Mehr Antibiotika-Resistenzen durch Corona-Pandemie
Obwohl Antibiotika in erster Linie gegen Bakterien und nicht gegen Viren wirken, werden die Medikamente während der Corona-Pandemie häufiger eingesetzt als gewöhnlich, denn COVID-19-Erkrankte erhalten oftmals auch Antibiotika, um die Betroffenen vor zusätzlichen bakteriellen Infektionen zu schützen. Fachleute warnen nun, dass die massenhafte Verwendung Antibiotikaresistenzen fördern könne, die die Arzneien zunehmend unwirksamer werden lassen.
Antibiotika bei einer Virusinfektion wie COVID-19? Das klingt zunächst paradox: Diese Medikamente helfen schließlich gegen Bakterien. Trotzdem werden sie in der Pandemie häufig verabreicht. Das kann gefährliche Folgen haben.
Paradox: Virus-Pandemie scheint Antibiotika-Resistenzen zu fördern
Antibiotika können hartnäckige Entzündungen oft schnell beseitigen. Aber ihr massenhafter Einsatz hat eine Kehrseite: die Entwicklung und Ausbreitung von Resistenzen bei Bakterien, so dass Antibiotika wirkungslos werden. „Antibiotika, die unnötig gegeben werden, sind die große Gefahr“, erläutert Tim Eckmanns, der am Robert Koch-Institut in Berlin das Fachgebiet für Krankenhausinfektionen, Überwachung von Antibiotikaresistenzen und -verbrauch leitet.
Expertinnen und Experten sorgen sich, dass ausgerechnet die von einem Virus ausgelöste Pandemie die Resistenzentwicklung bei Bakterien befeuern könnte. Auch wenn es paradox klingt: Wohl ein großer Teil der COVID-19-Betroffenen bekam oder bekommt Antibiotika – teils reflexhaft, wie Kritiker sagen.
Warum COVID-19-Betroffene oft Antibiotika erhalten
„COVID-19 ist eine reine Virusinfektion, da machen Antibiotika keinen Sinn“, stellt Stefan Kluge vom UKE Hamburg klar. Der Mitautor der Behandlungsempfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) verweist auch auf Nebenwirkungen und Kosten. Die Gründe, aus denen die Mittel dennoch eingesetzt werden, sind vielschichtig.
Ein Anwendungsfall sind schwer an COVID-19 erkrankte Menschen, die intensivmedizinisch versorgt werden. „Wenn ein Patient länger auf der Intensivstation liegt, mehrere Wochen zum Beispiel, dann hat er in der Regel auch Antibiotika bekommen“, erläutert Kluge. Hier geht es nicht darum, COVID-19 zu begegnen: Während der Behandlung auf der Intensivstation träten oftmals bakterielle Infektionen über Schläuche und Katheter auf, so Kluge.
Das Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellte im November 2020 und mit Blick auf neun europäische Länder und Regionen fest: Es gebe Hinweise, dass bis zu 15 Prozent der schwer betroffenen COVID-19-Patienten eine sogenannte bakterielle Co-Infektion entwickeln und Antibiotika benötigen könnten, „während 75 Prozent diese tatsächlich erhalten“.
Einsatz nicht immer notwendig
Solche Diskrepanzen könnten mit Schwierigkeiten bei der Diagnostik zu tun haben. Bei schwersten Lungenentzündungen lasse sich oftmals nicht klären, welche Erreger im Spiel sind, schildert Eckmanns vom RKI. Um Leben zu retten, werden Antibiotika somit auch in der Hoffnung verabreicht, mutmaßlich auch vorhandene Bakterien zu bekämpfen.
Antibiotika kommen aber nicht nur zum Einsatz, wenn es um Leben und Tod geht. Janne Vehreschild koordiniert an der Uniklinik Köln das europäische Fallregister Leoss, in dem bisher rund 7000 vollständige Datensätze zur Behandlung von COVID-19-Patienten dokumentiert sind. Demnach erhielt mehr als jeder Vierte (28 Prozent) der erfassten nicht-sauerstoffpflichtigen Patienten diese Mittel. Vehreschild sagt, es gehe teils um relativ fitte, ambulante Patienten. Und von den Patienten, die mit Sauerstoff versorgt werden müssen, bekämen nach seinen Daten sogar 80 Prozent Antibiotika.
Zu viel Antibiotika-Gabe in der Pandemie
„Ich glaube, wir setzen in der Pandemie viel zu viel Antibiotika ein“, meint Vehreschild. Neben der Gefahr der Resistenzentwicklung befürchtet er auch schädliche Folgen für Patienten, unter anderem weil Antibiotika die Immunfunktion schwächten. Frühere Studien hätten gezeigt, dass sie den Verlauf von Virusinfektionen sogar verschlimmern können, das sei auch bei COVID-19 nicht auszuschließen.
Verschreibung bei Atemwegsinfektionen
Verschrieben würden die Mittel aus unterschiedlichen Gründen: Ein vorsorglich ausgestelltes Rezept könne rechtlich eine Absicherung sein, sollte es später doch Komplikationen geben, erklärt er. Experten betonten, dass auch die Patienten mit der Erwartung an die Verschreibung zum Arzt gehen. Teils wird so ein Mittel wohl auch schon verschrieben, bevor das PCR-Testergebnis vorliegt.
Die meisten Atemwegsinfektionen entstehen durch Viren, bei denen Antibiotika nutzlos sind, wie Kluge erklärt. Ein Dilemma: „Zum Antibiotikum greift man bei Atemwegsinfektionen leider relativ schnell, weil sich bei bakteriellen Infekten auch eine Sepsis (Blutvergiftung) entwickeln kann.“ Angesetzt seien die Mittel schnell, aber das Absetzen falle schwer und sei die eigentliche Kunst.
Verbeugen einer Corona-Infektion nicht möglich
Dann gibt es noch die Kategorie Irrtum in der Antibiotika-Anwendung: Die WHO berichtete, dass Menschen es auch einnahmen, weil sie fälschlicherweise glaubten, damit einer Corona-Infektion vorzubeugen. Als falsch erwiesen haben sich auch die Hoffnungen bei einem bestimmten Antibiotikum namens Azithromycin. Manche Ärzte hatten geglaubt, damit eine Wirkung gegen die Corona-Infektion zu erzielen.
Mittlerweile gelte Azithromycin bei COVID-19 als „nicht wirksam“, betont Kluge. Für Spanien zeigte eine Studie einen Anstieg beim Verbrauch um 400 Prozent allein im März 2020 im Vergleich zum Monat zuvor; und zudem starke Zunahmen beim Verbrauch mehrerer Breitbandantibiotika.
Gesamtbild in Deutschland unklar
Für Deutschland laufe die Datenauswertung zum Antibiotikaverbrauch noch, das Gesamtbild sei daher unklar, sagt Eckmanns. Zwar zeichne sich ab, dass einige Antibiotika wesentlich mehr gegeben wurden, etwa Azithromycin. Es könne sich bis Ende 2021 aber auch herausstellen, dass der Gesamtverbrauch sogar gesunken ist – da wegen abgesagter Operationen weniger Patienten in Krankenhäusern behandelt wurden.
Auf Hygiene in den Kliniken kommt es an
Auch die Hygiene in den Kliniken spiele für die Verbreitung von Resistenzen eine Rolle, für ein Fazit sei es aber auch hier zu früh, so Eckmanns: Es gebe Anzeichen, dass die Hygiene insgesamt besser geworden sei, aber gerade auf COVID-19-Stationen könne sie wegen der aufwendigen Schutzausrüstung des Personals sogar nachgelassen haben.
Resistenzentwicklung: ein schleichendes Problem
„Die Resistenzentwicklung ist zwar keine unmittelbare Katastrophe, sondern eine Entwicklung über Jahre“, sagt Kluge. „Man kann trotzdem nicht genug darauf hinweisen, dass das ein ernstzunehmendes Problem ist. Wir haben es jetzt mit einer Virus-Pandemie zu tun, aber wir sind ja in den letzten Jahren in Deutschland auch immer wieder mit Ausbrüchen von multiresistenten Bakterien konfrontiert worden.“ (vb/Quelle: Gisela Gross, dpa)
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