Welche Gefahr geht von B.1.617.2 aus?
Im Verlauf des vergangenen Jahres sind zahlreiche neue Varianten des Coronavirus SARS-CoV-2 entstanden, von denen einige erheblichen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatten. Zu diesen sogenannten Variants of Concern (Varianten der Besorgnis) zählt auch B.1.617.2, erstmals im Oktober vergangenen Jahres in Indien nachgewiesen.
Forschende warnen, dass die indische Virusvariante sehr wahrscheinlich infektiöser als beispielsweise die britische Variante sei, welche in Deutschland einen maßgeblichen Anteil an der zweiten Infektionswelle hatte. So könnte mit der Ausbreitung von B.1.617.2 auch eine dritte Infektionswelle drohen. In Großbritannien steigen die Infektionszahlen mit der indischen Variante bereits rasant und in einem aktuellen Beitrag des „British Medical Journal“ (BMJ) wird eindringlich auf Gegenmaßnahmen gedrungen.
Grundlegend verändertes Risiko
„Die neue Variante hat das Risiko, mit dem wir konfrontiert sind, grundlegend verändert“, warnt Stephen Reicher von der University of St. Andrews, Co-Autor des Beitrags im BMJ. Seit den ersten Nachweisen in Großbritannien breite sich B.1.617.2 rasant aus und jede Woche verdoppelten sich die Fallzahlen. In einigen Orten sei sie bereits die dominante Variante.
Vieles spreche dafür, dass B.1.617.2, verglichen mit der bis dato dominanten britischen B.1.1.7-Variante, übertragbarer ist – möglicherweise auch zwischen Personen, die vollständig geimpft sind, schreiben die Forschenden. Die verstärkte Übertragung könne eventuell jedoch auf den Personenkreis der bisher Infizierten zurückzuführen sein und zudem bleibe unklar, ob diese Variante tendenziell schwerere Verläufe von COVID-19 bedingt.
Berechnung verschiedener Szenarien
Unter verschiedenen Annahmen wurden mögliche Szenarien für die Auswirkungen der neuen Virusvariante berechnet, wobei deutlich wurde, dass diese extrem schwerwiegend sein könnten. Die Modellierung des „Worst-Case“-Szenarios , wenn B.1.617.2 um 40 bis 50 Prozent übertragbarer wäre als B.1.1.7, könnte den Forschenden zufolge zu einem Anstieg der Krankenhausaufenthalte führen, der schlimmer wäre als auf dem Höhepunkt der zweiten Welle.
Wenn die indische Virusvariante auch den Schutz der Impfstoffe untergräbt, drohen noch weit dramatischer Folgen, so die Warnung in dem Beitrag des BMJ. „Wir wissen nicht genug, um sicher zu sein, wie ernst es wäre, wenn B.1.617.2 die dominante Variante in Großbritannien werden würde“, schreiben die Forschenden. Unter den gegebenen Unsicherheiten seien daher geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um dies zu verhindern.
Fünf Gegenmaßnahmen empfohlen
Hier seien zunächst fünf Maßnahmen zu nennen, die ohnehin umgesetzt werden sollten und die die Bedrohung durch die neue Variante ebenfalls reduzieren könnten.
Bessere globaler Zugang zu Impfungen: Die Situation, dass immer neue gefährliche Varianten des Virus auftauchen, ergebe sich aus der Tatsache, dass die Pandemie auf globaler Ebene ernster ist als je zuvor, berichten die Forschenden. Die Infektionen in Südamerika und Südasien seien außer Kontrolle geraten und in Afrika zeichne sich ebenfalls ein Anstieg der Infektionen ab.
Hier bestätige sich, dass „niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind.“ Eine kurzfristige globale Umverteilung von Impfstoffen und ein mittel- bis langfristiger Verzicht auf Impfstoffpatente seien daher erforderlich.
Systematische und effektive Grenzkontrollen: Um die Verbreitung neuer Varianten einzuschränken seien systematische und effektive Grenzkontrollen erforderlich, die jedoch voraussetzen, dass Länder, in denen neue gefährliche Varianten kursieren, schneller identifiziert werden und umgehend entsprechende Reisebeschränkungen sowie Quarantäneanordnungen erlassen werden. Bisher sei es, wenn ein Land auf die „rote Liste“ gesetzt wird, in der Regel schon viel zu spät.
Ausbau lokaler Test- und Kontaktverfolgungskapazitäten: Vor Ort verankerte Test- und Rückverfolgungssysteme mit ausreichend Kapazitäten, um Infektionen und Kontaktpersonen so schnell wie möglich zu identifizieren. Auch sollten Hilfestellungen bei der Isolierung Betroffener geboten werden, betonen die Forschenden. Würde sich beispielsweise herausstellen, dass B.1.617.2 unter Zusammenlebenden übertragbarer ist als andere Virusvarianten, sei die Bereitstellung lokaler Unterkünfte hilfreich.
Angemessene Belüftung als Kriterium zur Wiedereröffnung: Angesichts der zunehmenden Beweise bezüglich der Aerosolübertragung und der wesentlichen Bedeutung, die die Belüftung hiermit einnimmt, müsse eine angemessene Belüftung ein Kriterium für die Wiedereröffnung von Geschäften sein. Hier seien von staatlicher Seite auch Zuschüsse für die Verbesserung der Belüftung in Erwägung zu ziehen.
Klare und konsistente öffentliche Botschaften: Die sich verändernden Risiken durch COVID-19 müssen offen kommuniziert werden, zusammen mit klaren Anleitungen, wie die Menschen diese Risiken in ihrem eigenen Leben erkennen und reduzieren können, betonen die Forschenden. Mit Versprechungen zu Wiedereröffnungen und anderen schwer absehbaren Entwicklungen sei daher Zurückhaltung geboten.
Weiteren Lockdown vermeiden
„In Kombination stellen diese Maßnahmen eine effektive Strategie der Infektionsunterdrückung gegen alle Varianten dar, ohne das Alltagsleben übermäßig stark einzuschränken“, betonen die Forschenden. Mit ihrer Hilfe lasse sich auch eine weitere Infektionswelle und die Rückkehr zu strengeren gesetzlichen Regulierungen (“Lockdown”) hoffentlich vermeiden.
Zudem sind die Forschenden der Meinung, dass in Großbritannien eine Pause auf dem Weg der Wiedereröffnungen angeraten sei. Denn in ein paar Wochen seien vermutlich genügend Informationen über die indische Virusvariante verfügbar, um fundiert zu bewerten, „ob die Erhöhung der Durchmischung in Innenräumen fortgesetzt werden kann, ohne eine dritte Welle zu riskieren.“
Maßnahmen nicht hinauszögern
Während der gesamten Pandemie habe die (britische) Regierung immer wieder Maßnahmen hinausgezögert in der Annahme, dass die Öffentlichkeit sie nicht akzeptieren würde, und es habe sich gezeigt, dass sie systematisch falsch lag, so die Fachleute. „Jetzt innezuhalten, nachdem man die Erwartungen so hoch geschraubt hat, wird keine populäre Entscheidung sein (zumindest nicht kurzfristig). Aber bei einer guten Regierung geht es in erster Linie darum, die Bevölkerung zu schützen, und nicht darum, sich beliebt zu machen“, schreiben sie im BMJ. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Stephen Reicher, Susan Michie, Christina Pagel: Covid-19: What should we do about B.1.617.2? A classic case of decision making under uncertainty; in: British Medical Journal (veröffentlicht 17.05.2021), bmj.com
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.