Warum Darm-Infektionen langfristig vor Nervenschäden schützen
Eine Magen-Darminfektion kann großen Schaden an den Nervenzellen im Darm anrichten. Rund 100 Millionen Neuronen sind entlang des Magen-Darm-Trakts verteilt. Werden dieses Zellen zu stark in Mitleidenschaft gezogen, drohen chronische Erkrankungen wie Reizdarmsyndrom. Ein amerikanisches Forschungsteam entdeckte nun, dass Immunzellen die Nervenzellen im Darm schützen, indem sie sie abschirmen. Es ist jedoch zunächst eine Darminfektion notwendig, damit sie dieses Verhalten „erlernen“.
Forschende der Rockefeller University zeigten im Rahmen einer aktuellen Studie, dass Darminfektionen eine positive Nachwirkung haben können. Bestimmte Immunzellen erlernen in Folge, wie sie Nervenzellen im Darm vor dem Absterben schützen. Das Wissen gehe in das Immungedächtnis über und trage zum Schutz vor künftigen Infektion bei. Diese neu entdeckte Form der Immunantwort unterscheide sich jedoch grundlegend von den bislang bekannten Immunreaktionen des Körpers. Die Forschungsergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Cell“ vorgestellt.
Fresszellen schirmen Neuronen im Darm ab
Die Arbeitsgruppe dokumentierte, wie Fresszellen des Immunsystems, sogenannte Makrophagen, Neuronen im Darm abschirmten und so verhinderten, dass diese absterben. Die Fresszellen reagierten allerdings nur auf diese Art und Weise, wenn ein Krankheitserreger wie beispielsweise ein Bakterium oder ein Parasit zuvor Schäden an den Nervenzellen im Darm verursachte.
Eine neue Art der Immunantwort
„Wir beschreiben eine Art angeborenes Gedächtnis, das nach dem Abklingen der Primärinfektion fortbesteht“, erläutert Daniel Mucida von der Rockefeller University. Diese Toleranz unterscheide sich von lehrbuchmäßigen Immunantworten, da sie nicht darauf abzielt, die Erreger abzutöten, sondern darauf, vor den Schäden zu schützen, die die Erreger anrichten. Die Antwort ziele darauf ab, möglichst viele Neuronen im Darm zu erhalten.
Diese Erkenntnisse könnten nach Ansicht des Forschungsteams klinische Auswirkungen auf viele Darmerkrankungen haben und neue Therapieansätze eröffnen. Von Krankheiten wie beispielsweise dem Reizdarmsyndrom sei bekannt, dass sie mit einem unkontrollierten Absterben von Darmneuronen in Verbindung stehen.
Nervensystem im Darm ist wie ein „zweites Gehirn“
Das Nervensystem im Darm kann nach Angaben der Forschenden als eine Art „zweites Gehirn“ des Körpers betrachtet werden. Der Darm beherberge das größte Depot an Neuronen und Glia-Zellen außerhalb des Gehirns. Das Nervensystem des Magen-Darm-Trakts agiere weitgehend autonom, ohne nennenswerten Input vom Gehirn. Es steuere den Transport von Nähr- und Abfallstoffen nach eigenem Ermessen und koordiniere den lokalen Flüssigkeitsaustausch sowie die Durchblutung. Eine solche Eigenständigkeit finde man sonst nirgendwo im peripheren Nervensystem.
Darminfektionen lassen Nervenzellen im Darm absterben
Die aktuellen Studie baute auf den Ergebnissen einer vorherigen Studie des Teams um Mucida auf. Zuvor dokumentierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass es in Folge von Darminfektionen bei Mäusen zu einem Absterben von Neuronen im Darm kommt. Bei Mäusen mit Reizdarmsyndrom zeigte sich dieses Absterben in drastischer Form, sodass auch leichte Darminfektionen heftige Beschwerden auslösten.
Schon im Rahmen der ersten Studie kam die Frage auf, ob der Körper Mechanismen besitzt, um sich vor dem Verlust von Nervenzellen in Folge einer Infektion zu schützen. Erste Untersuchungen in diese Richtung zeigten bereits, dass Makrophagen im Darm spezielle Moleküle produzieren, die verhindern, dass Neuronen als Reaktion auf Stress absterben. „Wir wussten, dass Darminfektionen den Verlust von Nervenzellen verursachen, und wir wussten, dass Makrophagen den Tod von Nervenzellen verhindern“, beschreibt Mucida.
Mäuse entwickelten Abwehrmechanismus durch Darminfektion
Für die aktuelle Studie wurden Mäuse zunächst mit einem nicht tödlichen Stamm von Salmonellen infiziert. Die Tiere überstanden die Krankheit innerhalb einer Woche. Die Forschenden konnten dabei beobachten, dass im Zuge der Infektion auch Neuronen im Darm abstarben.
Einige Zeit nach der überstandenen Darminfektion wurden die Mäuse erneut mit einem vergleichbaren Darmerreger eines anderes Stamms infiziert. Während der zweiten Infektion konnten die Forschenden kein weiteres Absterben von Darmneuronen beobachten. Die Mäuse hatte durch die erste Infektion einen Abwehrmechanismus entwickelt.
Neue Funktion von Makrophagen entdeckt
Die Forschenden konnten zeigen, dass die Schutzfunktion auf Makrophagen beruht. Dabei handelt es sich um Fresszellen des Immunsystems, die zu den weißen Blutkörperchen gehören. Die Neuronen selbst oder T-Zellen des Immunsystems rekrutieren diese Makrophagen, die dann sicherstellen, dass die Neuronen die Infektion überleben, indem sie die Nervenzellen abschirmen. Gewöhnlich ist die Aufgabe der Makrophagen jedoch, Krankheitserreger in sich aufzunehmen und diese zu zersetzen – daher der Name Fresszelle.
Klinische Bedeutsamkeit für Reizdarm-ähnliche Erkrankungen
Mucida geht davon aus, dass diese Forschung zu einem umfassenderen Verständnis der Ursachen des Reizdarmsyndroms und verwandter Erkrankungen beitragen könnte. „Eine Vermutung ist, dass die Anzahl der Darmneuronen im Laufe des Lebens durch frühkindliche Infektionen festgelegt wird, die verhindern, dass man nach jeder weiteren Infektion Neuronen verliert“, vermutet Mucida.
Menschen, die aus irgendeinem Grund keine Toleranz entwickeln, verlieren möglicherweise ihr Leben lang mit jeder weiteren Infektion weitere Nervenzellen im Darm. In weiteren Studien will das Team nun nach Möglichkeiten suchen, wie Betroffene sich vor dem Verlust von Nervenzellen im Darm besser schützen können, wenn die natürlichen Abwehrmechanismen nicht greifen. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Rockefeller University: How foodborne diseases protect the gut's nervous system (veröffentlicht: 29.10.2021), rockefeller.edu
- Daniel Mucida, Tomasz Ahrends, Begüm Aydin, et al.: Enteric pathogens induce tissue tolerance and prevent neuronal loss from subsequent infections; in: Cell, 2021, cell.com
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.