Wichtige Erkenntnisse zu COVID-19
Das Coronavirus SARS-CoV-2, das COVID-19 verursacht, verbreitet sich weltweit weiter und hat verheerende Folgen. Bislang wurden mehr als 160 Millionen Infizierte registriert, über drei Millionen von ihnen sind gestorben. Dennoch wird die Gefahr des Erregers noch immer von vielen verharmlost. Fachleute haben nun die wichtigsten Erkenntnisse zu COVID-19 zusammengefasst. Sie weisen darauf hin, dass schwere Krankheitsverläufe mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang stehen.
Zu Beginn der Pandemie wurde das Coronavirus SARS-CoV-2 häufig auch als Atemwegsvirus bezeichnet. Doch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass es sich bei dem Erreger um ein „Multiorganvirus“ handelt, das viele Organe befällt. Leider sind aber auch viele falsche Behauptungen über das Virus und die Erkrankung im Umlauf. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun das gesicherte Wissen über COVID-19 zusammengefasst.
Neuartige virale Erkrankung
Die European Group on Immunology of Sepsis (EGIS) hat in einer aktuell in der Fachzeitschrift „Lancet Respiratory Medicine“ erschienenen Übersichtsarbeit die wichtigsten Erkenntnisse der durch SARS-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Erkrankung kritisch zusammengefasst.
Die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Wien, Göttingen und Jena koordinierte Gruppe versteht COVID-19 als eine neuartige virale Erkrankung mit einem ausgeprägten vaskulären Entzündungsanteil, die in schweren Verläufen durch eine fehlregulierte Immunantwort auf die virale Infektion gekennzeichnet ist.
Äußerst komplexe körpereigene Abwehrreaktion
Wie es in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Universitätklinikums Jena, des Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie in Wien und der Universitätsmedizin Göttingen heißt, hat die seit anderthalb Jahren währende COVID-19-Pandemie einen beispiellosen Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen, wie die Ansteckung zurückgedrängt und die Ausmaße und Folgen der Erkrankung begrenzt werden können.
Die daraus entstehende Flut von wissenschaftlichen Daten nahezu aller biomedizinischen Fachdisziplinen ist selbst für Expertinnen und Experten kaum noch beherrschbar. Den Fachleuten zufolge fällt es zunehmend schwer, fundierte Erkenntnisse, vorläufige Befunde und Hypothesen auseinanderzuhalten – mit merklichen Folgen, auch was das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft betrifft.
Während Maßnahmen zur Infektionsprävention rasch bekannt und Impfungen im Rekordtempo entwickelt wurden, bleiben wichtige Fragen zu den Krankheitsmechanismen unterschiedlicher Krankheitsverläufe – asymptomatisch bis kritisch krank – ungeklärt.
Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die durch SARS-CoV-2 ausgelöste körpereigene Abwehrreaktion äußerst komplex und uneinheitlich ausfällt. Dadurch fehlen jedoch wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsstrategien gegen COVID-19.
Untypisches Entzündungsprofil
Koordiniert von Autorinnen und Autoren aus Wien, Göttingen und Jena hat die European Group on Immunology of Sepsis, kurz EGIS, jetzt die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und kritisch ausgewertet. In einem ausführlichen Übersichtsartikel fasst die Gruppe die wichtigsten Erkenntnisse zur COVID-19-Pathophysiologie zusammen.
Laut den Fachleuten vermehrt sich SARS-CoV-2 im Unterschied zu anderen Coronaviren, die häufig nur milde bis moderate Erkältungssymptome verursachen, in den unteren Atemwegen und löst so eine schwere Lungenentzündung bis hin zu akutem Lungenversagen aus.
Ein entscheidender „infektiöser Vorteil“ von Sars-CoV-2 ist hierbei dessen gleichzeitig lang andauernde Besiedlung sowie Vermehrung auch in den oberen Atemwegen.
„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung Patienten sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. Patienten atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich. Dies ist neu für uns!“, erklärt Priv.-Doz. Dr. med. Martin Winkler von der Universitätsmedizin Göttingen.
„Es ist vermutlich ein Ausdruck, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefäßen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige COVID-19 typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen“, so der Wissenschaftler.
Dazu kommt noch eine untypische Immunantwort. Im Vergleich zu Influenza und anderen schweren Infektionen werden bei COVID-19 länger entzündungsfördernde Botenstoffe, Zytokine genannt, produziert, aber in deutlich niedrigerer Konzentration.
Dieses untypische Entzündungsprofil unterscheidet COVID-19 von anderen septischen Krankheitsbildern und erschwert womöglich die Immunantwort und damit auch die effiziente Elimination des Virus. Tatsächlich ist eine hohe virale Belastung mit der Schwere der Erkrankung assoziiert.
Führender Grund für Multiorganreaktionen
Im Verbund mit einer fehlregulierten Entzündungsantwort kann die Schädigung des Endothels nicht nur die Lunge, sondern auch Organe wie Gehirn, Herz, Nieren, Darm und die Leber in Mitleidenschaft ziehen.
Verglichen mit einer Influenza-Grippe oder SARS treten bei COVID-19 Komplikationen wie Multiorganversagen und schwere Gerinnungsstörungen öfter auf. „SARS-CoV-2 ist ein neues infektiöses Pathogen, welches unser Immunsystem vor eine neue Herausforderung stellt“, sagt Priv.-Doz. Marcin Osuchowski vom Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie, Forschungszentrum der AUVA in Wien.
„Es wird damit verständlich, dass unsere Herangehensweise nicht die sein darf, bekannte und bisher vertretene Konzepte schlicht auf COVID-19 zu übertragen. Es wird zunehmend deutlich, dass die Schwere von COVID-19-Erkrankungen mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang steht, die sich von bislang bekannten Mechanismen und Ursachen einer Sepsis unterscheidet“, erläutert der Experte.
„Wir raten zur Vorsicht gegenüber der weit verbreiteten Vorstellung eines systemischen Zytokinsturms als führender Grund für die beobachteten Multiorganreaktionen. Die Datenlage dazu ist noch nicht eindeutig.“
In ihrer Übersicht formulieren die Autorinnen und Autoren weiterhin Forschungsfragen, die mit hoher Priorität zu beantworten sind. Dazu zählen unter anderem die genauere Charakterisierung der bekannten und die Identifizierung neuer Prognosemarker für den Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung sowie qualitativ hochwertige klinische Studien zur Optimierung der gerinnungshemmenden und immunmodulatorischen Therapien. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsklinikum Jena: Gemeinsame Pressemitteilung des Universitätklinikums Jena, des Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie in Wien und der Universitätsmedizin Göttingen: Gesichertes Wissen über COVID-19, (Abruf: 19.05.2021), Universitätsklinikum Jena
- Osuchowski MF, Winkler MS, et al.: The COVID-19 puzzle: deciphering pathophysiology and phenotypes of a new disease entity; in: Lancet Respiratory Medicine, (veröffentlicht: 06.05.2021), Lancet Respiratory Medicine
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.