Neues Verständnis des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis
Die Ergebnisse einer aktuellen Studie japanischer Forscher könnten das bisherigen Verständnis von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis revolutionieren. Bisher galt die Annahme, dass Erfahrungen zunächst im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und anschließend in das Langzeitgedächtnis übertragen werden. In ihrer aktuelle Studie kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Abspeicherung gleichzeitig im Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis erfolgt.
Die Fähigkeit, sich an Erfahrungen zu erinnern, lange nachdem sie passiert sind, hat maßgeblichen Einfluss auf unsere Verhalten und unsere Persönlichkeiten. Wie die Informationsübertragung in das Langzeitgedächtnis funktioniert, haben Wissenschaftler des RIKEN-MIT-Center for Neural Circuit Genetics (CNCG) untersucht und mit ihren aktuellen Studienergebnissen das bisherige Verständnis der Abspeicherung von Informationen revolutioniert. Die Ergebnisse der Studie wurden in dem Fachmagazin „Sience Translational Medicine“ veröffentlicht.
Engramm-Zellen speichern die Erinnerungen
Die kurzfristige Speicherung von Erfahrungen wird in der Hirnregion des Hippocampus angelegt. Hier hat das Forscherteam um Susumu Tonegawa, Direktor des RIKEN-MIT CNCG, an Mäusen untersucht, wie die Gedächtnisbildung funktioniert. Sie markierten die Neuronen, die die Erinnerung an ein Ereignis darstellen, wenn es im Hippocampus abgespeichert wird. Diese Arten von Neuronen heißen Engramm-Zellen und ihre Aktivierung – entweder natürlich oder durch optogenetische Stimulation mit farbigem Licht – ist die Basis für das Abrufen der Erinnerung, erläutern die Forscher.
Engramm-Zellen im Langzeitgedächtnis
Die episodische Erinnerungen, die in den Engramm-Zellen des Hippocampus gespeichert sind, gelten bekanntlich als kurzlebig. Bis dato ging die Wissenschaft davon aus, dass sich permanente Erinnerungen allmählich im Laufe der Zeit wie neue Engramm-Zellen und neuronale Verbindungen in der Hirnrinde bilden, erklären die japanischen Forscher. Die aktuelle Versuchsreihe habe jedoch gezeigt, dass diese Annahme nur teilweise richtig ist. „Wir entdeckten die Existenz von kortikalen Engramm-Zellen, aber es stellte sich heraus, dass sie nicht allmählich im Laufe der Zeit gebildet werden, sondern sich zur gleichen Zeit bilden wie die erste Erinnerung im Hippocampus“, berichtet Studienautor Takashi Kitamura.
Kortikales Gedächtnis am ersten Tag mit angelegt
Um festzustellen, welche Bereiche im Kortex (Hirnrinde) für die Bildung des Langzeitgedächtnisses wichtig waren, blockierten die Forscher die Eingabe von Signalen in verschiedene Hirnareale während der Konditionierung (Bildung der Erinnerung) oder während des Gedächtnisabrufs über einen Zeitraum von drei Wochen. Ein langfristiger Abruf war nur dann unmöglich, wenn die Informationsübertragung direkt während der Konditionierung blockiert wurde, berichten die Wissenschaftler. „Das war überraschend, weil es darauf hinwies, dass das kortikale Gedächtnis wahrscheinlich am ersten Tag erschaffen wurde und nicht allmählich, wie bislang angenommen“, so Studienleiter Tonegawa.
Aktivierbare Engramm-Zellen Zeichen für vorhandene Erinnerung
In einem nächsten Schritt identifizierten die Wissenschaftler die Engramm-Zellen im präfrontalen Kortex und erregten diese mittels lichtempfindlicher Ionenkanäle mit blauem Licht. „Wie bei den bisherigen Studien im Hippocampus veranlasste dies die Mäuse, ein Verhalten zu zeigen, das auf ihre erinnerte Erfahrung hindeutete – ein Markenzeichen von Engramm-Zellen“, berichten die Wissenschaftler. Definitionsgemäß sollten die Tiere in der Lage sein, sich an ein Ereignis zu erinnern, wenn Engramm-Zellen auf das Signal reagieren und sollten nicht dazu in der Lage sein, wenn die Zellen schweigen, erläutern die Experten weiter. Die kortikalen Engramm-Zellen ließen sich in dieser Weise aktivieren, aber nur, wenn seit der Konditionierung mehr als eine Woche vergangen war. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Engramm-Zellen im Hippocampus bereits ihre Erinnerungen verloren hatten, so die Forscher weiter.
Reifungsprozess von mehreren Tagen
Dass die Engramm-Zellen zwar schon am ersten Tag gebildet wurden, allerdings erst viel später aktiviert werden konnten, deutet laut Aussage der Wissenschaftler darauf hin, „dass es Zeit für sie brauchte, um zu reifen und von stillen Engramm-Zellen zu aktiven zu wechseln.“ Weitere Tests hätten gezeigt, dass dieser Reifungsprozess über mehrere Tage von den Engramm-Zellen beeinflusst werde. Das Team konnte auch eine Verbindung zwischen Engramm-Zellen für positive und negative emotionale Erinnerungen im Hippocampus und dem frontalen Kortex mit einem anderen Teil des Gehirns, der Amygdala, mit nachweisen. Die Speicherung von Erinnerungen in unserem Gehirn scheint demnach gänzlich anders zu verlaufen, als bislang angenommen. (fp)
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