Enormer Anstieg bei Männern Anfang 30 – Erkrankung ADS/ADHS kommt immer mehr bei Erwachsenen an – Kinder nehmen weniger Medikamente ein
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bekannt als ADS/ADHS, ist die häufigste psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Aber offenbar nehmen immer mehr von ihnen die Krankheit mit ins Erwachsenenalter. Eine Therapie läuft oft über Psychopharmaka, die den Wirkstoff Methylphenidat enthalten, das bekannteste davon heißt Ritalin.
Eine aktuelle Auswertung bei Versicherten der IKK Südwest in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland hat gezeigt, dass die Rezeptzahl für Erwachsene exorbitant wächst: In den vergangenen sechs Jahren hat sie sich vervierfacht (2010: 1168 / 2016: 4954 Verordnungen). Im Durchschnitt sind heute die erwachsenen Konsumenten 32 Jahre alt und in drei von vier Fällen männlich. Auffällig ist, dass im Jahr 2010 das Durchschnittsalter der erwachsenen Ritalin-Konsumenten noch bei 24 Jahren lag. Die Verordnungen für Kinder gehen indes deutlich zurück: Hier ergab sich ein Rückgang der Rezepte um 36 %. Betroffen sind nach wie vor hauptsächlich Jungen, durchschnittlich 12 Jahre alt (2010: 21.133 / 2016: 13.479 Verordnungen).
Vor dem Hintergrund dieser überraschenden Zahlen hat die IKK Südwest bei Dr. Andreas Vogel, Kinderpsychiater aus Saarbrücken, nachgefragt. Der Mediziner beschäftigt sich seit Jahren mit dem genetisch bedingten Krankheitsbild ADS/ADHS und ist überzeugt vom hilfreichen Medikamenten-Einsatz, da es Erkrankten helfe, besser zu filtern: „Das Gehirn kann nicht entscheiden, was wichtig ist und was nicht”, sagt Dr. Andreas Vogel. „Ärzte und Patienten sind inzwischen aufgeklärter, was dieses Tabu-Thema betrifft. Viele Erwachsene erkennen bei sich die Problematik und gehen zum Arzt, weil ihre Lebensqualität leidet.” Erwachsene ADS/ADHS-Patienten haben oft Probleme mit Arbeits- und Zeitmanagement. Wenn nach mehrstufigen medizinischen Tests ein Medikament verabreicht wird, sollen damit die Betroffenen ihren Alltag besser meistern können: „Es geht darum, dass der Patient sozial zurechtkommt, sich gesund entwickeln kann, soziale Kompetenzen hat und gesellschaftlich, beruflich und familiär klar kommt. Das kann jemand, der unbehandelt mit ADS/ADHS lebt, nicht”, sagt Dr. Andreas Vogel.
Viele Betroffene kennen den Vorwurf, ADS/ADHS-Medikamente würden die Patienten ruhigstellen. Der Kinderpsychiater widerspricht: „Die Medikamente bringen den Patienten ein Stück Klarheit zurück und helfen, strukturierter zu Werke zu gehen. Wenn ein Patient mit Ritalin ruhig gestellt ist, ist das Medikament immer überdosiert.” Engmaschige und regelmäßige medizinische Begleitung sei natürlich wichtig. Auch könne man vor der medikamentösen Behandlung mit Präventionsprogrammen wie Instruktions- oder Aufmerksamkeitstraining arbeiten oder erlernen, mit Selbstdisziplin strukturierter durch den Alltag zu gehen.
Man müsse die Entwicklung aber kritisch beobachten, warnt Dr. Lutz Hager, Geschäftsführer der IKK Südwest: „Gut, dass bei der Medikation von Kindern inzwischen genauer hingeschaut wird. Bei den Erwachsenen müssen wir nun ein wachsames Auge drauf haben, damit keine Übermedikation entsteht.” Mit Blick auf die Krankheitsursachen und Nebenwirkungen der Ritalin-Therapie betont auch der IKK-Geschäftsführer: „Es gibt auch gute präventive und verhaltensorientierte Ansätze, um es gar nicht erst zur Notwendigkeit dieser Arzneimittel-Therapie kommen zu lassen.”
Die Ritalin-Verordnungen für Erwachsene sind in allen Bundesländern, in denen die IKK Südwest aktiv ist, extrem angestiegen, am stärksten in Hessen (um das 5,5-Fache von 163 in 2010 auf 901 in 2016), gefolgt vom Saarland (um das 4,5-Fache von 188 in 2010 auf 883 in 2016) und von Rheinland-Pfalz (um das 4-Fache von 684 in 2010 auf 2555 in 2016). Den stärksten Rückgang bei den Ritalin-Verordnungen für Kinder verzeichnet die IKK im Saarland (- 47 % von 4183 in 2010 auf 2216 in 2016), gefolgt von Rheinland-Pfalz (- 35 % von 12632 in 2010 auf 8191 in 2016) und Hessen (- 34 % von 2842 in 2010 auf 1857 in 2016).
Das komplette Interview mit Kinderpsychiater Dr. Andreas Vogel finden Sie auf der Themen-Internetseite zu „Patientensicherheit” der IKK Südwest: www.patientensicherheit.com. Das Interview spiegelt die Meinung des befragten Arztes wider und trägt seine Erfahrungen aus dem Pra-xisalltag zusammen. Die IKK Südwest weist darauf hin, dass im ersten Schritt Präventionsangebote geprüft werden sollten, bevor es zu einer medikamentösen Therapie kommt. Meist ist ein multimodaler Therapie-Ansatz nötig.
Autoren- und Quelleninformationen
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Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.