Suchtgefahr: Einnahme leistungssteigernder Arzneimittel massiv gestiegen
21.06.2011
Die Verwendung leistungssteigernder Medikamente in der Bevölkerung steigt massiv. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) kam bereits im Jahr 2009 in einer repräsentative Umfrage zu dem Ergebnis, dass etwa fünf Prozent der Beschäftigten schon einmal auf leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente zurückgegriffen haben. Häufig werde bereits in der Schule mit dem Einsatz der vermeintlichen Wundermittel (Hirndoping) begonnen. Nun warnt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen eindringlich vor dem Suchtpotenzial der vermeintlichen Wundermittel.
Der enorme Leistungsdruck im Alltag hat zur Folge, dass immer mehr Mensch regelmäßig leistungssteigernde Substanzen zu sich nehmen, um in der Gesellschaft Schritt zu halten. Rund 320.000 Beschäftigte nehmen der DAK-Umfrage zufolge täglich oder mehrmals wöchentlich Arzneimittel zur Steigerung ihrer Leistungen oder Verbesserung ihrer Gemütslage ein. Immer mehr Menschen betrachten es offenbar als vertretbar, Arzneimittel zur Optimierung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit einzusetzen, um im beruflichen (schulischen) Alltag mithalten zu können. Dass die Verwendung der Medikamente medizinisch nicht notwendig ist und unter Umständen erhebliche gesundheitliche Probleme auslösen kann, wird dabei offenbar regelmäßig verdrängt.
Mit Arzneimitteln gegen den Leistungsdruck?
Um den Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft gerecht zu werden, greifen hierzulande immer mehr Menschen zu vermeintlichen Wunderpillen. Der DAK-Bericht verdeutlicht, dass die Hemmschwelle bei der Verwendung leistungsfördernder und stimmungsaufhellender Arzneimittel in den vergangenen Jahren deutlich gesunken ist. Rund fünf Prozent der Beschäftigten nehmen ohne vorliegende medizinische Indikation entsprechende Präparate ein. Vor diesem Hintergrund warnten die Experten der Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) und der Arzneimittelexperte, Professor Doktor Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen vor der Suchtgefahr des sogenannten Hirndopings. Außerdem seien viele der eingesetzten Präparate nachweislich wirkungslos und würden die kognitive Leistungsfähigkeit eher beeinträchtigen als fördern, erklärte Prof. Dr. Glaeske. Dem renommierten Fachmann zufolge führt zum Beispiel die Verwendung von Ritalin „bei Gesunden nachweislich weder zu gewünschter Stimmungsaufhellung noch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit“ sondern eher zur „Verringerung der Leistungsfähigkeit und Aktivität.“ Zudem gehe mit der Einnahme der vermeintlichen Wundermittel häufig ein erhöhtes Risiko von Nebenwirkungen, Abhängigkeiten und schwerwiegenden Langzeitfolgen einher, erklärten die Experten.
Nebenwirkungen und Abhängigkeitsrisiko
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat anlässlich ihres 19. Wissenschaftlichen Symposiums in Tutzing am Starnberger See eindringlich vor den Folgen des sogenannten Hirndopings gewarnt. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene versuchen mit Hilfe von Medikamenten „die Leistungsfähigkeit des Gehirns, aber auch emotionale und soziale Kompetenz zu steigern“, so die Mitteilung der DHS. Rund 800.000 Beschäftigte gaben in der DAK-Untersuchung an, „dass sie sich regelmäßig und sehr gezielt dopen“, berichten die Experten der DHS weiter. Demnach nehmen etwa 320.000 Beschäftigte „täglich oder mehrmals wöchentlich Arzneimittel zur Leistungssteigerung und Stimmungsaufhellung ein“. Damit wird das sogenannte Hirndoping zu einem wachsenden Problem. Denn die vermeintlichen Wundermittel erreichen oft nicht die gewünschte Wirkung und neben möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch das Risiko der Nebenwirkungen besteht ein erhebliches Suchtpotenzial, warnen die Experten. Nicht die körperliche sondern die psychische Abhängigkeit sei hierbei das Hauptproblem. Die Betroffenen sehen sich ohne die Arzneimittel häufig nicht mehr dazu in der Lage, dem Leistungsdruck im Alltag zu widerstehen.
Vielzahl unerwünschter Wirkungen durch Hirndoping-Arzneimittel
Der DHS-Geschäftsführer, Dr. Raphael Gaßmann, erklärte, dass unter Hirndoping generell „die Einnahme chemischer Substanzen“ zur Leistungssteigerung und Stimmungsaufhellung zu verstehen sei. Da sie „im Vergleich zur Anwendung anderer Neurotechnolgien einfach anwendbar und schnell verfügbar“ sind, greifen immer mehr Deutsche auf die vermeintlichen Wunderpillen zurück, erklärte Gaßmann. Dabei sei „der Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente der Versuch, noch den absurdesten Leistungsanforderungen gerecht zu werden.“ Die gängigsten Präparate sind laut Aussage des Experten „stimulierende Wirkstoffe wie Methylphenidat“ (zum Beispiel Ritalin), welches bei der medizinisch-indizierten Behandlung des Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) eingesetzt wird und das zur Therapie der Schlafkrankheit (Narkolepsie) verwendete Modafinil (Handelsname Vigil). Außerdem „werden bestimmte Antidepressiva (u. a. Serotonin Wiederaufnahmehemmer, SSRI)“ immer häufiger zur Verbesserung des allgemeinen psychischen Wohlbefindens genutzt, obwohl sie eigentlich zur Behandlung depressiver Verstimmungen sowie von Angst– und Zwangsstörungen entwickelt wurden, erläuterten die Experten der DHS. Bei gesunden Menschen wirken verschiedene Antidepressiva jedoch eher leistungshemmend, so dass ein medizinisch unbegründeter Einsatz grundsätzlich abzulehnen sei, berichtet die DHS weiter. Die zur Verbesserung der kognitiven Leistungskraft eingesetzten Antidementiva seien ebenso fragwürdig, da „keine Belege zur Steigerung der Gedächtnisleistung Gesunder durch Antidementiva“ bestehen. Sowohl Antidementiva als auch Antidepressiva tendieren generell dazu „bei Gesunden eine Vielzahl unerwünschter Wirkungen auslösen, zum Beispiel Kopfschmerzen, innere Unruhe und Übelkeit“, warnte die DHS.
Arbeitsplatzregelungen und Sozialleistungen gesundheitspolitisch ausrichten
Die Experten wie Prof. Dr. Gerd Glaeske kommen zu dem Schluss, dass die Einnahme der vermeintlichen Wundermittel „bei Gesunden nachweislich weder zu gewünschter Stimmungsaufhellung noch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit“ führt. Stattdessen drohe „die Verringerung von Leistungsfähigkeit und Aktivität“ und neben anderen unerwünschten Nebenwirkungen weisen zum Beispiel die stimulierenden Wirkstoffe Methylphenidat und Modafinil ein besonders hohes psychisches Abhängigkeitsrisiko auf, erklärte Glaeske. Generell ist laut Aussage der DHS-Experten beim Hirndoping die Gefahr der psychischen Abhängigkeit besonders hoch. Diesem erhöhten Abhängigkeitsrisiko sollte „individuell mit Verhaltensprävention und institutionell mit Verhältnisprävention begegnet werden“, forderte die DHS. Vor allem im Bereich der Arbeitsplatzregelungen und der Sozialleistungen sei auf „gesellschaftspolitischer wie institutioneller Ebene die zusätzliche Umsetzung verhältnispräventiver Leistungen“ erforderlich. Arbeitsplatzregelungen und Sozialleistungen dürfen nicht länger ausschließlich „wirtschaftspolitisch diskutiert und entschieden werden, sondern sind deutlicher als bisher auch gesundheitspolitisch auszurichten“, mahnte die DHS. Dr. Raphael Gaßmann schloss mit dem Fazit: „Wir leben nicht nur, um zu arbeiten! Wenn Schule, Ausbildung und Beruf krank oder süchtig machen, ist es Zeit, sie grundsätzlich zu entschärfen.“ Um individuell besser mit dem Leistungsdruck umgehen zu können empfahl Prof. Dr. Renate Soellner , aufmerksamer auf die körpereigenen Signale zu achten, um Überlastungen vorzubeugen. Ein gutes Zeitmanagement mit Ruhepausen könne ebenso helfen wie ein gut organisierter Arbeitsplatz, erklärte die Expertin. (fp)
Nahrung für´s Gehirn: Hochleistung durch Ernährung
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Immer mehr Studenten greifen zu Ritalin
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de
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