Unabhängige Forschergruppe erhebt Zweifel am Grippe-Arzneimittel Tamiflu
21.01.2012
Als die Schweinegrippe im Jahre 2009 ausbrach, wurden in zahlreichen Ländern massenweise das Grippemittel Tamiflu gekauft und gehortet. Viele Bundesbürger ließen sich aus Sorge vor der nahenden Grippewelle das Arzneimittel verordnen und lagerten es im heimischen Kühlschrank für den Notfall ein. Forscher einer unabhängigen Ärztegruppe werfen dem Pharmakonzern „Roche“ vor, die Wirkungsweisen und Verträglichkeiten zum Teil zu positiv bewertet zu haben. Die Wissenschaftler berufen sich dabei auf bislang unveröffentlichte Studiendaten, bei denen sie neuerlich eine Analyse vornahmen.
Tamiflu wurde gehortet
Als die Panik in den Medien, der Weltgesundheitsorganisation WHO und Politik in Sachen Schweinegrippe auf Hochtouren lief, erlebte der Pharmahersteller Roche ungeahnte Absatzzahlen: Allein 1,8 Milliarden Euro soll der Konzern mit dem Grippe-Mittel „Tamiflu“ während der Schweinegrippe-Hochzeit eingenommen haben. Gesundheitsbehörden forderten die Menschen dazu auf, sich impfen zu lassen. Zusätzlich kauften alle Bundesländer das Grippe-Medikament Tamiflu auf Vorrat, schließlich belegten zahlreiche Studien die Wirksamkeit des Mittels, um schwere Verläufe der viralen Erkrankung zu verhindern. Die Wirkung von Oseltamivir soll vor allem dann gegeben sein, wenn das Arzneimittel in den ersten zwei Tagen nach Ausbruch der Influenza eingenommen wird. Wie in der Rückschau bekannt ist, fiel die große Schweinegrippe-Epidemie weitestgehend aus. Doch der Pharmahersteller machte kräftige Umsätze.
Kritik von damals erneut
Schon 2009 formulierte eine Forschergruppe der internationalen „Cochrane Collaboration“ im Fachjournal "British Medical Journal“ erhebliche Zweifel an dem tatsächlichen Effekt von Tamiflu. Der Mediziner und Epidemiologe Tom Jefferson kritisierte damals, dass es an eindeutigen wissenschaftlichen Belegen fehle, ob das Mittel gefürchtete Folgeerkrankungen wie die Lungenentzündung tatsächlich verhindere. Nun hat das Forscherteam um Jefferson bislang unveröffentlichte Daten gesichtet und erneut ausgewertet. Die Kritik von damals habe sich bestätigt, so die Kritiker. Denn die derzeit veröffentlichten Angaben zu Nutzen und Nebenwirkungen seien zum Teil „zu positiv“ formuliert worden. In den nachträglich veröffentlichten Daten habe es deutliche Abweichungen zu den bisher gemachten Angaben gegeben, schreiben die Experten im Wissenschaftsmagazin "Cochrane Database of Systematic Reviews". Somit sei das Medikament nicht so effektvoll wie beschrieben und habe deutlich mehr Nebenwirkungen, als vom Pharmakonzern angegeben.
Schwerwiegende Nebenwirkungen auf das Nervensystem?
Auffällig war zum Beispiel, dass einige Studien von schwerwiegenden Nebenwirkungen im Bereich der Psyche und des Nervensystems berichteten. Diese Ergebnisse wurden allerdings laut Jefferson nicht veröffentlicht. Statt auf die Nebenwirkungen aufmerksam zu machen, habe es zumeist nur die Aussagen von Seiten Roche gegeben, „es gab keine durch das Medikament verursachten schweren Nebenwirkungen“. Damals hatte die WHO die Empfehlung herausgegeben, die Gesundheitsbehörden sollen auf der ganzen Welt „Milliarden Euro ausgegeben, um Tamiflu zu kaufen und für den Epidemiefall einzulagern", sagt Jefferson. Doch für die Aussage, Tamiflu hemme das Influenza-Virus und verhindere bei infizierten Patienten mögliche Komplikationen, könne nicht bestätigt werden, so die vernichtende Kritik der unabhängigen Experten. „Wir haben in den von uns geprüften Daten dafür keinerlei Grundlagen gefunden“, heißt es in dem Resümee der Jefferson Auswertung. Aber genau diese vom Hersteller angepriesenen Wirkungen sind der Grund, warum die WHO Tamiflu als effektives Grippe-Medikament bei Epidemien und Pandemien noch immer empfehle.
Bundesbehörde sieht keinen Grund zum Eingreifen
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) reagierte am Freitag auf den Bericht der Ärztegruppe auffallend zurückhaltend. Der momentane „Kenntnisstand hat an der positiven Nutzen-Risiko-Bewertung von Tamiflu bei bestimmungsgemäßer Verwendung nichts geändert“. Auch der Roche Konzern reagierte umgehend und betonte in einer aktuellen Stellungnahme, dass Tamiflu die Vermehrung des Influenza-Virus stoppe. Das Medikament sei „nachweislich wirksam und im Allgemeinen gut verträglich für die Behandlung und Vorbeugung einer Influenza bei Erwachsenen und Kindern“.
Lungenentzündungen konnten nicht verhindert werden?
Das Ärztenetzwerk berichtet aber, dass unter anderem aus den bislang unveröffentlichten Ergebnissen hervorgehe, dass nach einer Verabreichung des Mittels ebenso viele Grippepatienten aufgrund einer Lungenentzündung oder anderer Folgeerkrankungen in Kliniken behandelt werden mussten, wie ebenjene, die nicht Tamiflu einnahmen. Zudem haben die Mediziner Abweichungen in den Angaben entdeckt, wie viele der Probanden tatsächlich an einer Influenza erkrankten. So gebe es Hinweise dafür, dass das Mittel die Antikörper Produktion gegen die Grippeviren beeinflusse, argumentieren die unabhängigen Wissenschaftler. Da aber eine Infektion mit Grippeviren anhand solcher Antikörper nachgewiesen wird, wurden unter Umständen die Patienten falsch zugeordnet. Es könnte sein, dass die Studienergebnisse dadurch verfälscht wurden, so die Ärztegruppe.
60 Prozent der Daten nicht öffentlich zugänglich?
Rund 60 Prozent der Daten klinischer Studien in der Phase 3 wurden vom Konzern nie veröffentlicht, sagen die Experten. Die Phase 3 ist aber mit die wichtigste, weil es die letzte und umfangreichste Studie vor einer Arzneimittelzulassung ist. So wird beispielsweise die Wirkung mittels eines Vergleichstest überprüft, in dem eine Teilnehmergruppe ein Placebo ohne Wirksamkeit verabreicht bekommt. Unter den noch nicht veröffentlichten Daten seien auch Auswertungen der größten jemals durchgeführten Tamiflu-Studie. An dieser hatten rund 1400 Patienten unterschiedlicher Altersgruppen teilgenommen. Für die aktuelle Studie wurden noch immer nicht alle Daten vom Pharmahersteller herausgegeben, kritisieren die Forscher. "Wir haben Sorge, dass diese Daten der Wissenschaft verschlossen bleiben und damit auch nicht überprüfbar sind", betont Studienleiter Jefferson. Das Mittel habe im eintretenden Seuchenfall eine hohe Bedeutung. Daher sei es notwendig, dass alle Auswertungen zu negativen und positiven Wirkungen von unabhängiger Seite überprüfbar sind. Nur so kann ein vollständiges Bild darüber gewonnen werden, ob, für wenn und wann der Einsatz des Medikaments sinnvoll ist.
Daten wurden bei Zulassung berücksichtigt
Das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte widersprach der Darstellung, die nicht-publizierten Daten wären nicht im Zulassungsverfahren berücksichtigt worden. „Das ist bei allen Zulassungen von Arzneimitteln üblich“, wie ein Sprecher am Freitag erklärte. Allerdings wolle man den Bericht des Ärztenetzwerkes genau prüfen. Die kritisierten Daten zur Wirksamkeit und zu den Nebenwirkungen seien aber mit in die Entscheidung über die Zulassung eingeflossen, wie die Aufsichtsbehörde betonte. Daher sind die neuen Veröffentlichungen der Ärztegruppe „nicht neu“. Die Auswertungen könnten auch in der „Fach- und Gebrauchsinformation von Tamiflu“ eingesehen werden. Die Informationen sind für jedermann „auf Webseite der Europäischen Zulassungsbehörde Ema abrufbar“.
Tamiflu hat Leben gerettet?
Roche hingegen beharrt in seiner Stellungnahme auf den Aspekt, Tamiflu habe während der Schweinegrippe-Pandemie „Leben gerettet“ und „Krankenhausaufenthalte reduziert.“ Ähnlich wären auch die Beobachtungen während der saisonalen Influenza gewesen. Das Mittel sei laut dem Konzern bei etwa 90 Millionen Menschen in 80 Ländern der Welt eingesetzt worden. Darunter hätten sich auch 20 Millionen Kinder befunden. Die Auswertung des Ärzteteams Cochrane würde auf Daten von Patienten basieren, die Grippe-ähnliche Krankheiten hatten. Tamiflu wirke aber nur bei Menschen mit nachgewiesenem Grippe-Erreger. Ein Konzernsprecher wiederholte die Angabe, man habe auf der ganzen Welt die Daten in vollständiger Weiser aus klinischen Studien im Kontext der Zulassungsverfahren zur Verfügung gestellt. Schließlich stehe man hinter den Daten und Ergebnissen, die eine Wirksamkeit eindeutig bestätigen. Am Mittwoch hatte eine Sprecherin gegenüber dem Magazin „Spiegel“ betont, dass 80 Prozent der Daten zugänglich seien. Die fehlenden 20 Prozent werden ebenfalls „öffentlich zur Verfügung gestellt“. Der Grund für das derzeitige Fehlen sei die Aktualität der Studien, da diese erst kürzlich abgeschlossen wurden. (sb)
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