Zusammenhang zwischen moderner Ernährung und Zivilisationskrankheiten
Futtern wir uns krank? Ein Kieler Forschungsteam stellt mit einer neuen Hypothese die gesamte moderne Ernährung in Frage. Die Forschenden machen das ständige Überangebot an Nahrungsmitteln verantwortlich für viele chronische Darmentzündungen, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges schlagartig angestiegen sind. Nach ihrer Hypothese entfernen sich Darmbakterien durch Überfütterung von ihren ursprünglichen Aufgaben und fördern so die Entstehung von Krankheiten.
Alle Tiere und Pflanzen sind von Mikroorganismen besiedelt, die zahlreiche Aufgaben im Körper erfüllen. Das Zusammenspiel der Mikroben wird durch aktuelle Forschungsarbeiten immer deutlicher. Längst ist klar, dass das Mikrobiom eine entscheidende Rolle bei der Gesundheit des Menschen spielt. Der Sonderforschungsbereich 1182 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erforscht das Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen. In einer aktuellen Studie, die im Fachjournal „mBio“ präsentiert wurde, stellen die Forschenden einen Zusammenhang zwischen der modernen Ernährung und der Entstehung verschiedener chronisch entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa her.
Überfütterung im Darm
Entzündungskrankheiten werden durch ein Nahrungsüberangebot und die damit verbundene Störung der natürlichen Bakterienbesiedlung des Darms verursacht. So lautet die Hypothese des Kieler Forschungsteams. Der Mensch habe seine Ernährung innerhalb der letzten Jahrzehnte hin zu einer unausgewogenen, energiereichen und ballaststoffarmen Weise verändert, die eine dauerhaft hohe und zugleich einfach zu verwertende Zufuhr an Nährstoffen bietet. Laut dem Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 führt dies dazu, dass sich einige Darmbakterien nicht mehr von den Zwischenprodukten des Stoffwechsels (Metaboliten) ernähren, sondern sich direkt am Überangebot der Nährstoffe bedienen. Dadurch entkoppeln sich die Darmbakterien vom Wirt. Es finden keine Wechselwirkungen mehr statt und die ursprüngliche Aufgabe der Organismen entfällt.
Welche Folgen hat eine solche Entkoppelung?
„Diese Überfütterung der Bakterien fördert ihr Wachstum insgesamt, dazu vermehren sich bestimmte Bakterienarten zu Ungunsten anderer Mitglieder des Mikrobioms verstärkt und unkontrolliert“, fasst Professor Thomas Bosch vom SFB 1182 in einer Pressemitteilung zusammen. Hierdurch ändere sich die Zusammensetzung der Bakterienbesiedlung sowie die Interaktionen zwischen Bakterien und Wirtsorganismus. Dies könne zu schwerwiegenden Störungen in der Darmflora führen und eine sogenannte Dysbiose hervorrufen, also ein schädliches Ungleichgewicht im Darm-Mikrobiom.
Beeinflussung des Mikrobioms lässt Menschen krank werden
Andere Forschungsansätze zeigten bereits ähnlich fatale Auswirkungen, wenn das menschliche Mikrobiom negativ beeinflusst wird. So belegten frühere Studien, dass übertriebene Hygiene und eine intensive Antibiotikanutzung das Mikrobiom dauerhaft stören und den Menschen so anfälliger für Krankheiten machen. Die jüngsten Erkenntnisse zeigen immer deutlicher, dass die Mikroorganismen eine entscheidende Rolle für die Gesundheit von Mensch und Tier spielen. Für weitere Informationen lesen Sie den Artikel: Nicht bloß Antibiotika – auch jede vierte Arznei zerstört unsere Darmflora.
Der Ursprung liegt im Meer
Ausgangspunk der Hypothese sind aktuelle Forschungsarbeiten an Korallen. Die Kieler Forschungsgruppe zeigte, wie Bakterien sich von Korallen entkoppeln, wenn die Nährstoffverhältnisse im Meereswasser ansteigen. Das Korallen-Mikrobiom gerät durch die Abwanderung aus der Balance. Die Folge: Die Korallen werden krank. „In diesem Zusammenhang zwischen der Nährstoffverfügbarkeit und der Balance der Wirts-Bakterien-Beziehungen sehen wir ein universelles Prinzip, das weit über das sehr spezielle Beispiel der Korallen hinausgeht“, betont Erstautor der Studie Dr. Tim Lachnit. In weiteren Modellversuchen konnte das Team diesen Zusammenhang auch bei Süßwasserpolypen bestätigen. Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis: „Die im Experiment gewonnenen Erkenntnisse lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf die menschliche Gesundheit übertragen.“
Kann eine gestörte Darmflora geheilt werden?
Bislang versucht die Medizin ein gestörtes Mikrobiom beispielsweise durch Gabe von Probiotika oder auch durch Stuhltransplantationen zu behandeln. Die neue Hypothese eröffnet nun weitere Ansätze für Forschungsarbeiten und Therapien. Es gilt jetzt herauszufinden, ob sich das Mikrobiom durch eine bestimmte Ernährungsform selbst neu justieren und eine gesunde Zusammensetzung wiederherstellen kann.
Forschende sehen Potenzial im Heilfasten
Das Kieler Forschungsteam möchte in weiteren Studien nun das therapeutisches Potenzial dieser Hypothese untersuchen. Da die Bakterien ja regelrecht überfüttert sind, sehen die Forschenden therapeutisches Potenzial im Heilfasten. „Künftig werden wir uns zum Beispiel neben den bekannten gesundheitsfördernden Effekten des Fastens auch mit seinen Auswirkungen auf Zusammensetzung und Funktion des Mikrobioms und damit den Verlauf von Entzündungskrankheiten beschäftigen“, so Lachnit. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.