförderung der Infizierten könnte ebenfalls zur Ausbreitung beitragen, da Krankenwagen und das Personal zu Überträgern werden. Auch andere Angestellte des Gesundheitswesens können asymptomatische Überträger sein.
Neue Wege, um Pandemien zu begegnen
Pandemielösungen seien aus diesem Grund für die gesamte Bevölkerung erforderlich, nicht nur für Krankenhäuser. Häusliche Pflege und mobile Kliniken könnten unnötige Bewegungen von Infizierten verhindern und Krankenhäuser entlasten. Eine Sauerstofftherapie könne in die Häuser von leicht erkrankten Patientinnen und Patienten verlegt werden, wo die Behandlung mithilfe eines telemedizinischen Systems überwacht werden könnte.
Dieser Ansatz könnte Krankenhausaufenthalte auf besonders schwere Fälle beschränken, wodurch die Ansteckung verringert, medizinisches Personal besser geschützt und der Verbrauch von Schutzausrüstung minimiert werden könnte.
Das Coronavirus ist das Ebolavirus der Reichen
„Dieser Ausbruch ist mehr als nur ein Phänomen der Intensivmedizin, es ist vielmehr eine Krise des öffentlichen Gesundheitswesens und der humanitären Hilfe“, unterstreicht das Team. Das Coronavirus könne als das Ebolavirus der Reichen bezeichnet werden. Es erfordere eine koordinierte und transnationale Anstrengung, um es einzudämmen.
Es trifft dort, wo es dem Gesundheitswesen wehtut
„Es ist nicht besonders tödlich, aber es ist sehr ansteckend“, schreiben die Ärztinnen und Ärzte weiter. Je stärker die Gesellschaft medizinisch organisiert und zentralisiert sei, desto weiter verbreite sich das Virus. Die Katastrophe, die sich derzeit in der Lombardei entfalte, könne sich überall dort ereignen, wo das Gesundheitswesen ähnlich aufgebaut ist – also in fast allen westlichen Ländern. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Mirco Nacoti, Andrea Ciocca, Angelo Giupponi, u.a.: At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation; in: NEJM Catalyst, 2020, catalyst.nejm.org
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.