Patienten in der ehemaligen DDR für Medikamenten-Versuche missbraucht
04.12.2012
Geheime Arzneimitteltests – ein Thema, das Gänsehaut verursacht und sich die Journalisten Stefan Hoge und Carsten Opitz zum Thema gemacht haben. In ihrer Reportage „Test und Tote“ zeigen die beiden auf, wie sich die ehemalige DDR Ende der 1980er Jahre zu einem zentralen Gebiet für Pharmaversuche entwickelt hat – dokumentiert in zahlreichen, bisher nicht veröffentlichten Akten, die im Keller des DDR-Gesundheitsministeriums gefunden wurden und eine enge und methodische Zusammenarbeit zwischen staatlichen Organen, Ärzten und Pharmaunternehmen aus dem damaligen Westen offenbaren. Dabei bieten die beiden Journalisten nicht nur Betroffenen eine Plattform, sondern beleuchten auch die „andere Seite“, indem ein Pharmahistoriker und ein Ex-Manager des Hoechst-Konzerns Hintergrundwissen zu den damaligen Gegebenheiten liefern.
Medikamentenschachtel bringt Skandal ins Rollen
Den Anfang hatte eine Nummer auf der Mediakamentenschachtel des Elektrikers Gerhard Lehrer gemacht: Der 60jährige Lehrer war im Mai 1989 mit einem Herzinfarkt in ein Krankenhaus in Dresden eingeliefert worden und bekam ein Medikament, welches seitens des damaligen Arztes noch in höchsten Tönen gelobt worden war. Drei Wochen später wurde Lehrer entlassen, aber eine Besserung setzte nicht ein – im Gegenteil: sein Befinden verschlechterte sich stetig. Trotz dessen sollte er nach Anweisung des Krankhauses auf einmal aufhören, die Pillen zu nehmen und die Reste der Klinik zurückgeben. Doch Lehrer behielt die restlichen Medikamente und bat seine Frau diese gut aufzubewahren, für den Fall, dass auch sie mal Bedarf haben könnte.
Ein knappes Jahr später verstarb Gerhard Lehrer, und als hätte er damals eine leise Vorahnung gehabt, kommt genau durch diese Packung mit den übrig gebliebenen Pillen nach und nach ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte zum Vorschein: Denn als Lehrers Frau Anneliese durch eine Reportage des MDR von gefährlichen Medikamenten-Versuchen in Krankenhäusern der ehemaligen DDR erfährt, kontaktiert sie kurzerhand den Sender und berichtet von dem Fall ihres Mannes. Und schließlich bringt die Analyse des pharmazeutischen Labors der Uni Leipzig Licht ins Dunkel: Die Pillen, die Gerhard Lehrer bekommen hatte, waren Placebos, Medikamente ohne jeglichen Wirkstoff – Lehrer hatte demnach augenscheinlich als Versuchsobjekt fungiert, hatte reine Scheinarzneimittel nehmen müssen, statt entsprechend seines Herzleidens medikamentös behandelt zu werden.
Durch eine Nummer auf der Schachtel des Placebos werden die Journalisten Hoge und Opitz schließlich auf die Hintergründe des Schicksals von Gerhard Lehrer aufmerksam, denn der Test, an dem Lehrer unwissend teilgenommen hatte, findet sich dokumentiert in Akten des DDR- Gesundheitsministeriums und zeigt: Hinter dem Medikamenten-Experiment stand das Pharmaunternehmen Hoechst, welches unter anderem an Lehrer den Wirkstoff „Ramipril“ getestet hatte – ein Arzneistoff der Gruppe der ACE-Hemmer, der zur Behandlung von Bluthochdruck und zur Vorbeugung gegen eingesetzt wird. Offenbar hatte der Konzern nach neuen Anwendungsgebieten für das erfolgreiche Präparat gesucht.
Fehlende Güter als treibende Kraft für dubiose Machenschaften
Als Treiber dieser Experimente identifizieren die Macher der Dokumentation vor allem zwei Entwicklungen: Zum einen herrschte in der ehemaligen DDR „Mangelwirtschaft“, was bedeutete, dass nicht nur ganz alltägliche Dinge wie Obst aus fernen Ländern einfach nicht vorhanden war, sondern auch der Pharma-Bereich nicht verschont blieb, es durchaus Apotheken gab, „[…] die 20 Prozent der Präparate nicht mehr liefern konnten, zu bestimmten Zeiten", wie der Pharmaziehistoriker Christoph Friedrich von der Uni Marburg feststellt und hinzufügt: "Und das setzte sich natürlich auch in den Kliniken fort."
Zum anderen bringt Anfang der 1960er Jahre der bis dahin größte Arzneimittelskandals einen zur geboren, deren Mütter das Beruhigungsmedikament Contergan eingenommen hatten – welches schließlich von der Firma Grünenthal 1961 vom Markt genommen wurde. Als Konsequenz dieses Skandals verschärfte die damalige West-Regierung die Zulassungsbedingungen für neue Medikamente. Hinzu kam eine neue Rechtsgrundlage für Arzneimittel, die allerdings erst 1978 in Kraft trat, aber wonach Patienten von nun an über persönliche Rechte und Risiken im Rahmen von Studien im Vorhinein informiert werden mussten.
D-Mark für Medikamentenexperimente
Das neue Gesetz stellte die Pharmakonzerne nun vor größere Hindernisse: Um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, mussten diese nun an mehr Probanden als zuvor getestet werden, mehr freiwillige Tester – Ärzte wie Patienten – mussten gefunden werden und so erwies sich unter anderem die ehemalige DDR für BRD-Konzerne als passender Standort für die notwendigen Pharma-Studien.
Ende der 1970er Jahre, so berichtet der Journalist Carsten Opitz aus ehemaligen Stasi-Akten, sei in der DDR die Kritik am Gesundheitssystem seitens der Ärzte nicht mehr zu überhören gewesen. Um hier schnell Abhilfe zu schaffen, habe sich der Gesundheitsminister der ehemaligen DDR, Ludwig Mecklinger, damals umgehend an Erich Honecker gewandt, der wiederum sofort reagierte, indem er von heute auf morgen finanzielle Staatsreserven frei gab.
1983 wurden schließlich laut dem Historiker Prof. Christoph Friedrich von der Universität Marburg in einer Sitzung mit verantwortlichen Zentralkomitee-Mitgliedern „die Weichen für einen folgenschweren Deal gestellt“: An bestimmten, eigens dafür ausgewählten Kliniken sollten Ärzte Auftrag für West- Pharmaunternehmen Studien mit noch nicht zugelassenen Medikamenten durchführen. Die hierfür fließende D-Mark sollte im Gegenzug für Investitionen in den eigenen Kliniken dienen.
Wie diese Deals konkret abliefen, das zeigen die Journalisten Hoge und Opitz zeigen in ihrer Reportage, es wird klar, wie in akribischen Verhandlungen um Gelder für jede erfolgreiche Studie verhandelt wurde und wie reibungslos dieser Handel offenbar lief.
Am Beispiel des heutigen Invalidenrentners Hubert Bruchmüller zeigen die Filmemacher das Ausmaß des Skandals: "Wir waren keine dummen DDR-Bürger […], wenn das da so festgelegt ist, hat man das einfach so gemacht." Auch er wurde – damals 30jährig – wegen Herzproblemen in eine Spezialklinik in Magdeburg eingeliefert und auch er wurde als „Versuchskaninchen“ missbraucht – dieses Mal war es das Medikament „Spirapril“ von Sandoz. Wie die beiden Journalisten anhand der Akten aufzeigen können, starben während dieses Experiments bis Dezember 1989 sechs der 17 getesteten Patienten – bis die Ärzte endlich gestoppt wurden.
Ende der Versuche erst mit dem Mauerfall
Erst mit dem Fall der Mauer endete die Ära der Pharma-Experimente in der ehemaligen DDR. Wie viel der Staat tatsächlich an jeder Studie verdient hat, wird wohl nie final geklärt werden können, denn die Akten aus dem ehemaligen Gesundheitsministerium sind nur noch nur teilweise vorhanden.
Auch die Journalisten kamen hier bei ihren Recherchen immer wieder an ihre Grenzen – die schriftlichen Einwilligungserklärungen der Patienten blieben trotz mehrmaliger Anfragen in Kliniken und den erwähnten Pharma-Konzernen verschollen. Laut Opitz sei jedoch der französische Pharma-Konzern recht kooperativ gewesen und habe einige Prüfakten von Gerhard Lehrer aus dem übernommenen Hoechst-Archiv geschickt.
Doch Verantwortliche hätten sich nicht finden können – weder seitens der Pharma-Verbände noch seitens der zuständigen Ministerien, angeblich habe niemand von den Patienten-Experimenten gewusst. Nur einen ehemaligen DDR-Mediziner konnten die Journalisten ausfindig machen, der sich bereit erklärte, etwas über seine Auftragsstudien zu berichten, was nach Opitz darin liegen könnte, dass „die meisten DDR-Mediziner ihr Gesundheitswesen gern als von politischen und wirtschaftlichen Zwängen freien Raum in Erinnerung behalten würden.“ (sb)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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