Beschleunigen Virus-Infektionen die Gehirn-Degeneration?
Virale Infektionen scheinen laut einer aktuellen Studie die Rückbildung des Gehirn voranzutreiben, ein Prozess, der in der Medizin als Neurodeneration bezeichnet wird. Die Studienergebnisse liefern Hinweise darauf, dass akute oder chronische Viruserkrankungen an der Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson beteiligt sind.
Aktuelle Studienergebnisse von Forschenden des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) legen nahe, dass manche Viruserkrankungen zur Neurodegeneration beitragen. Das Team zeigte in Laborexperimenten, dass virale Moleküle zur Verbreitung von kleinen Proteinteilchen, sogenannten Proteinaggregaten, im Raum zwischen den Zellen beitragen. Diese Aggregate sind typische Anzeichen für neurodegenerative Erkrankungen. Die Forschungsergebnisse wurden kürzlich im renommierten Fachjournal „Nature Communications“ vorgestellt.
Wenn Proteine zu Krankheitserregern werden
Auch sogenannte Prion-Erkrankungen wie die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit entstehen durch Aggregate aus fehlgefalteten Proteinen, erläutert die Arbeitsgruppe. Die kleinen Teilchen aus den fehlerhaften Proteinen haben die Fähigkeit, von einer Zelle zur anderen zu gelangen und dort ihre anomale Gestalt auf Proteine der gleichen Art zu übertragen. Auf diese Weise breitet sich die Erkrankung im Gehirn aus.
Für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson wird ein ähnlicher Effekt vermutet, da es bei diesen Krankheiten ebenfalls zu Anreicherung von anormalen Proteinen kommt. „Die genauen Mechanismen der Verbreitung sind unbekannt“, betont Professorin und Forschungsgruppenleiterin Ina Vorberg. Es sei aber eine naheliegende Vermutung, dass der Transfer von Aggregaten über ähnliche Mechanismen abläuft, wie bei den Prion-Erkrankungen.
Wie breiten sich Protein-Aggregate aus?
Die Forschenden vermuten, dass der Austausch der Aggregate entweder bei direktem Zellkontakt erfolgt oder durch die Freisetzung von Aggregaten in die Zellzwischenräume oder durch Weitergabe sogenannter Vesikel. Vesikel sind winzige Bläschen, die von einer Lipidhülle umgeben sind und für die Kommunikation zwischen Zellen freigesetzt werden.
Die naheliegendste Vermutung ist laut dem Team, dass „der Transfer von Aggregaten sowohl bei direktem Zellkontakt als auch über Vesikel“ erfolgt. Grund für die Vermutung seien sogenannte Ligand-Rezeptor-Wechselwirkungen. Als Ligand wird ein Moleküle bezeichnet, dass einen Rezeptor durch Bindung aktiviert oder inaktiviert.
„In beiden Szenarien müssen Membranen in Kontakt treten und miteinander verschmelzen. Das geht leichter, wenn Liganden vorhanden sind, die an Rezeptoren auf der Zelloberfläche binden und dann eine Fusion der beiden Membranen hervorrufen“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Was hat dieser Prozess mit Viren zu tun?
Die Arbeitsgruppe führte umfangreiche Versuchsreihen mit verschiedenen Zellkulturen durch, um die Verbreitung von Aggregaten besser zu verstehen. Dafür untersuchten die Forschenden interzelluläre Übertragungen von Prionen oder von Aggregaten aus Tau-Proteinen, die typisch für Alzheimer-Erkrankung sind. Es stellte sich heraus, dass bestimmte Virus-Proteine, darunter auch das Spike-Protein S des Coronavirus SARS-CoV-2, die Ausbreitung von Proteinaggregaten vorantreiben.
„Wir konnten zeigen, dass die viralen Proteine sowohl in die Zellmembran als auch in extrazelluläre Vesikel eingebaut werden. Ihre Anwesenheit steigerte deutlich die Ausbreitung von Proteinaggregaten zwischen Zellen, sowohl durch direkten Zellkontakt als auch durch extrazelluläre Vesikel“, fasst Vorberg die Erkenntnisse zusammen.
Viren fungieren als Schleuser für gefährliche Fracht
Die viralen Proteine sorgten dabei für einen „effizienten Transfer“ beziehungsweise für eine effiziente „Zustellung der Aggregate an die Empfängerzellen“, so die Studienleiterin. In Folge wurden die schädlichen Aggregate an die neue Zelle weitergegeben. Die viralen Liganden wirkten dabei „wie Schlüssel, die die Empfängerzellen aufschließen und so die gefährliche Fracht einschleusen“.
Einschränkung der Studie
„Sicherlich bilden unsere zellulären Modelle nicht die vielen Aspekte des Gehirns mit seinen sehr spezialisierten Zelltypen ab“, gibt die Professorin zu bedenken. Dennoch belegen die Studie, dass virale Liganden unabhängig vom Zelltyp zu einer verstärkten Ausbreitung missgestalteter Proteine zwischen den Zellen beitragen können. „Alles in allem deuten unsere Daten darauf hin, dass virale Ligand-Rezeptor-Wechselwirkungen die Übertragung pathologischer Proteine prinzipiell beeinflussen können“, resümiert Vorberg.
Erhöhen Viren das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen?
„Bei neurodegenerativen Erkrankungen findet man manchmal bestimmte Viren im Gehirn der Patienten“, schildert die Expertin. Bislang wurde vermutet, dass diese Viren Entzündungsreaktionen hervorrufen oder toxisch sind und so neurodegenerative Veränderungen beschleunigen.
Die aktuelle Studie eröffnet eine weitere mögliche Sicht auf die Prozesse: „Virale Proteine könnten die interzelluläre Ausbreitung von Proteinaggregaten verstärken, die bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer bereits im Gange ist“, vermutet Vorberg. Die Forschenden wollen nun die Prozesse genauer mit Viren untersuchen, die das Nervensystem befallen. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- DZNE: Virale Infektionen könnten Neurodegeneration vorantreiben (veröffentlicht: 19.10.2021), dzne.de
- Shu Liu, André Hossinger, Stefanie-Elisabeth Heumüller, Annika Hornberger, et al.: Highly efficient intercellular spreading of protein misfolding mediated by viral ligand-receptor interactions; in Nature Communications, 2021, nature.com
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.