Fachleute tagen in Frankfurt: Immer mehr Menschen von Onlinesucht betroffen
Soziale Netzwerke und Online-Spiele sind für hunderttausende Menschen längst nicht mehr nur Zeitvertreib. Sie sind onlinesüchtig, können nicht ohne den virtuellen Austausch leben. Dabei sind nicht nur Nerds von der Onlinesucht betroffen, sondern zunehmend auch Ältere und Frauen. Am Donnerstag berieten Fachleute in Frankfurt über die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Onlinesucht.
Virtuelle Selbsthilfegruppe für Menschen mit Onlinesucht
Experten zufolge kann Onlinesucht, also die Abhängigkeit vom Internet, jeden treffen. Das bestätigt auch Benjamin Wockenfuß, Initiator der ersten moderierten virtuellen Selbsthilfegruppe für Internetabhängige, „webC@re“, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur „dpa“. Zu den Abhängigen zählten auch immer häufiger Ältere und Frauen. Mehr als jeder Vierte, der im vergangenen Jahr an dem bundesweiten Vorzeigeprojekt teilnahm, sei bereits 30 bis 40 Jahre alt gewesen, berichtet der Therapeut von der Drogenhilfe. Jeder Fünfte war demnach sogar über 40 Jahre. Etwa 30 Prozent der Teilnehmer waren Frauen. Fast genauso viele bezeichneten die sozialen Netzwerke als ein Suchtmittel.
Neben Facebook & Co. werden auch elektronische Sportspiele, in denen es um Geld geht, zunehmend zum Problem. „Vor dem Hintergrund der Glücksspielsucht bringen sie eine neue Facette“, so Wockenfuß. Internetglücksspiele würden besondere Risiken von Computersucht bergen, bestätigt auch Andreas Gohlke von der Glücksspiel-Ambulanz der Uni Mainz gegenüber der Nachrichtenagentur. Als weitere Risiken nennt der Experte mehr als 500 Online-Freunde und mindestens 2,6 Stunden Computerspiel täglich.
Bis zu einer Million Menschen sind in Deutschland onlinesüchtig
Mittlerweile sind in Deutschland Hunderttausende internetsüchtig. Der Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS), Wolfgang Schmidt-Rosengarten, beruft sich im Gespräch mit der Agentur auf eine zwei Jahre alte Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, in der von 560.000 Abhängigen die Rede sei. Allein in Hessen litten demnach etwa 41.500 Menschen unter Onlinesucht. „Das Phänomen ist in den letzten Jahren immer stärker geworden.“ Andere Fachleute gehen sogar von noch höheren Zahlen bis zu einer Million aus, berichtet Wockenfuß.
Onlinesucht gilt nicht offiziell als Krankheit. Aber: „Die Erfahrung zeigt, dass Onlinesucht ebenso schwerwiegende Auswirkungen auf die Betroffenen hat wie beispielsweise die Alkohol- oder Drogensucht“, betont die Leiterin der Technischen Krankenkasse Hessen, Barbara Voß, gegenüber der Nachrichtenagentur. Häufig litten die Betroffenen auch unter weiteren Süchten.
Suchtgefahr: Soziale Netzwerke ermöglichen schnelles, positives Feedback
„Wir sind soziale Wesen und wollen ein schnelles Feedback“, erläutert Dong-Seon Chang vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen im Gespräch mit der Agentur. „Die Interaktion mit anderen Menschen stimuliert das Belohnungszentrum im Gehirn.“ Und das Internet hat einen weiteren Vorteil: „Wir bekommen online viel einfacher ein schnelles, positives Feedback.“ Darin bestehe auch die Suchtgefahr, so der Experte.
Schmidt-Rosengarten weißt daraufhin, dass die Merkmale einer Onlinesucht mit denen anderer Süchte vergleichbar sind. „Steigerung der Dosierung: Der Betroffene sitzt immer länger vorm Bildschirm. Die Aufmerksamkeit verengt sich, das soziale Umfeld und Hobbys werden vernachlässigt.“ Der Abhängige halte an seinem Verhalten fest trotz Problemen in der Schule oder im Job und in seinem sozialen Umfeld. Er verliere die Kontrolle. „Genauso wenig, wie der Alkoholiker sagen kann, ich trinke nur ein Bier, kann der Internetabhängige sagen, ich spiele nur eine Stunde.“
Misserfolge und Ablehnung in der realen Welt, aber positives Feedback und Belohnung in der virtuellen Welt
„Es gibt ein reales und ein virtuelles Ich, und die beiden differieren sehr stark“, erklärt Wockenfuß das Problem. „In der realen Welt erlebe ich Ablehnung und Misserfolg, in der virtuellen Belohnung, Anerkennung und Erfolg.“ Je komplizierter und unattraktiver die reale Welt werde, desto mehr werde die virtuelle Welt zum Zuhause.
Viele Internetsüchtige litten zudem an Depressionen, Aufmerksamkeits-, Zwangs- und soziale Störungen ergänzt Gohlke. „Der Wunsch und die Sehnsucht nach einfacher, entspannter Belohnung war die Triebfeder von fast allen Usern von webC@re“, berichtet Wockenfuß. Warum sich viele an die Selbsthilfegruppe wenden, erklärt der Experte mit dem Wunsch nach einem geregelten Leben. „Viele wollten ihr Studium schaffen oder im Job nach der zweiten Abmahnung nicht rausfliegen.“ Zudem ist der Zugang zu der Gruppe nur einen Mausklick entfernt.
Eine wirksame Strategie gegen die Onlinesucht sei, „Mut machen, was ich online gut kann, auch offline auszuprobieren“, so Wockenfuß. Gohlke zufolge sei Abstinenz nicht praktikabel. Vielmehr werde versucht, die Kontrollfähigkeit wiederzuerlangen. (ag)
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