Erhöhen Blutdrucksenker das Corona-Risiko?
Millionen Menschen in Deutschland nehmen regelmäßig blutdrucksenkende Medikamente ein. Bereits vor Monaten wurde berichtet, dass solche Präparate das Risiko erhöhen können, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren. Zudem soll bei Personen, die die Blutdrucksenker einnehmen, die Gefahr für schwere COVID-19-Krankheitsverläufe größer sein. Doch stimmt das wirklich?
Zahlreiche Patientinnen und Patienten sind durch Spekulationen verunsichert: Blutdrucksenker könnten anfälliger für Coronavirus-Infektionen machen beziehungsweise zu schwereren COVID-19-Erkrankungen führen. Fachleute hatten dennoch immer wieder darauf hingewiesen, dass es falsch ist, wegen solcher Behauptungen den Schluss zu ziehen, Medikamente abzusetzen. Forschende aus Mannheim haben sich nun damit beschäftigt, ob diese Mittel tatsächlich das Corona-Risiko erhöhen können.
Haupteintrittspunkt in die Wirtszelle
Wie in einer aktuellen Mitteilung der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) erklärt wird, werden Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen häufig mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt, die in das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) eingreifen, etwa mit Hemmern des Angiotensin-Converting-Enzyme 1 (ACE-Hemmer) und Angiotensin II-Rezeptor-Blockern (ARB).
Das Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) ist ein Isoenzym von ACE1 und wie dieses wichtiger Bestandteil des RAAS – und es dient einigen Coronaviren, darunter auch dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, als Haupteintrittspunkt in die Wirtszelle.
Sind Personen, die regelmäßig Medikamente einnehmen die auf das RAAS-System einwirken, daher besonders gefährdet, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, oder laufen sie Gefahr von schwereren Krankheitsverläufen?
Kein Grund für das Absetzen der Medikamente
Zahlreiche klinische Studien befassen sich mit genau dieser Frage. Forschende der V. Medizinischen Klinik der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) haben jetzt systematisch die Ergebnisse vieler dieser Einzelstudien in einer Metaanalyse untersucht und die Ergebnisse in einem systematischen Review in der Fachzeitschrift „British Journal of Clinical Pharmacology“ zusammengefasst.
Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass die Daten keinerlei Hinweis darauf geben, dass RAAS-blockierende Medikamente das Infektionsrisiko für Coronaviren erhöhen. Daher sehen die Autoren der Studie keinen Grund, ACE-Hemmer oder ARBs in der klinischen Praxis abzusetzen.
Effekte auf Infektionsrisiko und Gesamtsterblichkeit
Wie in der Mitteilung erklärt wird, ist das RAAS ein endokrines Hormon-System, das den Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt des Körpers reguliert und damit auch entscheidend auf den Blutdruck einwirkt. ACE-Hemmer sowie ARBs wirken auf unterschiedliche Weise auf das RAAS. Beide Wirkstoffgruppen werden oft als Medikamente der ersten Wahl bei Bluthochdruck eingesetzt, und auch zur Behandlung von Herz- und Niereninsuffizienz.
Tierexperimente haben gezeigt, dass ACE-Hemmer und ARBs die Expression des ACE2 in der Lunge erhöhen können. Coronaviren wiederum sind in der Lage, mit ihren Spike-Proteinen an den Rezeptor ACE2 zu binden, mit diesem zu fusionieren, und sie gelangen auf diesem Wege in die Wirtszelle. SARS-CoV-2, der Erreger der Erkrankung COVID-19, scheint dabei eine deutlich höhere Affinität zu ACE2 zu besitzen als das SARS-Coronavirus 1.
Die Besonderheit der vorliegenden Metaanalyse ist einerseits der Umfang der Studie: Den Angaben zufolge erfasste die Gruppe um Professor Dr. Berthold Hocher, Leiter der Arbeitsgruppe für experimentelle und translationale Nephrologie, und Professor Dr. Bernhard Krämer, Direktor der V. Medizinischen Klinik, systematisch alle bis dato in internationalen Journalen publizierten Studien, die die Auswirkungen von RAAS-blockierenden Medikamenten (ACE-Hemmer, ARBs) auf das Risiko, an einer Lungenentzündung zu erkranken und daran zu versterben, untersuchen – soweit sie den Qualitäts-Standards entsprachen.
Die zweite Besonderheit ist, dass die Effekte von RAAS-blockierenden Medikamenten auf das Infektionsrisiko und die Gesamtsterblichkeit einerseits bei COVID-19-Erkrankten und parallel dazu bei Patientinnen und Patienten mit einer Lungenentzündung (Pneumonie), die nicht mit einer SARS-CoV-2 Infektion in Verbindung steht, untersucht wurden. Dies ermöglicht den direkten Vergleich des Wirkungsprofils von ACE-Hemmern und Angiotensin II-Rezeptor-Blockern auf COVID-19-Erkrankte und Nicht-COVID-19-Patientinnen und -Patienten.
Verringertes Risiko für eine SARS-CoV-2 Infektion
In den COVID-19-Studien analysierten die Forschenden das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, das Risiko schwerer negativer klinischer Ergebnisse – Notwendigkeit der Aufnahme auf eine Intensivstation, invasive und nicht-invasive Beatmung sowie Tod – und das Risiko der Gesamtsterblichkeit bei COVID-19-Erkrankten, die entweder mit ACE-Hemmern oder ARBs behandelt wurden.
Die Analyse sämtlicher Studien ergab, dass sowohl ACE-Hemmer als auch Angiotensin II-Rezeptor-Blocker das Erkrankungs- und Sterblichkeitsrisiko weder in Bezug auf COVID-19 noch auf eine Lungenentzündung anderen Ursprungs erhöhen.
Vielmehr scheinen Patientinnen und Patienten, die ACE-Hemmer einnehmen, im Vergleich zu Personen ohne Medikamenteneinnahme dieser Wirkstoffklasse ein um 13 Prozent verringertes Risiko für eine SARS-CoV-2 Infektion zu haben (elf Studien; insgesamt 8,4 Millionen Patientinnen und Patienten), sowie ein um 26 Prozent reduziertes Risiko für eine Lungenentzündung anderen Ursprungs (25 Studien; insgesamt 330.780 Patientinnen und Patienten).
Im Vergleich dazu hat die Einnahme von Angiotensin II-Rezeptor-Blockern offenbar keinen Effekt auf das Infektionsrisiko, weder für SARS-CoV-2 (zehn Studien; insgesamt 8,4 Millionen Patientinnen und Patienten) noch für eine nicht durch SARS-CoV-2 hervorgerufene Pneumonie (zehn Studien; insgesamt 275.621 Patientinnen und Patienten).
Vorteil für Erkrankte
Auch in Bezug auf die Gesamtsterblichkeit spricht nichts gegen eine Einnahme der Medikamente: Die Blockade des RAAS – entweder durch ACE-Hemmer oder durch ARBs (beide Substanzklassen wurden hinsichtlich dieses Endpunktes zusammen ausgewertet, weil die bisherigen Studien zur Gesamtsterblichkeit keine Differenzierung von ACE-Hemmern beziehungsweise ARBs erlauben) – reduzierte die Gesamtmortalität von COVID-19-Erkrankten um 24 Prozent (34 Studien; insgesamt 67.644 Patientinnen und Patienten).
Die mit einer Pneumonie anderen Ursprungs verbundenen Todesfälle waren unter Einnahme von ACE-Hemmern um 27 Prozent reduziert. Todesfälle unter Einnahme von ARBs wurden in dieser Gruppe in nur einer Studie untersucht, waren jedoch auch dort reduziert.
„Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass die blutdrucksenkenden Medikamente das Risiko, an einer Lungenentzündung zu erkranken, nicht erhöhen. Sie scheinen vielmehr einen gewissen Vorteil für den Patienten haben: Sie reduzieren das Infektionsrisiko und das Risiko schwerer Verläufe“, so Hocher. Das gelte sowohl für Infektionen mit SARS-CoV-2 als auch durch andere Erreger verursachte Infektionen.
„Allerdings stützen sich unsere Ergebnisse vor allem auf Beobachtungsstudien. Um eine solche Aussage sicher treffen zu können, müssten die Effekte in Placebo-kontrollierten Interventionsstudien überprüft werden.“
Das insgesamt bessere Abschneiden der ACE-Hemmer im Vergleich zu Angiotensin II-Rezeptor-Blockern führt der Wissenschaftler darauf zurück, dass ACE-Hemmer über das Bradykinin-System eine gewisse schützende Wirkung vor Pneumonien entfalten.
„Interessant ist auch, dass sich der mögliche Benefit einer RAAS-Blockade in COVID-19-Patienten und Nicht-COVID-19-Patienten nicht grundsätzlich unterscheidet“, sagt Professor Krämer. Daher raten die Autoren des systematischen Reviews davon ab, diese Medikamente „der ersten Wahl“ abzusetzen. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsmedizin Mannheim: Erhöhen blutdrucksenkende Mittel das Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV-2?, (Abruf: 08.12.2020), Universitätsmedizin Mannheim
- Chang Chu, Shufei Zeng, Ahmed A. Hasan, Carl‐Friedrich Hocher, Bernhard K. Kraemer, Berthold Hocher: Comparison of Infection Risks and Clinical Outcomes in Patients with and without SARS‐CoV‐2 Lung Infection under Renin‐Angiotensin‐Aldosterone‐System Blockade ‐ Systematic Review and Meta‐Analysis; in: British Journal of Clinical Pharmacology, (veröffentlicht: 20.11.2020), British Journal of Clinical Pharmacology
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.