Blauer Kern im Gehirn lenkt unsere Aufmerksamkeit
Unser Gehirn ist in der Lage, in wenigen Augenblicken von einem unachtsamen Treibenlassen in einen Zustand völliger Fokussierung zu wechseln. Wie genau das Denkorgan diesen Wechsel vollzieht und wie unser Hirn die Aufmerksamkeit lenkt, wurde nun von einem deutsch-amerikanischen Forschungsteam untersucht.
Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der University of Southern California haben im Rahmen einer Studie die Gehirnregion Locus coeruleus analysiert. Diese winzige Zellstruktur im Hirnstamm wird auch als blauer Kern bezeichnet. Die Region ist Hauptquelle des Botenstoffes Noradrenalin, der uns dabei hilft, einen Aufmerksamkeitsfokus zu erzeugen. Die Arbeitsgruppe legt nahe, dass der blaue Kern die Sensitivität unseres Gehirns in Situationen reguliert, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Die Hypothesen der Arbeitsgruppe wurden kürzlich in dem Fachjournal „Cognitive Sciences“ publiziert.
Was lenkt unsere Aufmerksamkeit?
Warum übersehen wir manchmal wichtige Dinge oder warum sind wir manchmal so konzentriert, dass wir kaum ansprechbar sind. Dass unsere Aufmerksamkeit schwankt, kennt wohl jede Person von sich selbst und von Menschen im Umfeld. Doch was genau macht diesen Unterschied aus? Mit dieser Frage beschäftigte sich die Forschungsgruppe in der aktuellen Untersuchung.
Im Alltag wechseln wir ständig zwischen Unachtsamkeit und Fokussierung. Auf den Weg nach Hause denken wir beispielsweise darüber nach, was wir gleich essen werden oder ähnliches. Wenn aber plötzlich etwas unsere Aufmerksamkeit erregt, wie zum Beispiel das Hupen eines Autos, sind wir schlagartig wieder in der Gegenwart und können entsprechend der Situation reagieren. Was passiert im Gehirn, wenn dieser Wechsel vollzogen wird?
Zustand der Unachtsamkeit hemmt die Sinne
Laut dem Forschungsteam finden in unserem Gehirn in Phasen der Unachtsamkeit neuronale Aktivitäten in rhythmischen Fluktuationen statt. Eine Hypothese ist, dass in solchen Momenten langsame rhythmische Aktivitätsmuster mit einer Frequenz von rund 10 Hertz ablaufen. Solche Aktivitätsmuster werden als Alpha-Oszillationen bezeichnet.
Eingebauter Filter für externe Informationen
Es wird vermutet, dass die aktive Verarbeitung von eingehenden Sinnesinformationen während Alpha-Oszillationen gehemmt ist. Die Alpha-Oszillationen können somit als Filter verstanden werden, der die Empfindlichkeit des Gehirns für externe Informationen reguliert.
„Während der Zusammenhang zwischen der Zu- und Abnahme von Alpha-Oszillationen und Aufmerksamkeit schon länger beobachtet wurde, blieb bislang offen, was diese rhythmischen Aktivitätsmuster kommen und gehen lässt“, erläutert Markus Werkle-Bergner vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Kleiner Kern mit großem Netzwerk
Um dies besser zu verstehen, untersuchten die Forschenden den blauen Kern des Gehirns, der tief unter der Hirnrinde verborgen ist. Diese Ansammlung von Nervenzellen ist nur rund 15 Millimeter groß. Trotz der geringen Größe beinhaltet der blaue Kern ein umfassendes Netzwerk von weitreichenden Nervenfasern, die mit den meisten anderen Gehirnregionen verbunden sind.
Hauptquelle des Botenstoffs Noradrenalin
Gleichzeitig ist der blaue Kern die Hauptquelle von Noradrenalin. Dieser Botenstoff trägt maßgeblich zu der Kontrolle von Stress, Gedächtnisleistung und Aufmerksamkeit bei, indem er die neuronale Kommunikation reguliert.
„Wegen seiner geringen Größe und seiner Lage tief im Hirnstamm war es bisher fast unmöglich, den noradrenergenen, blauen Kern bei lebenden Menschen ohne operativen Eingriff zu untersuchen“, erklärt Professorin Mara Mather von der University of Southern California.
Die Augen als Fenster in den blauen Kern
Tierstudien zu dem Thema haben bereits gezeigt, dass Veränderungen der Pupillengröße mit der Aktivität des blauen Kerns zusammenhängen. „Insofern können unsere Augen als Fenster zu einer Hirnregion betrachtet werden, die lange unerreichbar schien,” betont die Professorin.
Um zu untersuchen, ob das Noradrenalin des blauen Kerns einer der Faktoren sein könnte, der Alpha-Oszillationen reguliert, kombinierten die Forschenden Messungen der Pupillengröße und neuronaler Rhythmen. Während der Messungen mussten Teilnehmende eine schwierige Aufmerksamkeitsaufgabe lösen.
Aufmerksamkeit bei geweiteten Pupillen erhöht
Wie erwartet, wurde eine Abnahme von Alpha-Oszillationen immer dann beobachtet, wenn die Pupillen geweitet waren. Darüber hinaus konnten diejenigen Teilnehmenden mit stärkeren Pupillen- und Alpha-Reaktionen die Aufgabe besser lösen. Die Ergebnisse des Tests wurden bereits im Jahr 2020 in dem „Journal of Neuroscience“ veröffentlicht.
Auf Unachtsamkeit getaktet
Unklar blieb jedoch, wie genau Noradrenalin die Alpha-Oszillationen beeinflusst oder anders gesagt, wie der Botenstoff die Filterfunktionen im Gehirn ein- und ausschaltet. Um diese Frage zu beantworten, analysierten die Forschenden erneut die Ergebnisse aus Tierstudien zu dem Thema. In einigen Studien wurde die neuronale Aktivität der Tiere direkt von Neuronen im Thalamus abgeleitet. Der Thalamus ist eine Region in der Mitte des Gehirns und gilt als wesentlicher Taktgeber des Alpha-Rhythmus.
Noradrenalin unterbricht rhythmische Feuermuster
Wie die Forschungsergebnisse zeigen, feuern die Neuronen im Thalamus im Ruhezustand rhythmisch. Diese rhythmischen Feuermuster scheinen die Alpha-Oszillationen zu verursachen, die für die Phasen geringer Aufmerksamkeit charakteristisch sind. Wenn jedoch der Botenstoff Noradrenalin zugeführt wird, endet das rhythmische Feuern der Neuronen schlagartig.
„Durch Zusammenführung der Ergebnisse verschiedener Studien konnten wir nun beschreiben, wie Noradrenalin und der Thalamus bei der Kontrolle von Alpha-Oszillationen zusammenarbeiten könnten“, resümiert Studienerstautor Martin Dahl. Die Forschenden kommen zu der Hypothese, dass das Noradrenalin des blauen Kerns die Alpha-Generatoren im Thalamus blockiert und dadurch die Empfindlichkeit unseres Gehirns für relevante Informationen reguliert. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Dahl, M. J., Mather, M., & Werkle-Bergner, M. et al: Noradrenergic modulation of rhythmic neural activity shapes selective attention; in: Trends in Cognitive Sciences, 2022., cell.com
- Dahl, M. J., Mather, M., Sander, M. C., & Werkle-Bergner, M., et al.: Noradrenergic responsiveness supports selective attention across the adult lifespan. Journal of Neuroscience, 2020, jneurosci.org
- Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Wie ein blauer Kern im Gehirn unsere Aufmerksamkeit lenkt (veröffentlicht: 07.01.2022), mpib-berlin.mpg.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.