Schwere COVID-19-Verläufe: Falsches Timing des Immunsystems
Bei einem großen Teil der Menschen, die sich mit dem Coronavirus SARS-COV-2 anstecken, verläuft die Infektion relativ harmlos; zum Teil sogar ganz ohne Symptome. Andere hingegen erkranken schwer an der durch den Erreger ausgelösten Krankheit COVID-19. Forschende haben nun neue Erkenntnisse gewonnen, die in Zukunft helfen könnten, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben neue Erkenntnisse dazu gewonnen, warum es manchmal zu schweren COVID-19-Krankheitsverläufen kommt. Demnach schüttet der Körper den Botenstoff TGFβ – den der Körper normalerweise dazu nutzt, die Immunreaktion am Ende einer Infektion wieder herunterzufahren – bereits zu Beginn der Infektion aus und blockiert so die frühe Bekämpfung des Erregers durch das angeborene Immunsystem.
Botenstoff wird in erster Infektionswoche verstärkt produziert
Wie in einer aktuellen Mitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin erklärt wird, hat der Botenstoff TGFβ (Transforming Growth Factor β) im menschlichen Körper viele Funktionen. Unter anderem spielt er eine wichtige Rolle bei der Embryonalentwicklung und der Heilung von Gewebe, wirkt jedoch auch auf das Immunsystem.
Das Signalmolekül ist normalerweise mit dafür verantwortlich, eine Immunreaktion nach der erfolgreichen Bekämpfung eines Krankheitserregers wieder herunterzuregeln. Daher wird es erst gegen Ende einer Infektion gebildet.
Bei COVID-19 ist dies anders: Forschende verschiedener Disziplinen aus der Charité haben jetzt zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Leibniz-Instituts Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin (DRFZ) nachgewiesen, dass der Körper TGFβ bei schweren Verläufen der Erkrankung bereits innerhalb der ersten Woche der Infektion verstärkt produziert.
„Das konnten wir bei anderen Lungenentzündungen nicht beobachten und hat uns sehr überrascht“, so Dr. Mario Witkowski, korrespondierender Erstautor der Studie und Wissenschaftler am Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité.
Das Team fand heraus, dass sich das falsche Timing der dämpfenden TGFβ-Ausschüttung auf einen Arm des Immunsystems auswirkt, der bisher weniger stark im Fokus der weltweiten Forschung stand: die angeborene Abwehr. Die Studienergebnisse wurden kürzlich in dem Fachmagazin „Nature” veröffentlicht.
NK-Zellen targen zur frühen Eindämmung von SARS-CoV-2 bei
Die angeborene Abwehr attackiert alle Krankheitserreger auf dieselbe Art und Weise, ist also unspezifisch, dafür aber umgehend einsatzbereit. Wenn es dieser ersten Schutzeinheit nicht gelingt, einen Erreger unschädlich zu machen, wird im zweiten Schritt die sogenannte erworbene Abwehr aktiv. Dazu gehören zum Beispiel Antikörper-produzierende Zellen oder T-Zellen.
Das erworbene Immunsystem richtet sich gezielt gegen einzelne Keime. Es muss den Erreger aber erst einmal „kennenlernen“ und braucht deshalb eine gewisse Zeit, in Gang zu kommen. Daher ist das angeborene Immunsystem für die sofortige Bekämpfung von Eindringlingen unabdingbar.
Wenn der Erreger ein Virus ist, werden hier vor allem sogenannte Natürliche Killerzellen – kurz NK-Zellen – aktiv. Diese sind darauf spezialisiert, virusinfizierte Zellen des Körpers anhand ihrer veränderten Oberfläche zu erkennen und sie mithilfe von Zellgiften zu beseitigen.
Wie das Forschungsteam jetzt erstmals belegen konnte, tragen NK-Zellen auch zur frühen Eindämmung von SARS-CoV-2 bei. Ihre Fähigkeit, SARS-CoV-2-infizierte Zellen zu entfernen, wird allerdings durch die frühe Ausschüttung von TGFβ behindert.
Vergleich mit anderen schweren Erkältungserkrankungen
Für die Studie wurden NK-Zellen aus dem Blut von Männern und Frauen mit unterschiedlich schwerem COVID-19 isoliert und deren Funktionsfähigkeit im Labor untersucht. Zum Vergleich zogen die Forschenden Zellen von Gesunden oder Patientinnen und Patienten mit anderen schweren Erkältungserkrankungen heran.
Dabei zeigte sich, dass NK-Zellen Corona-infizierte Lungenzellen erkennen und abtöten können. Außerdem sank die Virusmenge im Rachen von Personen, die zu Beginn der SARS-CoV-2-Infektion viele dieser Immunzellen im Blut hatten, besonders schnell ab. „NK-Zellen helfen also bei der Bekämpfung von SARS-CoV-2 mit“, erläutert Dr. Witkowski. „Allerdings waren Zellen, die wir schwer betroffenen Personen entnahmen, im Labor viel weniger gegen das Virus wirksam als Zellen von Menschen mit nur schwachen Symptomen.“
Den Grund dafür fanden die Fachleute in der zu frühen Ausschüttung von TGFβ. Dazu analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei mehr als 80.000 einzelnen NK-Zellen aus 68 Proben verschiedener Stadien und Schweregrade der COVID-19-Erkrankung, welche Gene exakt aktiv waren.
Den Angaben zufolge lieferte dieser Gen-Atlas hochaufgelöste Daten zur Reaktion der Immunzellen – und wies auf einen starken Einfluss durch den immundämpfenden Botenstoff TGFβ hin. „Unsere Daten zeigen, dass NK-Zellen bei Patientinnen und Patienten mit COVID-19 zwar früh aktiviert, aber dann durch TGFβ gleich wieder blockiert werden“, erklärt Dr. Mir-Farzin Mashreghi, dessen Arbeitsgruppe am DRFZ die Gen-Analysen durchführte.
„Die NK-Zellen können dann schlechter an virusinfizierte Zellen andocken und sie deshalb nicht unschädlich machen.“ Der Effekt tritt vor allem bei COVID-19-Erkrankten mit schwerem Verlauf auf. Bei ihnen war TGFβ schon in den ersten Tagen der Infektion in hohen Mengen nachweisbar, während Menschen mit milden Symptomen den Botenstoff erst nach über drei Wochen produzierten. Bei Erkrankten mit anderen schweren Lungenentzündungen zeigten die NK-Zellen keine Zeichen einer Einwirkung von TGFβ.
Offenbar ein Charakteristikum von COVID-19
„Neben anderen Faktoren entscheidet also das Timing der TGFβ-Ausschüttung darüber, wie COVID-19 verläuft“, so Prof. Dr. Andreas Diefenbach, Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité und korrespondierender Leiter der Studie.
Er beschreibt seine Arbeitshypothese so: „Vermutlich ist das angeborene Immunsystem bei den meisten COVID-19-Betroffenen in der Lage, das Virus schon kurz nach der Infektion zurückzudrängen. Bei manchen Patientinnen und Patienten reagiert das Immunsystem jedoch so stark auf den Erreger, dass der Körper gegenreguliert und den dämpfenden Botenstoff TGFβ bildet. Das blockiert unter anderem die Funktionsfähigkeit der NK-Zellen.“
Und weiter: „Zu dem Zeitpunkt ist SARS-CoV-2 jedoch noch nicht beseitigt, das hemmende Signal kommt also zu früh. Diese fehlgeleitete Immunreaktion führt schließlich dazu, dass das Virus nicht effizient bekämpft werden kann und die für schwere Verläufe typischen Schäden entstehen. Eine solche starke Aktivierung und gleichzeitige Hemmung von NK-Zellen konnten wir bei anderen Infektionen wie zum Beispiel der Influenza nicht beobachten, das scheint eine Besonderheit von COVID-19 zu sein.“
Weiterer Ansatzpunkt für zukünftige Therapien
Die Forschenden halten es auf Basis ihrer Ergebnisse für möglich, dass eine zeitige Hemmung von TGFβ schwere Verläufe von COVID-19 verhindern könnte. Um die Wirkung des Botenstoffs zu blockieren, kämen laut den Fachleuten eine Reihe von Wirkstoffen infrage, die ursprünglich zur Behandlung von Krebs und Rheuma entwickelt wurden und derzeit in klinischer Prüfung sind. Bei diesen Erkrankungen spielt TGFβ ebenfalls eine Rolle.
„Anti-TGFβ-Therapien wären ein interessanter Ansatz, um das Timing der Immunreaktion zu korrigieren. Zunächst müssten die experimentellen TGFβ-Hemmer jedoch im Tiermodell gegen COVID-19 getestet werden“, sagt Prof. Diefenbach.
„Wir sehen darüber hinaus einen weiteren Ansatzpunkt für zukünftige Therapien: Möglicherweise könnte man die NK-Zellen im Körper gezielt aktivieren, um sie wieder in die Lage zu versetzen, SARS-CoV-2-infizierte Zellen unschädlich zu machen. Dazu werden wir jetzt untersuchen, wie genau die Immunzellen ihre Zielzellen erkennen und beseitigen.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Charité – Universitätsmedizin Berlin: Nature-Studie: SARS-CoV-2 bringt Timing der Immunreaktion durcheinander, (Abruf: 26.10.2021), Charité – Universitätsmedizin Berlin
- Witkowski M et al.: Untimely TGFβ responses in COVID-19 limit antiviral functions of NK cells; in: Nature, (veröffentlicht: 25.10.2021), Nature
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.