Mikrobiom beeinflusst Gehirnentwicklung
Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Darmbakterien einen enormen Einfluss auf die menschliche Gesundheit haben können. Nun berichten Forschende aus Österreich, dass diese Bakterien auch die Gehirnentwicklung beeinflussen.
Im menschlichen Darm leben Billionen Bakterien. Diese haben nicht nur Einfluss auf die Verdauung, sondern auch auf unsere Gesundheit. Darmbakterien sind ein wichtiger Teil des Immunsystems und für die Aufnahme bestimmter Nährstoffe unverzichtbar. Laut einer neuen Studie können sie auch die Entwicklung des Gehirns beeinflussen.
Ansatzpunkte für frühzeitige Behandlung
Wie in einer aktuellen Mitteilung der Universität Wien erklärt wird, haben extrem Frühgeborene ein hohes Risiko für Hirnschäden.
Forschende der Uni Wien sowie der Medizinischen Universität (MedUni) Wien haben jetzt Ansatzpunkte für die frühzeitige Behandlung solcher Schäden außerhalb des Gehirns gefunden: Bakterien im Darm der Frühgeborenen spielen dabei eine Schlüsselrolle.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass die Überwucherung des Magen-Darm-Trakts mit Klebsiella-Bakterien mit einem erhöhten Vorkommen bestimmter Immunzellen und der Entwicklung neurologischer Schäden bei frühgeborenen Babys verbunden ist.
Die Studienergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Cell Host & Microbe“ veröffentlicht.
Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse
Die frühkindliche Entwicklung des Darms, des Gehirns sowie des Immunsystems hängen eng zusammen. Forschenden sprechen hier von einer Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse. Dabei kooperieren Bakterien im Darm mit dem Immunsystem, das die Darmmikroben im Blick behält und passende Reaktionen darauf entwickelt. Mit dem Gehirn steht der Darm wiederum über den Vagusnerv, jedoch auch vermittelt über das Immunsystem, in Kontakt.
„Wir haben untersucht, welche Rolle diese Achse für die Gehirnentwicklung extremer Frühchen spielt“, erklärt der Erstautor der Studie David Seki. „Die Mikroorganismen des Darmmikrobioms – das ist eine lebenswichtige Ansammlung hunderter Arten von Bakterien, Pilzen, Viren und anderen Mikroben im Darm – befinden sich bei gesunden Menschen in einem Gleichgewicht“, so der Mikrobiologe und Immunologe.
„Gerade bei Frühgeborenen, deren Immunsystem und Mikrobiom sich nicht vollständig ausbilden konnten, sind hier aber Verschiebungen wahrscheinlich, die dann auch negative Auswirkungen auf das Gehirn haben können“, sagt der Wissenschaftler.
Hirnschäden vermeiden
„Tatsächlich konnten wir bestimmte Muster im Mikrobiom und in der Immunantwort identifizieren, die eindeutig mit dem Fortschreiten und der Schwere von Hirnverletzungen zusammenhängen“, so David Berry, Mikrobiologe und Leiter der Forschungsgruppe am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien, sowie Leiter der Joint Microbiome Facility – einem wissenschaftlichen Verbund zwischen Universität Wien und MedUni Wien.
„Entscheidend ist nun, dass sich solche Muster oft noch vor den Veränderungen im Gehirn zeigen. Damit öffnet sich ein kritisches Zeitfenster, in dem man Hirnschäden extremer Frühchen vermeiden oder aber eine Verschlimmerung verhindern kann.“
Biomarker identifiziert
Ausgangspunkte für die Entwicklung entsprechender Therapien bieten die Biomarker, die das intersiziplinäre Forschungsteam identifizieren konnte.
„Unsere Daten zeigen, dass ein übermäßiges Wachstum des Bakteriums Klebsiella und die damit verbundenen erhöhten γδ-T-Zellwerte Hirnschädigungen offensichtlich verschlimmern können“, erklärt Lukas Wisgrill, Neonatologe an der Abteilung für Neonatalogie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien.
Er ergänzt: „Diesen Mustern konnten wir auf die Spur kommen, weil wir für eine sehr spezifische Gruppe von Neugeborenen erstmals detailliert erforscht haben, wie sich das Darmmikrobiom, das Immunsystem und das Gehirn entwickeln und wie sie dabei interagieren“.
Den Angaben zufolge begleitete die Studie insgesamt 60 extrem Frühgeborene, die vor der 28. Schwangerschaftswoche und mit einem Gewicht von weniger als einem Kilogramm geboren wurden, über mehrere Wochen, teilweise Monate.
Mit hochmodernen Verfahren analysierten die Forscherinnen und Forscher das Mikrobiom, Immunzellen, Hirnstrommessungen (zum Beispiel aEEG) und MRT-Aufnahmen des Gehirns der Säuglinge.
Weiteres Forschungsvorhaben
Wie es in der Mitteilung heißt, sollen weitere Erhebungen hier auf gleich zwei Ebenen anknüpfen: Die Studie, die als interuniversitäres Clusterprojekt unter der gemeinsamen Leitung von Angelika Berger (Comprehensive Center for Pediatrics, MedUni Wien) und David Berry (Universität Wien) umgesetzt wurde, ist Startpunkt für ein Forschungsvorhaben, welches das Mikrobiom und seine Bedeutung für die neurologische Entwicklung frühgeborener Kinder noch eingängiger untersuchen wird.
Darüber hinaus möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Kinder der Ausgangsstudie weiterhin begleiten. „Wie sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder entwickeln, zeigt sich letztlich erst über mehrere Jahre hinweg“, sagt Angelika Berger.
„Wir möchten noch besser verstehen, wie sich diese sehr frühe Entwicklung der Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse langfristig auswirkt.“
Die wichtigsten Kooperationspartnerinnen und -partner für das Vorhaben sind bereits an Bord: „Die Eltern der Kinder haben uns mit großem Interesse und großer Offenheit in der Studie unterstützt“, so David Seki. „Letztlich konnten wir nur deshalb diese wichtigen Erkenntnisse gewinnen. Dafür sind wir sehr dankbar.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universität Wien: Darmbakterien beeinflussen Gehirnentwicklung, (Abruf: 04.09.2021), Universität Wien
- David Seki, Margareta Mayer, Bela Hausmann, Petra Pjevac, Vito Giordano, Katharina Goeral, Lukas Unterasinger, Katrin Klebermaß-Schrehof, Kim De Paepe, Tom Van de Wiele, Andreas Spittler, Gregor Kasprian, Benedikt Warth, Angelika Berger, David Berry & Lukas Wisgrill: Aberrant gut-microbiota-immune-brain axis development in premature neonates with brain damage; in: Cell Host & Microbe, (veröffentlicht: 03.09.2021), Cell Host & Microbe
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.