COVID-19: Welche Gefahr geht von Autoantikörpern aus?
Bei vielen stationären COVID-19-Betroffenen wurden sogenannte Autoantikörper entdeckt. Diese Antikörper treten auch bei einigen Autoimmunerkrankungen auf und greifen den eigenen Organismus an. In einer aktuellen Studie untersuchte ein amerikanisches Forschungsteam nun, wie häufig diese Autoantikörper auftreten und welche potenziellen Gefahren dadurch für die Betroffenen entstehen.
Forschende der Stanford University School of Medicine in Kalifornien (USA) zeigten, dass mindestens einer von fünf hospitalisierten COVID-19-Betroffenen innerhalb einer Woche nach der Einlieferung in ein Krankenhaus Antikörper entwickelt, die sein eigenes Gewebe angreifen. Diese sogenannten Autoantikörper können nach Ansicht der Arbeitsgruppe frühe Vorboten einer Autoimmunerkrankung sein. Die Studienergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Nature Communications“ präsentiert.
Autoimmun-Beschwerden bei COVID-19
Einige Symptome, die bei COVID-19 auftreten können, sind eher typisch für Autoimmunerkrankungen. Dazu zählen beispielsweise Beschwerden wie chronische Müdigkeit, Hautausschläge, trockene Augen, Gelenkschmerzen (Arthralgie), Arthritis oder Muskelschmerzen (Myalgie). Auch seltene Komplikationen wie Entzündungen des Hirn-Gewebes (Enzephalitis), Gefäßentzündungen (Vaskulitis) und Herzmuskelentzündungen (Myokarditis) können durch Autoantikörper ausgelöst werden.
Sind Autoantikörper Vorboten von Autoimmunerkrankungen?
„Wenn man durch COVID-19 so krank wird, dass man im Krankenhaus landet, ist man möglicherweise auch nach der Genesung noch nicht über den Berg“, erläutert Professor Paul J. Utz. Er ist Experte für Immunologie und Rheumatologie an der Stanford Medicine und einer der Hauptautoren der Studie.
Risiko für Bildung von Autoantikörpern bei COVID-19 erhöht
Der aktuellen Studie zufolge haben Patientinnen und Patienten mit schwerem COVID-19 ein wesentlich höheres Risiko, Autoantikörper zu bilden – also Antikörper, die sich gegen das eigene Gewebe richten – als Menschen ohne COVID-19. Derzeit ist ungewiss, welche langfristigen Folgen dies für die Betroffenen haben kann. Die Autoantikörper könnten eine langanhaltende, vielleicht sogar lebenslange Autoimmunerkrankung auslösen, warnen die Forschenden.
Antikörper im Blut von COVID-19-Betoffenen
Das Team analysierte Blutproben, die von 147 COVID-19-Betroffenen in unterschiedlichen Universitätskliniken entnommen wurden. Im Fokus der Untersuchung standen die Antikörper im Blut. Die Arbeitsgruppe maß jeweils die Konzentration von Antikörpern, die sich gezielt gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 richten, von Autoantikörpern sowie von Antikörpern, die gegen Zytokine gerichtet sind. Zytokine sind bestimmte Proteine, die von Immunzellen abgesondert werden, um die Immunabwehr zu koordinieren.
Jede fünfte Probe hatte Autoantikörper
„Innerhalb einer Woche nach der Einlieferung ins Krankenhaus hatten etwa 20 Prozent dieser Patienten neue Antikörper gegen ihr eigenes Gewebe entwickelt, die am Tag der Einlieferung noch nicht vorhanden waren“, betont Professor Utz. In vielen Fällen seien die Werte der Autoantikörper mit denen vergleichbar, die man bei einer diagnostizierten Autoimmunerkrankung sieht.
Starker Anstieg von Antikörpern gegen Zytokine bei COVID-19
Die Auswertung zeigt, dass bis zu 60 Prozent aller hospitalisierten COVID-19-Betroffenen im Vergleich zu etwa 15 Prozent der gesunden Kontrollpersonen Antikörper gegen Zytokine aufwiesen. Laut den Forschenden ist dies ein Hinweis auf ein überlastetes Immunsystem, ausgelöst durch eine langanhaltende Infektion.
Was machen Antikörper gegen Zytokine?
Wie die Arbeitsgruppe erläutert, können sich Antikörper gegen Zytokine an die Proteine binden und so die Fähigkeit der Zytokine blockieren, sich an den für sie vorgesehenen Rezeptor zu binden. Der Empfänger wird somit womöglich nicht aktiviert, wodurch das Virus mehr Zeit hat, sich zu vermehren.
Warum entstehen Autoantikörper?
Das Forschungsteam vermutet, dass es bei manchen Patientinnen und Patienten mit schwerem COVID-19 zu einer Art Entzündungsschock kommt, der mit einem sprunghaften Anstieg von Autoantikörpern einhergeht. Eine andere Vermutung sei, dass die Bildung von Autoantikörpern darauf zurückzuführen ist, dass die virale Materie unseren eigenen Proteinen ähnelt und sich deshalb die Antikörper gegen den eigenen Körper richten.
Professor Utz erklärt, es sei möglich, dass das Immunsystem im Laufe einer langanhaltenden SARS-CoV-2-Infektion das Virus in Stücke zerlegt. Auf diese Weise könnte das Immunsystem mit Viruspartikeln in Kontakt kommen, mit denen es unter normalen Umständen nicht in Berührung kommt. „Wenn eines dieser Virenteile einem unserer eigenen Proteine zu sehr ähnelt, könnte dies die Produktion von Autoantikörpern auslösen“, so Utz.
Kann die Impfung eine Autoantikörper-Bildung auslösen?
Den Forschenden zufolge kann es bei COVID-19-Impfungen nicht zur Bildung von Autoantikörpern kommen, da die Impfstoffe nicht das gesamte Virus enthalten, sondern nur das sogenannte Spike-Protein von SARS-CoV-2 beziehungsweise die genetischen Anweisungen für dessen Produktion. So komme das Immunsystem nur mit einem Virusprotein in Kontakt, wodurch das Risiko für eine überschießende Reaktion gering sei.
Dies bestätigt auch eine weitere Studie, die kürzlich im Fachjournal „Nature“ veröffentlicht wurde. Die Arbeitsgruppe, in der Professor Utz ebenfalls mitwirkte, zeigte, dass der COVID-19-Impfstoff von Biontech/Pfizer keine nachweisbare Bildung von Autoantikörpern bei den Empfängerinnen und Empfängern auslöst.
Kann COVID-19 Autoimmunerkrankungen verursachen?
„Wenn Sie einen schweren Verlauf bekommen, könnten Sie sich auf lebenslange Probleme einstellen, weil das Virus eine Autoimmunität auslösen kann“, warnt Professor Utz. Derzeit sei noch nicht feststellbar, ob eine lebenslange Autoimmunerkrankung aus COVID-19 hervorgehen kann, da es die Krankheit noch nicht lange genug gibt, um dies zu untersuchen. Es zeichne sich aber bereits ab, dass die Autoantikörper ein bis zwei Jahre nach der Infektion immer noch da sind. „Ich würde dieses Risiko nicht eingehen wollen“, betont der Professor abschließend. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Chang, S.E., Feng, A., Meng, W. et al. New-onset IgG autoantibodies in hospitalized patients with COVID-19; in: Nature Communications, 2021, nature.com
- Stanford University School of Medicine: Study links severe COVID-19 to increase in self-attacking antibodies (veröffentlicht: 14.09.2021), med.stanford.edu
- Arunachalam, P.S., Scott, M.K.D., Hagan, T. et al. Systems vaccinology of the BNT162b2 mRNA vaccine in humans; in: Nature, 2021, nature.com
- Deutsches Ärzteblatt: COVID-19: Autoantikörper könnten Patienten langfristig schaden (veröffentlicht: 14.09.2021), aerzteblatt.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.