Kenntnisse über das Sättigungsgefühl erweitert
Diabetes ist eine Volkskrankheit. Rund acht Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Eine neue Studie hat nun die Rolle des Gehirns bei der sogenannten Zuckerkrankheit untersucht.
Laut dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ist in Deutschland bei circa 7,2 Prozent der Erwachsenen im Alter von 18 bis 79 Jahren ein Diabetes mellitus bekannt. Etwa 90 bis 95 Prozent davon sind an Typ-2-Diabetes erkrankt. Eine Studie unter Beteiligung der Universität zu Lübeck bringt nun neue Erkenntnisse zur sogenannten Zuckerkrankheit.
Rolle von Leptin untersucht
Um die Krankheit Diabetes besser zu verstehen, hat ein internationales Forschungsteam unter Federführung des Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm), der Universität Lille (Frankreich) und des Universitätsklinikums Lille im Labor für Neurowissenschaften und Kognition in Lille mehrere Jahre lang die Rolle von Leptin untersucht. Dieses Hormon ist an der Appetitkontrolle beteiligt und sendet Sättigungssignale an das Gehirn.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in der Studie, die in der Fachzeitschrift „Nature Metabolism“ veröffentlicht wurde, nicht nur die Kenntnisse über den Mechanismus des Sättigungsgefühls erweitert, sondern auch ein neues Mausmodell für Diabetes entwickelt, das für die künftige Forschung in diesem Bereich nützlich und relevant sein wird.
Komplikationen durch erhöhten Blutzuckerspiegel
Wie in einer aktuellen Mitteilung der Universität zu Lübeck erklärt wird, ist Diabetes eine Krankheit, bei der ein erhöhter Blutzuckerspiegel langfristig zu gesundheitlichen Komplikationen führen kann.
Es gibt zwei Typen von Diabetes: Typ 1 sowie Typ 2. Typ-2-Diabetes (T2D) ist für rund 90 Prozent der Diabetes-Fälle verantwortlich und die Betroffenen sind in der Regel adipös oder übergewichtig und haben Risikofaktoren wie Bewegungsmangel und unausgewogene Ernährung.
Dabei wird das Sättigungshormon Leptin vom Fettgewebe in einer Menge ausgeschüttet, die proportional zu den Fettreserven des Körpers ist. Das Hormon reguliert den Appetit, indem es das Sättigungsgefühl steuert und wird von Tanyzyten – Zellen, in die es durch Bindung an die LepR-Rezeptoren eindringt – in das Gehirn transportiert.
Tanyzyten sind also das Tor zum Hirn, das Leptin hilft, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und die Sättigungsinformation an die Nervenzellen zu übermitteln.
Zunahme der Fett- und Verlust an Muskelmasse
Frühere Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass dieser Transport bei fettleibigen oder übergewichtigen Personen gestört ist. Das erklärt teilweise ihre gestörte Appetitregulierung, weil es für die Sättigungsinformationen schwieriger ist, das Gehirn zu erreichen.
In ihrer neuen Studie haben die Forschenden diesen Transportmechanismus genauer unter die Lupe genommen, insbesondere die Rolle der LepR-Rezeptoren.
In Mausmodellen entfernten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den LepR-Rezeptor, der sich auf der Oberfläche der Tanyzyten befindet. Nach drei Monaten verzeichneten die Mäuse eine deutliche Zunahme ihrer Fettmasse (die sich in diesem Zeitraum verdoppelte) und einen Verlust an Muskelmasse (die sich um mehr als die Hälfte reduzierte).
Die Gewichtszunahme war insgesamt nur mäßig. Die Forschenden maßen auch regelmäßig den Blutzuckerspiegel der Tiere nach der Injektion von Glukose.
Die Fachleute stellten fest, dass die Mäuse in den ersten vier Wochen des Experiments mehr Insulin ausschütteten, um den Blutzuckerspiegel auf einem normalen Niveau (zwischen 0,70 und 1,10 g/l) zu halten.
Drei Monate nach der Entfernung des Rezeptors schien die Fähigkeit der Tiere, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse abzusondern, erschöpft zu sein.
Prä-diabetischen Zustand entwickelt
Das Entfernen der LepR-Rezeptoren sowie die Beeinträchtigung des Leptintransports in das Gehirn führten also dazu, dass die Mäuse zunächst einen prä-diabetischen Zustand entwickelten. Das ist der Fall, wenn der Körper mehr Insulin als üblich ausschüttet, um den Blutzucker zu kontrollieren.
Längerfristig waren die Tiere dann nicht mehr in der Lage, Insulin auszuschütten und somit ihren Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Wie es in der Mitteilung heißt, legen diese Daten also nahe, dass ein gestörter Leptintransport in das Gehirn über die LepR-Rezeptoren eine Rolle bei der Entstehung von Typ-2-Diabetes spielt.
Bei einem gesunden Tier oder Menschen steigt der Blutzuckerspiegel nach der Aufnahme von Glukose leicht an und sinkt dann schnell wieder ab. Um den Blutzuckerspiegel wieder in den normalen Bereich zu bringen, schüttet die Bauchspeicheldrüse Insulin aus, welches der Glukose hilft, in die Körperzellen einzudringen.
Bei Tieren, denen der LepR-Rezeptor fehlt, über den Leptin in das Gehirn gelangt, ist der Blutzuckerspiegel im nüchternen Zustand und erst recht nach der Aufnahme von Glukose jedoch abnorm hoch.
Die Bauchspeicheldrüse ist dann nicht mehr in der Lage, das Insulin auszuschütten, das der Körper für die Aufnahme der Glukose benötigt. Laut den Fachleuten macht die „Taubheit“ des Gehirns gegenüber den von Leptin übermittelten Informationen die Bauchspeicheldrüse somit unwirksam.
Sofortige Wirkung auf Bauchspeicheldrüsenfunktion
Im letzten Teil ihrer Forschung brachten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Leptin wieder in das Gehirn ein und beobachteten eine sofortige Wirkung auf die Bauchspeicheldrüsenfunktion – vor allem ihre Fähigkeit, Insulin zur Regulierung des Blutzuckers auszuschütten. Die Mäuse erlangten rasch wieder einen gesunden Stoffwechsel.
Die neue Studie klärt also die Rolle des Gehirns bei Typ-2-Diabetes auf und trägt dazu bei, die Erforschung einer Krankheit voranzutreiben, von der man früher annahm, dass sie das zentrale Nervensystem nicht betrifft.
„Wir zeigen, dass die Reaktion des Gehirns auf Leptin für die Steuerung der Energiehomöostase und des Blutzuckerspiegels wesentlich ist. Wir zeigen auch, dass die Blockierung des Leptintransports zum Gehirn die Funktion der Neuronen, die die Insulinsekretion der Bauchspeicheldrüse steuern, beeinträchtigt“, sagt Vincent Prévot, Forschungsdirektor am Inserm und letzter Autor der Studie.
„Faszinierend an den Studienergebnissen ist für mich, dass eine kleine Zellgruppe im Gehirn, die Tanyzyten, den Stoffwechsel des gesamten Organismus steuert“, so Prof. Markus Schwaninger, Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität zu Lübeck.
Ostasiatischer Diabetes noch wenig untersucht
Ein weiteres interessantes Ergebnis dieser Studie: Durch das Entfernen des LepR-Rezeptors, über den Leptin ins Gehirn gelangt, weist das erhaltene Tiermodell die Merkmale des sogenannten ostasiatischen Diabetes auf, der von den Forschenden noch wenig untersucht wird. Dieser Diabetes-Phänotyp betrifft vor allem die Bevölkerungen Koreas sowie Japans.
Während der sogenannte westliche Diabetes vor allem bei Menschen auftritt, die stark übergewichtig (BMI über 25) oder krankhaft adipös (BMI über 30) sind, wird dieser andere Typ-2-Diabetes-Phänotyp häufig mit Menschen assoziiert, die leicht übergewichtig sind, einen erhöhten Bauchfettanteil und eine Insulininsuffizienz aufweisen, die auf eine mangelhafte Insulinsekretion der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen ist.
Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge wird die Entwicklung dieses neuen Tiermodells die weitere Erforschung dieser Krankheit, von der Millionen von Menschen betroffen sind, ermöglichen. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universität zu Lübeck: Diabetes: Studie zum Sättigungsmechanismus bringt neue Erkenntnisse, (Abruf: 14.08.2021), Universität zu Lübeck
- Manon Duquenne, Cintia Folgueira, […]Vincent Prévot: Leptin brain entry via a tanycytic LepR–EGFR shuttle controls lipid metabolism and pancreas function; in: Nature Metabolism, (veröffentlicht: 02.08.2021), Nature Metabolism
- Bundesministerium für Gesundheit: Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2, (Abruf: 14.08.2021), Bundesministerium für Gesundheit
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.