Was unterscheidet die Alterung von Krankheiten?
Bei Adipositas, Arteriosklerose, Bluthochdruck und Diabetes handelt es sich zweifelsfrei um Krankheiten, doch auch beim Altern finden schädliche Prozesse im Körper statt, denen theoretisch entgegengewirkt werden kann. Kann die Alterung also auch als eine Krankheit betrachtet werden?
Dr. Mikhail Blagosklonny vom Roswell Park Comprehensive Cancer Center in New York (USA) setzt sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung mit der Frage auseinander, ob Altern als Krankheit betrachtet werden kann. Seine Arbeit wurde nun in dem Fachjournal „Aging“ vorgestellt.
Atherosklerose ist eine Krankheit
Dr. Blagosklonny verdeutlicht zunächst am Beispiel Atherosklerose, warum er die Theorie aufgestellt hat, dass die Alterung als Krankheit betrachtet werden kann. Eine Arterienverkalkung wird durch eine Überfunktion zahlreicher unterschiedlicher Zelltypen angetrieben, die sowohl lokal als auch aus der Ferne wirken.
Der Prozess der Atherosklerose findet quasi bei jedem Menschen statt, beginnt bereits in der Kindheit und schreitet im Laufe des Lebens fort. Sie ist sowohl ein Kennzeichen des Alterns als auch eine Krankheit. Die klinisch relevante Erscheinungsform der Atherosklerose zählt zu den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ist eine der häufigsten Todesursachen beim Menschen.
Osteoporose und Adipositas sind „neue“ Krankheiten
Nach Angaben von Dr. Blagosklonny ist die Definition einer Krankheit schwierig. Osteoporose ist beispielsweise eine altersbedingte Krankheit, bei der die Knochen porös werden und leicht brechen. Sie wurde erst im Jahr 1994 als Krankheit anerkannt. Adipositas, also extremes Übergewicht, wird erst seit dem Jahr 2013 offiziell als Krankheit betrachtet.
Vergrößerte Prostata und Prostatakrebs
Als weiteres Beispiel nennt Dr. Blagosklonny Prostatakrebs und eine vergrößerte Prostata: Die gutartige Prostatahyperplasie (Prostata-Vergrößerung) ist die häufigste altersbedingte Erkrankung bei Männern. Sie kann bereits im Alter von 30 Jahren nachweisbar sein.
Zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr vergrößert sich die Prostata mit einer Verdopplungszeit von 4,5 Jahren. Zwischen dem 51. und 70. Lebensjahr beträgt die Verdopplungszeit laut Dr. Blagosklonny rund 10 Jahre. Die Vergrößerung sei hauptsächlich auf natürliche zelluläre Prozesse zurückzuführen, die zu entzündlichen Reaktionen in der Prostata führen.
Bei jedem Mann, der alt genug ist, liegt eine vergrößerte Prostata vor. Sie bleibt bei vielen jedoch asymptomatisch oder die Männer leben nicht lange genug, damit die Prostata zu einem gesundheitlichen Problem wird. Dennoch handelt es sich dabei um einen krankhaften Prozess, von dem jeder Mann betroffen ist.
Jeder Mann würde Prostatakrebs bekommen
Wie Dr. Blagosklonny verdeutlicht, würde jeder Mann früher oder später Prostatakrebs entwickeln, wenn er lange genug leben würde. Am häufigsten wird Prostatakrebs bei Autopsien von Männern über 70 Jahren festgestellt, die aufgrund einer anderen Ursache gestorben sind.
Bei mindestens 36 Prozent der Autopsien bei Männern zwischen 70 und 79 Jahren wird ein Tumor in der Prostata gefunden. Blagosklonny folgert daher, dass es sich um einen „normalen“ Prozess handelt, der jedoch als Krankheit definiert ist und behandelt werden kann.
Was ist die Definition einer Krankheit?
Bei der Alterung finden ebenfalls viele Prozesse wie beispielsweise Entzündungen statt, die bei verschiedenen Krankheiten als Ursache definiert werden. Doch ist eine Krankheit eine Krankheit, wenn sie ein natürlicher Prozess ist, jeden trifft und zwangsläufig zum Tod führt?
Wie Dr. Blagosklonny betont, ist es für die Definition einer Krankheit nicht entscheidend, wie oft oder selten sie auftritt. So gut wie jeder Mensch auf der Welt erkrankt im Laufe des Lebens mindestens ein mal an einem grippalen Infekt. Trotzdem würde keiner auf die Idee kommen, es deshalb nicht mehr als Krankheit zu betrachten.
Zumal dürfte man nach diesem Gesichtspunkt dann auch Atherosklerose und Prostatakrebs nicht mehr als Krankheit definieren.
Altersbedingte Krankheiten sind quasi vorprogrammiert
Altersbedingte Krankheiten treten früher oder später bei jedem Menschen auf, und deshalb ist niemand unsterblich. Die Entwicklung solcher Krankheiten ist Blagosklonny zufolge quasi vorprogrammiert. Äußere Faktoren, der Lebensstil und genetische Veranlagungen sorgen jedoch dafür, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten.
Ist Alterung also auch eine Krankheit?
Nach herkömmlicher Auffassung ist das Altern ein Risikofaktor für die Entstehung von altersbedingten Krankheiten. Doch nach der Theorie von Dr. Blagosklonny kann die Alterung auch als Summe aller altersbedingten Krankheiten oder krankhaften Prozesse im Körper betrachtet werden. Demnach gäbe es kein Altern ohne Krankheiten.
Genau wie altersbedingte Krankheiten ist auch die Alterung selbst eine Summe von zellulärer Überaktivierung, Entzündungen und genetischer Veränderung – eine „Fortsetzung von Entwicklungsprogrammen, die nach ihrem Abschluss nicht abgeschaltet wurden“, resümiert Dr. Blagosklonny.
Altern ist prinzipiell behandelbar
Altern sei zwar ein natürlicher Prozess, aber ein natürlicher Prozess könne auch eine Krankheit sein, wenn er zum Tod oder zu einem Funktionsverlust führe. Die Alterung wird zum Teil durch überfunktionale Signalwege vorangetrieben.
Bei Versuchen an Tieren konnte bereits belegt werden, dass sich die Lebensspanne der Tiere verlängerte, wenn solche Signalwege mittels des Anti-Aging Medikaments Rapamycin gehemmt wurden. Die Alterung kann also prinzipiell verlangsamt und somit „behandelt“ werden.
Die Alterung als komplexes Krankheitssyndrom
Blagosklonny kommt zu dem Schluss, dass das Altern als eine fortschreitende Krankheit mit einer Sterblichkeitsrate von 100 Prozent betrachtet werden kann. Es handele sich jedoch nicht um eine spezifische Krankheit, sondern eher um ein komplexes Krankheitssyndrom, also die Summe aller altersbedingten Krankheiten und krankhaften Prozesse, die mit der Alterung zusammenhängen.
Die Alterung ist wie ein „Zoo“ voller Krankheiten
Als Analogie vergleicht der Wissenschaftler das Verhältnis zwischen altersbedingten Krankheiten und der Alterung mit Tieren und einem Zoo, wobei die Alterung der Zoo und die altersbedingten Krankheiten die Tiere sind. Ein Zoo besteht zwar aus Tieren und kann ohne Tiere nicht existieren. Dennoch ist ein Zoo kein Tier. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Mikhail V. Blagosklonny, et al.: Are menopause, aging and prostate cancer diseases? in: Aging (2023), aging-us.com/
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.