BGH: Bei grober Fahrlässigkeit gilt Beweislastumkehr
Verlassen sich kranke und pflegebedürftige Menschen auf die schnelle Hilfe eines Hausnotrufsystems, muss der Hausnotrufdienstanbieter im Notfall auch wirklich schnell handeln und im Zweifel einen Rettungsdienst alarmieren. Betätigt ein Hilfebedürftiger die Notruftaste und ist dann nur von ihm ein minutenlanges Stöhnen zu hören, stellt die unterbliebene Verständigung von qualifizierten Rettungskräften eine grobe Verletzung vertraglich gewährter Schutzpflichten dar, urteilte am Donnerstag, 11. Mai 2017, der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe (Az.: III ZR 92/16).
Im entschiedenen Rechtsstreit ging es um einen schwer kranken 78-jährigen Mann mit Pflegestufe 2. Dieser lebte allein in einer Wohnung in einem Seniorenwohnheim. Er litt an zahlreichen gesundheitlichen Beschwerden und Erkrankungen, darunter Diabetes, Atemnot, Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck. Es bestand ein stark erhöhtes Schlaganfallrisiko.
Um weiter alleine in seiner Wohnung leben und im medizinischen Notfall Hilfe erhalten zu können, schloss der Mann mit der Johanniter Unfallhilfe einen Hausnotrufvertrag ab. Dabei wurde in der Wohnung des Mannes eine Notrufanlage installiert. Im Notfall kann per Knopfdruck diese aktiviert werden. Ein Mitarbeiter in der Notrufzentrale kann dann einen Kontakt herstellen. Im Notfall soll dann je nach Bedarf ein Schlüsseldienst, der Hausarzt oder auch der Rettungsdienst verständigt werden.
Am 9. April 2012 war der 78-Jährige tatsächlich auf dringende Hilfe angewiesen und drückte die Hausnotruftaste. Der Mitarbeiter in der Zentrale des Dienstes hörte minutenlang nur ein Stöhnen. Als dann mehrere Telefonanrufe bei dem Mann scheiterten, wurden ein Beschäftigter eines Sicherheitsdienstes und später eine weitere Person in die Wohnung geschickt.
Sie fanden den Mann auf dem Boden liegend, richteten ihn auf, setzten ihn auf eine Couch und ließen ihn dann allein. Der Rettungsdienst wurde nicht verständigt.
Am 11. April 2012 fanden Angehörige den Mann. Er war halbseitig gelähmt und hatte eine Sprachstörung. Im Krankenhaus wurde ein wahrscheinlich ein bis drei Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert.
Der Mann meinte, dass die Schlaganfallfolgen hätten vermieden werden können. Der Hausnotrufmitarbeiter hätte einfach nur schnell den Rettungsdienst oder andere qualifizierte medizinische Personen rufen müssen. Hier sei der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes nur in Erster Hilfe ausgebildet gewesen.
Die Johanniter Unfallhilfe bestritt, dass sie für die Folgen des Schlaganfalls verantwortlich sei. Sie lehnte die geforderte Zahlung von Schadenersatz und eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 40.000 Euro ab.
Da der Mann mittlerweile verstorben ist, machten die Töchter als Erbinnen die Ansprüche weiter geltend.
Während das Landgericht und das Kammergericht Berlin ihre Klage abwiesen, hatte diese vor dem BGH nun Erfolg. Der Hausnotrufdienst habe seine vertraglich vereinbarten Schutzpflichten „grob vernachlässigt“. Zwar sei der Dienst nicht für den Erfolg von Rettungsmaßnahmen verantwortlich, er sei aber verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln.
Dies sei hier unterlassen worden. Die Johanniter Unfallhilfe habe von den Vorerkrankungen und dem Schlaganfallrisiko sogar gewusst. Als der Mitarbeiter in der Zentrale den Notruf entgegennahm und das minutenlange Stöhnen hörte, hätte er qualifizierte medizinische Hilfe rufen müssen. Dies sei aber unterlassen worden und sei grob fahrlässig.
Ähnlich wie im Arzthaftungsrecht führe solch ein Handeln zu einer Beweislastumkehr. Der Hausnotrufdienst muss danach beweisen, dass die Gesundheitsschäden auch dann eingetreten wären, wenn er alles richtig gemacht hätte. Andernfalls muss der Hausnotrufdienst haften. Das Kammergericht Berlin muss dies nun noch einmal prüfen. fle/mwo/fle
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