Darmbakterien beeinflussen Appetit und Körpertemperatur
In den letzten Jahren gab es viele bahnbrechende Erkenntnisse bezüglich der Darmflora und ihrer Bedeutung für unsere Gesundheit. Erst kürzlich wurde entdeckt, dass das Mikrobiom im Darm mit dem Gehirn kommuniziert. Nun konnte eine Forschungsgruppe erstmals einen direkten Dialog zwischen Darm und Hirn entschlüsseln.
Eine französische Arbeitsgruppe des Institut Pasteur an der Université Paris Cité hat entdeckt, dass bestimmte Neuronen im Gehirn auf bakterielle Aktivitäten im Darm reagieren und daraufhin den Appetit und die Körpertemperatur anpassen. Die Forschungsergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Science“ vorgestellt.
Wie die Darmflora wichtige Prozesse im Körper beeinflusst
Das Darmmikrobiom besteht aus Milliarden Kleinstlebewesen. Diese Mikroorganismen produzieren Nebenprodukte, die in den Blutkreislauf gelangen und so Prozesse des Wirts beeinflussen. In früheren Studien wurden bereits Interaktionen mit dem Immunsystem, dem Stoffwechsel und dem Gehirn aufgezeigt.
Die Stoffwechselprodukte der Darmbakterien beeinflussen der Studie zufolge unseren Appetit sowie unsere Körpertemperatur, indem das Gehirn entsprechend der bakteriellen Aktivität im Darm auf das Geschehen reagiert.
Die Forschungsergebnisse untermauern die Wichtigkeit der erst kürzlich bekannt gewordenen Darm-Hirn-Achse und zeigen erneut, welche Abhängigkeiten zwischen der Darmflora und dem Wirt bestehen. Zudem eröffnet die Entdeckung neue therapeutische Ansätzen zur Behandlung von Stoffwechselstörungen wie Diabetes und Adipositas.
Wie das Gehirn auf Darmbakterien reagiert
Aus früheren Untersuchungen ist bereits hervorgegangen, dass bestimmte Stoffwechsel-Produkte der Darmbakterien an Rezeptoren des Wirts andocken und so auf Prozesse Einfluss nehmen können. Im Fokus der aktuellen Studie stand der sogenannte NOD2-Rezeptor, der häufig an Immunzellen zu finden ist.
Bekannt war, dass verschiedene Erkrankungen wie Verdauungsstörungen, Morbus Crohn, neurologische Störungen und Stimmungsschwankungen mit Mutationen in dem Gen zusammenhängen, das den NOD2-Rezeptor hervorbringt.
Ein Stoffwechselprodukt der Darmbakterien, das auch ins Blut gelangt, sind die sogenannten Muropeptiden. Dabei handelt es sich um Bausteine der bakteriellen Zellwand. Diese Muropeptide sind in der Lage, an den NOD2-Rezeptor zu binden.
Grundlegende Erkenntnisse der Studie
Das Forschungsteam konnte mithilfe von bildgebenden Verfahren im Mausmodell dokumentieren, in welchen Regionen des Gehirns der NOD2-Rezptor exprimiert wird. Dabei fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, dass NOD2-Rezeptoren überwiegend in der Hirnregion Hypothalamus vorkommen.
Darüber hinaus konnte die Arbeitsgruppe belegen, dass die elektrische Aktivität bestimmter Neuronen im Gehirn unterdrückt wird, wenn sie mit bakteriellen Muropeptiden aus dem Darm in Kontakt kommen.
Bislang unbekannte Ursache für Diabetes und Adipositas?
„Fehlt hingegen der NOD2-Rezeptor, werden diese Neuronen nicht mehr von den Muropeptiden unterdrückt“, erklärt Ivo G. Boneca vom Institut Pasteur. In Folge verliere das Gehirn die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme und die Körpertemperatur.
Mäuse, bei denen der NOD2-Rezeptor fehlte, nahmen schneller an Gewicht zu und waren anfälliger für Stoffwechselkrankheiten wie Typ-2-Diabetes und Adipositas. Bei älteren Weibchen war diese Entwicklung am deutlichsten.
Erster Beleg für direkte Darm-Hirn-Kommunikation
Zuvor herrschte die wissenschaftliche Meinung vor, dass Immunzellen diese Aufgaben im Gehirn übernehmen. Die Studie zeigt erstmals deutlich, dass Neuronen im Gehirn direkt Stoffwechselprodukte von Darmbakterien wahrnehmen.
„Es ist außergewöhnlich zu entdecken, dass bakterielle Fragmente direkt auf ein so strategisches Gehirnzentrum wie den Hypothalamus einwirken“, unterstreicht Pierre-Marie Lledo vom Institut Pasteur.
Der Hypothalamus steuert bekanntlich lebenswichtige Funktionen wie die Körpertemperatur, die Fortpflanzung, den Hunger und den Durst.
Ernährung ist der größte Beeinflusser der Darmflora
Die Forschenden geben zu bedenken, dass die Darmflora in erster Linie über die Ernährung beeinflusst wird. „Ein übermäßiger Verzehr bestimmter Lebensmittel kann das unverhältnismäßige Wachstum bestimmter Bakterien oder Krankheitserreger anregen und so das Gleichgewicht des Darms gefährden“, betont Gérard Eberl des Institut Pasteur.
Erkenntnisse eröffnen neue Behandlungsansätze
In weiteren Forschungsarbeiten soll nun geklärt werden, wie die Kommunikation zwischen Darmbakterien und dem Hypothalamus genutzt werden kann, um Stoffwechselstörungen wie Diabetes und Fettleibigkeit, Verdauungsstörungen oder bestimmte Hirnerkrankungen zu behandeln.
Diese Art der Forschung stellt eine besondere Herausforderung dar, da die Expertise aus vielen verschiedenen Wissenschaftsbereichen erforderlich ist, darunter Mikrobiologie, Immunologie und Neurobiologie. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Institut Pasteur: Decoding a direct dialog between the gut microbiota and the brai (veröffentlicht: 15.04.2022), pasteur.fr
- ILANA GABANYI, GABRIEL LEPOUSEZ, RICHARD WHEELER, et al.: Bacterial sensing via neuronal Nod2 regulates appetite and body temperature; in: Science (2022), science.org
Wichtiger Hinweis:
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