Interview mit dem Dr. Jens Behnke zum Thema Homöopathie
Die Diskussion um die Homöopathie wird bisweilen hitzig und kontrovers geführt. Einen Beitrag zur Versachlichung bei der Auseinandersetzung mit dem Thema leistet Dr. Jens Behnke von der Carstens-Stiftung. Im Interview hat der Experte einige grundsätzliche Fragestellungen zu den Ursprüngen, der Anwendung und Wirksamkeit der Homöopathie beantwortet.
Samuel Hahnemann begründete die Homöopathie. Wer war das?
Samuel war ein deutscher Arzt und Chemiker, der Mitte des 18. Jahrhunderts geboren wurde. Nachdem er sein Medizinstudium erfolgreich beendet und kurze Zeit praktiziert hatte, schloss er seine Praxis und verdingte sich fortan zunächst als Übersetzer von Fachbüchern. Seiner Ansicht nach schadete die Medizin seiner Zeit dem Patienten häufig mehr als dass sie ihm nutzte: Viele Therapieregime sahen beispielsweise massive Aderlässe und die Gabe heroischer Dosen stark giftiger Substanzen, wie etwa Quecksilber oder Tollkirsche, vor. Hahnemann begründete die Homöopathie, nachdem er in einem Selbstversuch Chinarinde, ein bekanntes Heilmittel für Malaria, eingenommen hatte. Sie erzeugte bei ihm malariaähnliche Symptome. Dies ließ ihn auf den Gedanken kommen, dass Substanzen, die beim Gesunden bestimmte Symptome hervorzubringen in der Lage sind, ähnliche Symptome im Krankheitsfalle heilen können (Simileprinzip). In der Folge erforschte er diese Hypothese systematisch und wendete die hieraus abgeleitete Therapieform in der Behandlung von Kranken an. In seiner Spätzeit lebte Hahnemann in Paris. Seine rege frequentierte Praxis genoss internationalen Ruf.
Auf welchen medizinischen Vorstellungen basierte Hahnemanns Lehre? Was bedeuten „Lebenskraft“, „Lebensenergie“ oder „Miasmen“? Was ist das Simile-Prinzip und aus welcher medizinischen Tradition stammt es? Welche Nachweise für die Wirksamkeit seiner Idee und Methode erbrachte Hahnemann?
Homöopathie ist eine Arzneimitteltherapie, die nach einem bestimmten Verfahren (Potenzierung) hergestellte und an Gesunden geprüfte Substanzen individuell aufgrund des Ähnlichkeitsgesetzes verordnet. Das Simileprinzip im Hahnemann’schen Sinne habe ich bereits oben im Zusammenhang mit Chinarinde erläutert. Medizinhistorisch betrachtet finden sich verwandte Ideen etwa bei Hippokrates oder Paracelsus. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die homöopathische Ähnlichkeitsregel nichts mit der mittelalterlichen Signaturenlehre zu tun hat. Diese nahm beispielsweise an, Blutwurz (Potentilla erecta) habe blutungshemmende Eigenschaften, weil ein roter Farbstoff austritt, wenn man die Pflanze anschneidet.
Theorien über die Lebenskraft oder Miasmen (griechisch für übler „Dunst, Verunreinigung, Befleckung“) sind für die Homöopathie damals wie heute sekundär. Die Idee von Miasmen etwa als Ursache chronischer Krankheiten lehnen manche Homöopathen zum Beispiel vollständig ab, andere dagegen halten sie für hilfreich. Ursprünglich führte die Beobachtung, dass chronisch Kranke nicht so einfach dauerhaft zu heilen sind, Hahnemann zu der These, dass hier andere Vorgänge eine Rolle spielen müssen als bei akuten Erkrankungen. Er nahm an, dass frühere Infektionen sowie daraus resultierende konstitutionelle Belastungen eine Rolle spielen könnten, die unter Umständen sogar erblich seien. Analoge Ideen finden sich in der heutigen Genetik. Will man weitere Bezüge zur modernen Medizin herstellen, so ließe sich vielleicht sagen, dass mit „Lebenskraft“ die Fähigkeit des Organismus zur Selbstregulation gemeint ist.
Nachweise für die Wirksamkeit der Homöopathie erbrachte Hahnemann, indem er eine Vielzahl kranker Menschen erfolgreich therapierte. Zumindest legen dies seine umfangreichen Aufzeichnungen über die Behandlung mehrerer tausend Patienten in Form von 37 Krankenjournalen mit jeweils einigen hundert Seiten sowie die vielfältigen Berichte seiner Zeitgenossen nahe.
Wie ließen sich Hahnemanns Vorstellungen mit Viren und Bakterien als Krankheitserregern und der Ätiologie vereinbaren?
Hahnemann verfügte nicht über die Erkenntnisse der modernen Pathologie. Die Homöopathie ist aber eine phänomenologische Methode: Die Wahl des Arzneimittels wird durch beobachtbare Symptome bestimmt. Jedwede Theorie über Krankheitsursachen ist vor diesem Hintergrund zweitrangig. Dies galt zu Hahnemanns Zeiten und gilt noch heute.
Das Vorliegen von Mikroorganismen im Körper eines Patienten ist aber natürlich auch für den modernen Homöopathen relevant. Insbesondere muss jede Therapie, die erfolgreich sein will, eine Infektion zu guter Letzt zum Verschwinden bringen, auch eine homöopathische. Der Viren- oder Bakterienbefall ist in dieser Sichtweise aber lediglich ein Symptom, das für die Indikationsstellung sowie die Prognose und Verlaufskontrolle Informationswert besitzt. Primär wahlanzeigend für die Therapie ist er nicht. Eine direkte pharmakologische Bekämpfung von Krankheitserregern, wie sie etwa im Rahmen einer Antibiose erfolgt, ist mit Homöopathika weder beabsichtigt noch möglich. Aus diesem Grunde ist beispielsweise eine schwere Sepsis keine Indikation für eine alleinige homöopathische Behandlung: Die Schwere der Infektion erfordert ein rasches Beseitigen der Mikroben, weil der Körper des Patienten nicht genügend Reserven besitzt, um allein auf Basis seiner Selbstregulationsfähigkeit eine Genesung herbeizuführen. Unterstützend kann jedoch auch hier die Homöopathie eingesetzt werden, wie eine Studie des Intensivmediziners Prof. Michael Frass belegt.
Ist Homöopathie Naturheilkunde?
Das kommt auf die Definition an: Versteht man unter „Naturheilkunde“ die klassischen Naturheilverfahren Phytotherapie, Hydrotherapie, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Ordnungstherapie, lautet die Antwort Nein. Will man den Begriff „Naturheilkunde“ mehr oder weniger synonym mit „Komplementärmedizin“ verwenden, dann Ja. Meine persönliche Meinung: Aufgrund der zentralen Bedeutung der Ähnlichkeitsregel und, in zweiter Linie, wegen der Potenzierung der verwendeten Arzneimittel ist die Homöopathie eher als ein Therapiesystem sui generis zu betrachten und somit kein Teil der Naturheilkunde im engeren Sinne.
Was bedeutet Erstverschlimmerung?
Das Phänomen der Erstverschlimmerung wird zuweilen bei der Gabe passender homöopathischer Arzneimittel beobachtet. Hierbei intensiviert sich die bereits vorliegende Symptomatik des Patienten zunächst, um dann rasch abzuklingen. Die nachfolgende deutliche Besserung ist neben der kurzen Dauer der anfänglichen Verschlimmerung ein definitorisches Merkmal der Erstverschlimmerung. Unterschieden werden muss sie ebenfalls vom normalen Krankheitsverlauf. Wissenschaftliche Untersuchungen lassen darauf schließen, dass Erstverschlimmerungen im Rahmen einer homöopathischen Behandlung eher selten auftreten.
Unter Rückgriff auf kybernetische Modelle lässt sich die homöopathische Erstverschlimmerung leicht erklären: Der Organismus wird hierbei als Regelkreis betrachtet, der sich in einem Fließgleichgewicht befindet. Im Krankheitsfall stört ein schädlicher äußerer oder innerer Einfluss dieses Gleichgewicht. In der Folge setzt der Körper Steuerungsmechanismen in Gang, die beabsichtigen, es wiederherzustellen. Sichtbarer Ausdruck dieser Bemühungen sind die Krankheitssymptome, wie etwa Fieber, Hustenreiz oder Eiterung. Gemäß der Ähnlichkeitsregel erhält nun der Kranke eine Substanz, welche ähnliche Symptome am Gesunden hervorzubringen in der Lage ist. Der Reiz der homöopathischen Arznei entspricht insofern dem Auslöser der Krankheit. Er zielt darauf ab, die Eigenregulationsbestrebungen des Organismus zu verstärken. Die bereits in Gang gebrachten Steuerungsmechanismen können so gewissermaßen “heraufgeregelt“ werden. Die Erstverschlimmerung ist dann der augenfällige Ausdruck dieser Intensivierung.
Welche Prüfpotenzen legte Hahnemann bei seinen Verdünnungen der verwendeten Substanzen zugrunde? Was enthält zum Beispiel eine „Bernsteinessenz“?
Hahnemann experimentierte sowohl in der Krankenbehandlung als auch bei seinen Arzneimittelprüfungen an Gesunden mit unterschiedlichen Potenzen. Während er in seiner Frühzeit durchaus auch Urtinkturen, also klassisch pharmakologisch wirksame Substanzen, einsetzte, empfahl er später die C30 als Standardpotenz für die Arzneimittelprüfung am Gesunden. Bernsteinessenz ist kein von Hahnemann geprüftes homöopathisches Arzneimittel.
Was sind Globuli?
Kügelchen aus Rohrzucker, erhältlich in verschiedenen Größen. In der Homöopathie werden sie als Trägerstoff benutzt: Die arzneiliche Lösung wird aufgesprüht.
Christiane Maute empfiehlt Globuli für Pflanzen, um Schädlinge abzuhalten und Dagmar Neff stellt die „Homöopathie zum Aufmalen“ als neue Homöopathie vor. Können Sie den Wirkmechanismus von Homöopathie für Pflanzen und zum Aufmalen erklären?
Zahlreiche Experimente aus der Grundlagenforschung zur Homöopathie belegen, dass auch pflanzliche Organismen auf hochpotenzierte Arzneimittel reagieren: In den drei Hauptgebieten Bioassays mit gesunden Pflanzen, Intoxikationsmodelle und phytopathologische Untersuchungen identifizierten Übersichtsarbeiten aus den Jahren 2009-2011 insgesamt 167 experimentelle Studien, von denen 48 höheren Qualitätsanforderungen genügten. In diversen Untersuchungen wurden spezifische Effekte auch von Potenzen jenseits der molekularen Grenze beobachtet (Studie zur Homöopathie-Anwendung an gesunden Pflanzen, Homöopathie-Anwendung bei abiotisch gestressten Pflanzen und Homöopathie-Anwendung im Feldversuch). Der systematische Einsatz solcher ultramolekularer Verdünnungen im landwirtschaftlichen Pflanzenschutz wird beispielsweise in Indien erprobt.
Der Wirkmechanismus von Hochpotenzen ist bislang ungeklärt. Viele, teilweise auch unabhängig replizierte Experimente, zum Beispiel mit NMR-Relaxationszeitmessungen (Nuclear magnetic resonance), UV-Spektroskopie und Biokristallisation deuten darauf hin, dass die Wassermoleküldynamik in homöopathischen Arzneimitteln gegenüber der Placebokontrolle verändert ist. Bislang unbelegt ist hingegen die Hypothese, dass ein arzneimittelspezifisches Signal in stabilen Wasserstrukturen (Clustern) gespeichert wird. Die in Frage kommenden Muster sind nur etwa im Pikosekundenbereich (10−12) stabil.
Eine „Homöopathie zum Aufmalen“ ist mir nicht bekannt.
Gibt es eine Kontroverse zwischen der evidenzbasierten Medizin, die auf wissenschaftlichen Nachweisen beruht, und besonderen Therapieformen wie der Homöopathie?
Die Gegenüberstellung „Evidenzbasierte Medizin vs. Homöopathie“ suggeriert ein falsches Bild der tatsächlichen Datenlage. Ich will dies am Beispiel Homöopathie verdeutlichen:
Das Homeopathic Research Institute (HRI) nahm im Jahr 2014 eine Auswertung von 189 randomisierten kontrollierten klinischen Homöopathiestudien vor: 41% belegten die Wirksamkeit homöopathischer Präparate, 5% belegten deren Unwirksamkeit, und 54% der Publikationen ließen keine eindeutige Schlussfolgerung zu.
Zum Vergleich: 2007 wurden 1016 Übersichtsarbeiten der renommierten Cochrane-Collaboration zur konventionellen Medizin unter die Lupe genommen: 44% belegten die Wirksamkeit der untersuchten Intervention, 7% belegten ihre Schädlichkeit, und 49% der Arbeiten berichteten, dass keine Schlussfolgerung in die ein oder andere Richtung gezogen werden könne (Übersicht der Chochrane-Studien zur Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen).
Die Ähnlichkeit in der Verteilung positiver, negativer und neutraler Resultate fällt sofort auf. Wenn auch die Datenbasis in der Homöopathieforschung erheblich schmaler ist als in einigen Bereichen der konventionellen Medizin, so ist sie doch breit genug, um folgende Tatsachen zu konstatieren: Eine zusammenfassende Betrachtung klinischer Forschungsdaten belegt hinreichend einen therapeutischen Nutzen der homöopathischen Behandlung. Die Ergebnisse zahlreicher placebokontrollierter Studien sowie Experimente aus der Grundlagenforschung sprechen darüber hinaus für eine spezifische Wirkung potenzierter Arzneimittel.
Wie hoch ist der Jahresumsatz homöopathischer Mittel in Deutschland?
2015 wurden mit verordneten homöopathischen Arzneimitteln bundesweit 100 Mio. € umgesetzt (Quelle: Statista). Im selben Jahr betrugen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen für Arzneimittel überhaupt 31,84 Mrd. € (Quelle: Statista). Somit entsprachen die Aufwendungen für Homöopatika 0,31% der medikamentenassoziierten Gesamtausgaben. Hinzu kommen noch einmal 495 Mio. Umsatz mit nicht rezeptierten homöopathischen Mitteln, welche die Patienten vollständig aus eigener Tasche zahlen.
In Bezug auf die genannten Ausgaben sollte man sich zusätzlich vor Augen halten, dass diverse Studien dokumentieren, dass sich durch den Einsatz vergleichsweise günstiger Homöopathika die Verschreibung teilweise deutlich teurerer Medikamente offensichtlich erheblich reduzieren lässt:
In Bezug auf Erkrankungen der oberen Atemwege fand die EPI3-Kohortenstudie, dass bei vergleichbaren Behandlungsergebnissen in homöopathischen Arztpraxen gegenüber rein konventionellen nur etwa die Hälfte an Antibiotika, Entzündungshemmern und fiebersenkenden Mitteln verschrieben wird.
Dasselbe gilt für das Gebiet der muskuloskelletalen Erkrankungen, wie etwa Rheuma: Patienten, die homöopathisch behandelt werden, benötigen für die gleichen Therapieerfolge nur etwa die Hälfte an nichtsteroidalen Antirheumatika (z.B Ibuprofen), so das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2012. Auch in Bezug auf psychische Erkrankungen konnte in einer Studie aus dem Jahr 2015 demonstriert werden, dass für Patienten, die einen homöopathischen Arzt aufsuchen, die Wahrscheinlichkeit, Psychopharmaka verordnet zu bekommen, gegenüber der konventionellen Arztpraxis um den Faktor vier geringer ist.
Durch den Übergebrauch von Antibiotika entstandene multiresistente Keime verursachen jährlich eine kaum abzuschätzende Zahl an Todesfällen – laut einer Studie aus dem Jahr 2015 allein in den USA 99.000 pro Jahr. Nichtsteroidale Antirheumatika stellen die Wirkstoffgruppe dar, für die die höchste Zahl an Fällen ernster Nebenwirkungen beobachtet wird (z.B. mindestens 15.000 Todesfälle pro Jahr in den USA, siehe American Nutrition Association). Psychopharmaka sind laut dem Direktor des Nordic Cochrane Centres, Peter Götzsche, in der Altersgruppe der über 65-Jährigen für ca. 500.000 Todesfälle pro Jahr in Europa und den USA verantwortlich.
Diese Fakten geben zusammengenommen Grund zu der Annahme, dass sich durch den flächendeckenden Einsatz von Homöopathie ein beachtliches Einsparungspotential für das Gesundheitssystem realisieren ließe. Denn nicht nur der Verbrauch konventioneller Arzneimittel würde reduziert, auch die noch erheblich höheren Folgekosten durch deren Nebenwirkungen sänken.
Zum Thema Kosteneffizienz der Homöopathie existiert im Übrigen eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014. Sie fasst die Ergebnisse aus 14 gesundheitsökonomischen Analysen zur Homöopathie mit über 3.500 Patienten zusammen. In 8 von 14 Studien wurden Verbesserungen der gesundheitlichen Situation und Kostenersparnisse gegenüber den ausschließlich konventionell behandelten Patienten dokumentiert. In 4 Studien entsprachen die Behandlungsergebnisse der konventionellen Kontrolle, und die Kosten waren gleichwertig. In zwei Studien wurden vergleichbare Therapieerfolge, aber höhere Kosten im Vergleich zur konventionellen Therapie gefunden.
Welches Verhältnis hat die Homöopathie zur Naturwissenschaft?
Die Wirksamkeit ultramolekularer Verdünnungen ist sicherlich eine Anomalie, also ein Phänomen, das nicht oder nur unzureichend unter Rückgriff auf gängige Theorien und Modelle erklärbar ist. Aufgeklärte und selbstkritische Wissenschaftler sehen in Anomalien Herausforderungen. Ein Erkenntnisfortschritt geht nämlich in der Regel von der Erforschung solcher Anomalien aus:
Was bislang nicht in unser Bild von der Welt passte, weil unsere Erklärungsmodelle zu kurz griffen, zwingt uns, unsere Theorien zu hinterfragen. Die nachfolgende Modifikation des Begriffssystems, dessen wir uns bedienen, um die Welt verstehbar zu machen, ist der Fortschritt. Der wissenschaftlichen Geisteshaltung entgegengesetzt ist die dogmatische. Hier werden empirisch feststellbare Phänomene geleugnet, weil sie nicht unter Rückgriff auf ein bestimmtes Set an liebgewonnen Theorien erklärbar sind.
Die Scholastik des Mittelalters wollte nichts gelten lassen, was man nicht bei Aristoteles oder in der Bibel findet. Ähnlich halten manche Homöopathiekritiker die Wirkung von Hochpotenzen für prinzipiell unmöglich, weil sie nicht anhand des Modells „Molekül wirkt an Zelle“ zu erklären ist.
Manche gehen sogar soweit, zuzugeben, dass die vorhandenen Daten aus klinischen Studien und der Grundlagenforschung zwar tendenziell für die Homöopathie sprächen. Die Schlussfolgerung lautet für diese „Skeptiker“ allerdings, dass unbekannte Fehler in den Versuchsaufbauten stecken müssten, weil eine Wirkung ohne Moleküle gegen Naturgesetze verstoße (siehe Scientabilität – ein Konzept zum Umgang der EbM mit homöopathischen Arzneimitteln). Hier wird gleichsam der juristische Gesetzesbegriff unzulässigerweise auf die Naturwissenschaften übertragen: Naturgesetze schreiben nicht der Welt vor, wie sie sich verhalten darf. Sie beschreiben vielmehr allgemeine Zusammenhänge unserer Beobachtungen.
Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper postulierte als notwendiges Kriterium für eine Theorie, die als „wissenschaftlich“ bezeichnet werden kann, dass es prinzipiell möglich sein muss, sie zu widerlegen. Genau dies ist nicht der Fall, wenn Phänomene zwar unter Anwendung anerkannter Verfahren festgestellt, aber dennoch nicht ernst genommen werden, weil sie nicht unter Rückgriff auf bestimmte Modelle, hier die Naturgesetze, restlos herleitbar sind. Gegen welche Naturgesetze die Wirkung hochpotenzierter Arzneimittel überhaupt verstoßen soll, ist zudem mindestens erklärungsbedürftig. Wirkungen ohne direkten Molekülkontakt beobachtet die Physik regelmäßig im Falle des Elektromagnetismus, der Gravitation usw. Für diese Naturkräfte stehen eben nur Erklärungen bereit, die sie auf bereits bekannte Größen zurückführen sowie mathematische Formalismen, mit Hilfe derer sich ihre Wirkungen vorhersagen lassen. Dies beides ist für die Homöopathie noch nicht beziehungsweise nicht hinreichend der Fall. Die Ablehnung der Homöopathie ohne vorherige Prüfung der zahlreichen positiven Befunde aus der klinischen und der Grundlagenforschung entspricht nicht der wissenschaftlichen Methode der Erkenntnisgewinnung. Denn hier findet eine Immunisierung gegenüber der Erfahrung statt, ähnlich wie im Mittelalter.
Auf welchen genauen Kenntnissen der Ursachen der spezifischen Krankheiten und der Prozesse im Körper basieren Sinn und Verlauf homöopathischer Therapien?
Die Homöopathie ist eine Reiz-Regulationstherapie. Ihr Ziel ist es, dem Körper einen Impuls zur Anregung der Selbstheilungskräfte zu geben. Krankheitsursachen im Sinne einer klassischen Pathologie sind für sie nur insofern von Bedeutung, als dass sie wahlanzeigende Hinweise für ein ähnliches Arzneimittel sein können. Darüber hinaus sind sie selbstverständlich wichtig für die Indikationsstellung, die Prognose und die Verlaufskontrolle. Die Homöopathie orientiert sich an wahrnehmbaren Symptomen, zu denen auch Laborparameter oder diagnostische Daten aus bildgebenden Verfahren u.ä. zählen können. Sie verzichtet aber für die Arzneiwahl auf eine theoretische gestützte Kausalbeziehung zwischen bestimmten Symptomen und deren vermeintlichen Ursachen. Hierin ist sicherlich ein großer Vorzug der Homöopathie zu sehen: Sie benötigt für die Therapie keine Theorie der Krankheitsentstehung, sondern hält sich an das direkt Beobachtbare.
Wie entwickelte sich die heutige Homöopathie seit Hahnemann?
Die Säulen der Homöopathie, 1. das Simileprinzip, 2. die Arzneimittelprüfung am Gesunden und 3. das spezielle Arzneimittelherstellungsverfahren, stehen von Hahnemann bis heute mehr oder minder unverändert da. Verschiedene Schulen der Homöopathie entwickeln in Bezug auf die oder andere dieser Grundlagen immer wieder ihre eigenen Ansätze, die mal mehr und mal weniger erfolgreich sind.
Zu einer in westlichen Ländern hernach niemals wieder übertroffenen Blüte gelangte die Homöopathie in den USA auf der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Diesem Aufschwung wurde durch Bemühungen der konventionellen Ärzteschaft, finanzstarker Interessenverbände sowie der sogenannten „Skeptikerbewegung“ ein jähes Ende bereitet, so das Ergebnis einer rückblickenden Analyse aus dem Jahr 1993.
Voll ins Gesundheitssystem etabliert ist die Homöopathie bis heute in Indien: Die Anzahl der dort täglich behandelten Menschen dürfte ohne weiteres im Millionenbereich liegen.
Global gesehen wird die Homöopathie heute in mehr als 80 Ländern eingesetzt. Drei von vier Europäern haben schon einmal von der Homöopathie gehört, und etwa ein Drittel setzt sie selbst ein. Hierbei ist die Homöopathie das am häufigsten eingesetzte komplementäre Therapieverfahren für Kinder überhaupt. In Deutschland haben laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 60% der Bevölkerung schon einmal selbst homöopathische Arzneimittel eingenommen, Tendenz steigend.
Welche Metastudien der letzten Jahre gibt es, die eine große Menge an einzelnen Homöopathiestudien auswerteten, und zu welchen Ergebnissen kamen die?
Aktuell existieren 5 indikationsunabhängige systematische Übersichtsarbeiten placebokontrollierter Homöopathiestudien mit statistischer Berechnung (Meta-Analyse) die einen Zeitraum von 1991 – 2014 abdecken: Vier dieser Arbeiten (Klinische Anwendung der Homöopathie, Sind die klinischen Effekte der Homöopathie Placebo-Effekte?, Nachweis der klinischen Wirksamkeit der Homöopathie, Randomisierte placebokontrollierte Studien zur individualisierten homöopathischen Behandlung) schlussfolgern, dass sich die Wirkungen homöopathischer Arzneimittel nicht allein durch Placeboeffekte erklären lassen.
Eine Meta-Analyse schlussfolgert, dass homöopathische Arzneimittel vermutlich Placebos sind. Diese eine negative Arbeit wertete aufgrund wissenschaftlich nicht nachvollziehbarer Kriterien nur 8 von zunächst 110 eingeschlossenen Homöopathiestudien aus. Eine statistische Reanalyse förderte zutage, dass auch in dieser Publikation das Ergebnis für die 21 klinischen Prüfungen, denen eine hohe methodische Qualität bescheinigt wurde, signifikant positiv zugunsten der Homöopathie ausfiel.
Großes Medienecho erfuhr eine weitere Übersichtsarbeit ohne Meta-Analyse aus 2015, die das Australian National Health and Medical Research Council (NHMRC) in Auftrag gegeben hatte. Auch im Rahmen dieser Arbeit wurden aus methodisch nicht haltbaren Gründen 171 von 176 Studien nicht ausgewertet: Die Autoren schlossen alle klinischen Prüfungen mit weniger als 150 Teilnehmern als unzuverlässig von der Analyse aus und kamen zu einem für die Homöopathie negativen Ergebnis. Ein solches Auswahlkriterium wurde in keiner je vor oder nach dem Bericht des NHMRC publizierten medizinischen Übersichtsarbeit angewendet (Ausnahme Shang et al. 2005; s.o.), da es sich um eine methodisch nicht zu rechtfertigende beliebige Setzung handelt. Tatsächlich führt sogar das NHMRC selbst Studien mit weniger als 150 Teilnehmern durch, weil diese Probandenzahl nichts mit der methodischen Qualität zu tun hat, so die Kritik des Homeopathy Research Institute.
In der Homöopathieforschung scheint die Bewertung von Daten aufgrund der (In-)Kompatibilität mit bestimmten theoretischen Vorannahmen eine wichtige Rolle zu spielen. Dieses Phänomen wird wissenschaftstheoretisch unter dem Begriff der Plausibilitäts-Verzerrung (Plausibility-Bias) diskutiert. Der Epidemiologe Robert Hahn etwa analysierte in einer Untersuchung aus dem Jahr 2013 die Ein- und Ausschlusskriterien für Studien im Rahmen von Meta-Analysen zur Homöopathie mit einer negativen oder indifferenten Tendenz und zeigt unter anderem anhand statistischer Überlegungen auf, dass sie wahrscheinlich nachträglich formuliert wurden. Er vermutet, dass dieses Vorgehen ideologisch motiviert ist, was dem wissenschaftlichen Anspruch der Evidenzbasierten Medizin diametral entgegengesetzt wäre.
Das Sozialgesetzbuch fordert: „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.“ Inwieweit trifft das auf Hahnemanns Lehre und die Ableitungen heutiger Homöopathen zu?
Die Daten aus klinischen Studien zur Homöopathie belegen, dass Patienten regelmäßig in erheblichem Ausmaße von einer homöopathischen Behandlung profitieren. Die Effekte sind denen, die sich mit konventionellen Maßnahmen erzielen lassen, vergleichbar, gehen aber mit weniger Nebenwirkungen einher. Zudem sind viele Patienten, die die Homöopathie in Anspruch nehmen, bereits erfolglos oder mit unzureichendem Ergebnis konventionell vorbehandelt, wie eine gemeinsame Studie von Forschern der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Karl und Veronica Carstens-Stiftung zeigt. Qualität und Wirksamkeit scheinen also, was die wissenschaftlichen Befunde angeht, in ausreichendem Maße gegeben zu sein. Der medizinische Fortschritt hat bis dato nicht dazu geführt, dass insbesondere viele chronische Erkrankungen dauerhaft geheilt oder zumindest hinreichend gelindert werden können. Gerade hier besitzt die Homöopathie den Daten aus der klinischen Forschung zufolge großes Potential. Bedauerlicherweise ist dieses vielversprechende Therapieverfahren noch viel zu wenig in das Gesundheitssystem integriert. Hier besteht dringender Nachholbedarf seitens der Politik.
Interviewpartner:
Dr. Jens Behnke
Homöopathie in Forschung und Lehre
Karl und Veronica Carstens-Stiftung
Anmerkung: Dieser Artikel ist als Fachbeitrag zu der laufenden Debatte rund um das Thema Homöopathie gedacht, in der wir sowohl Kritikern als auch Befürworten Platz für eine Darstellung ihrer Positionen einräumen. Weitere Beiträge zu dem Thema finden Sie hier:
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Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.