Das Wort “virgin” erschien im Englischen im 13. Jahrhundert und bezeichnete eine junge Frau, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Jungfräulichkeit im Deutschen bezeichnet jede Frau und jeden Mann, die “unberührt” sind.
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Jungfräulichkeit bezieht sich dennoch meist auf Mädchen, und zwar aus zwei Gründen: Zuerst einmal wird Jungfräulichkeit traditionell aus einer männerdominierten und heterosexuellen Perspektive betrachtet, ein Mädchen verliert also seine Jungfräulichkeit, wenn ein männlicher Penis es penetriert hat. Zweitens ist das Durchstoßen des Jungfernhätchens oft mit Blutungen verbunden, die lange als Beweis der Entjungferung galten.
Jungfräulichkeit, definiert als ein intaktes Jungfernhäutchen, gilt in islamischen Gesellschaften als Zeichen sexueller Reinheit und repräsentiert die Ehre einer Frau und ihrer Familie. Der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe gilt indessen auch in vielen anderen Kulturen als Schande, zum Beispiel in China und im mediterranen Raum. In vielen islamischen Ländern hat ein intaktes Hymen einen so bedeutenden sozialen Wert, dass ernste Probleme entstehen, nämlich Verbrechen oder sogar Blutfehden, wenn ein frisch verheiratetes Mädchen keine Jungfrau mehr ist.
Jungfräulichkeit als Konzept gilt in den meisten Ländern Westeuropas und den USA als überkommen, außer in sehr konservativen Regionen oder bei Christen, aber in einigen Ländern Afrikas, Asiens, Südamerikas und Südosteuropas ist Sex vor der Ehe nach wie vor ein Tabu, und ein nicht intaktes Jungfernhäutchen bringt diverse Probleme für unverheiratete Frauen mit sich.
Mythos Jungfernhäutchen
Hymen kommt vom griechischen Wort hyalos und bedeutet Membran. Die Griechen benutzten den Begriff für jede Art von anatomischer Membran, zugleich war aber Hymen der griechische Gott der Hochzeit.
Diese beiden Fakten fassen das konventionelle Wissen zusammen über dieses gemeinhin missverstandene Thema, dass diese fabelumwobene Membran die Öffnung der Vagina verschließt und “durchbohrt”, “gebrochen” oder “zerrissen” wird, wenn Frauen feucht sind und Sex haben – besonders beim ersten Mal.
Tausende von Jahren glaubten viele Kulturen, dass das “Brechen” des Hymens Schmerzen verursacht, bis hin zu der Vorstellung, dass Frauen Schmerz beim ersten Geschlechtsverkehr empfinden sollen.
Einige Kulturen glaubten, dass eine Untersuchung belegen könnte, ob eine Frau Jungfrau ist oder nicht. Ein intaktes Hymen demonstrierte ihre Würde, während sie ansonsten ihre “Blüte” verloren hatte.
Weil viele Kulturen glaubten, dass das “Durchstoßen” des Hymens notwendig Blutungen verursachte, hängten frische Ehemänner blutige Bettlaken aus dem Fenster, um zu belegen, dass ihre Frauen Jungfrauen gewesen waren.
Das Hymen war also historisch der Fokus in vielen Traditionen, um die Jungfräulichkeit der Frau zu markieren. Viele Mysterien umkreisen das Hymen, in vielen Kulturen ist es der wertvolle “Preis”, den eine Ehefrau ihrem Gatten in der Hochzeitsnacht zahlt. Manchmal müssen die Neuverheirateten direkt nach der Hochzeitzzeremonie Geschlechtsverkehr haben, und dann vor den Gästen mit dem blutbefleckten Laken erscheinen, um zu belegen, dass die Braut Jungfrau war.
Das Hymen spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte: Es bewies die Vormundschaft des Vaters über die Töchter, es drückte eine Heiligkeit aus, es war eine Quelle für die Ehre von Familien, ein Band zwischen Schuld und Unschuld, und, vor allem, ein Weg, um das Verhalten der Frauen zu kontrollieren. Seine Intaktheit bedeutete oft eine Frage von Leben und Tod.
Die Jungfrau Maria
Frühe Muttergöttinnen standen oft gerade nicht für Jungfräulichkeit, sondern im Gegenteil für weibliche Fruchtbarkeit und ausgelebte Sexualität wie die germanische Freya, die anatolische Kybele, die zyprische Aphrodite, die ägyptische Isis und die vielbrüstige Artemis.
Göttinnen der archaischen Jäger und Sammler waren Kriegerinnen und Jägerinnen mit einer aggressiven Sexualität, Raubtiere, die das geheimnisvolle Leben gaben und nahmen. Mythen wimmeln von Herrinnen der wilden Tiere wie der Bärin Artemis oder der „wölfischen“ Jagdgöttin Diana. Morrigan, die Todeskönigin der Kelten, verwandelt sich selbst in eine Wölfin.
Barbara Ehrenreich erklärt diese Bedeutung der Frau als Karnivor aus der gedanklichen Verbindung zwischen der Vagina in der Menstruation und dem blutverschmierten Maul des Raubtieres. Die Gebärmutter von Mutter Erde, aus der das Leben kommt und der Höllenschlund Satans, der es verschlingt, gehörten zusammen.
Die germanische Freya war die Göttin der Liebe, in einem explizit körperlichen Sinn. Zwei Wildkatzen zogen ihren Wagen, das Symbol der Sexualität. Denn die Katzen, deren Lustschreie die Germanen in den Wäldern hörten, standen seit jeher für die Lust der Frau.
Im Christentum wurde die Göttin Freya zur Hexe im Bund mit dem Teufel, und die heilige Katze zum Tier des Satans.
Die wohl blutdürstigste Göttin der Jetztzeit ist Kali. Sie entspringt aus der Stirn der Kriegsgöttin Durga, weil diese zornig wird. Sie vernichtet die Dämonen, kann aber ihren Blutrausch nicht stillen. In der Hand trägt sie einen Säbel und um den Hals eine Kette aus abgeschlagenen Köpfen. Sie verheißt indes zugleich Schutz und vereinigt die Gegensätze. Noch heute opfern die Hindus ihr in Kolkata – der Stadt Kalis – täglich das Blut von Ziegen, früher auch von Menschen. Die blutrote dreieckige Zunge dieser tötenden Göttin symbolisiert eine ebenso mächtige wie tödliche Vagina. Später verbindet sich Blutrot, Eros und Macht im roten Lippenstift.
Die Anhängerinnen des altgriechischen Gottes der Ekstase, Dionysos, galten nicht nur als lüstern, sie zerrissen auch angeblich Tiere und ihre männlichen Sexualobjekte. Die Frau mit ihren Blutungen war dem Geheimnis von Leben und Tod verbunden.
Von den ungezähmten Göttinnen der Antike bis zur jungfräulichen Mutter des christlichen Messias führte ein langer Weg der symbolischen Entmachtung der Frau: Ägyptische Steinfiguren zeigen zum Beispiel eine Mutter mit Kind (ca 2118-1976 Jh. v.u.Z) und eine Isis mit Horuskind (ca 9. Jh. v. u.Z), eine spätere Frauenskulptur aus Griechenland stellt Artemis von Ephesos dar, deren unbekleidete Teile aus schwarzem Marmor gefertigt sind, während die „Kleidung“ aus weißem Marmor besteht und bedeckt ist von diversen Brüsten wie Tierkörpern, darunter Ziegen, Rindern, Katzen und Hirschen. Die späte Antike formte indessen bereits ein weibliches Ideal, das sich in sexueller Treue und Mutterschaft verkörperte.
Jungfräulichkeitstest
Im christlichen wie islamischen Mittelalter spielte die Jungfräulichkeit also eine große Rolle, und es gabTests, eine Jungfrau zu erkennen – ebenso mannigfaltige wie obskure: So sollte man eine Jungfrau an der Farbe ihres Urins entdecken, der bei einer Jungfrau angelich klar war und sprudelte, oder an der Richtung, in der ihre Brüste zeigten, denn der Busen einer reinen Jungfrau richtete sich zu Gott im Himmel.
In einigen Kulturen schickt die Famile des Mädchens oder die Familie des Bräutigams, die junge Frau zu einem “Fachmann”, um ihre Jungfräulichkeit zu belegen. Ärzte und Krankenschwester werden gefragt, so genannte Jungfräulichkeits durchzuführen, also die weiblichen Genitalien zu untersuchen, um heraus zu finden, ob irgendeine sexuelle Aktion am Unterleib der Frau stattfand.
Jungfräulichkeit wie Heirat haben in solchen Kulturen also mit der privaten Intimität zweier Menschen nichts zu tun, sondern sind eine soziale Regel, in der der Frau prinzipiell misstraut wird. Das Wort der Frau, die sagt, dass sie Jungfrau ist, reicht also nicht.
In der islamischen Tradition ist die Jungfräulichkeit einer Frau die Basis für ihre Familie, für ihren zukünftigen Bräutigam und seine Familie. Muslime arrangieren deshalb häufig frühe Hochzeiten für ihre Töchter, um sicher zu stellen, dass diese Mädchen die Pubertät als jungfräuliche Bräute erleben. Der sexuelle Missbrauch von Kindern durch die erwachsenen Ehemänner gehört indessen zu diesen Kinderhochzeiten dazu.
Bahram, ein 28 Jahre alter Doktorand an der Sharif Industrial University in Teheran, erklärte diesen doppelten Standard zwischen Männern:
“Ich kenne viele gebildete Männer, die behaupten, dass Jungfräulichkeit für sie nicht wichtig ist, aber sie wollen zugleich ihre Freundinnen nicht heiraten und bevorzugen sie ausschließlich als Partnerinnen,” sagt er. Bahram fährt fort: “Einige wenige, die Nicht-Jungfrauen heirateten, sehen dies als Trumpf, den sie später gegen ihre Ehefrauen ausspielen können.”
Im Iran, einem Land mit rigidem Jungfräulichkeitszwang, stellen viele moderne Frauen ihre Partner heute vor die Wahl, ob sie es wirklich ernst meinen und sagen: “Wenn du eine Jungfrau heiraten willst, dann such dir eine andere Beziehung” und erwarten von einem vertrauenswürdigen Partner, dass er das Geheimnis der Nicht-Jungfräulichkeit mit ihnen teilt.
Jungfräulichkeitstest dienen normalerweise dazu, die Sexualität von Mädchen zu kontrollieren. Es ist ein Versuch von Männern, Frauen und von Alten die Jungen zu kontrollieren. Jungfräulichkeitstests gelten in in den meisten westlichen Ländern als sexuelle Grenzüberschreitung, aber die Praxis hält sich in vielen Ländern aus kulturellen, ökonomischen und religiösen Gründen.
Jungfräulichkeitstest gibt es in vielen Formen, von denen diverse ohne wissenschaftliche Unterstützung sind. Obwohl Ärzte die Unbrauchbarkeit des Tests belegt haben, ist der am weitesten verbreitete Test immer noch das intakte Hymen.
Medizinisch ist das Unsinn: Weder zeigt ein intaktes Hymen notwendig, dass eine Frau keinen Geschlechtsverkehr hatte, noch zeigt ein gerissenes Hymen den vollzogenen Akt. Das Hymen kann durch verschiedenste Formen von Betätigung reißen, bei Sport ebenso wie bei körperlicher Arbeit. Ebenso kann es, besonders bei sanftem Geschlechtsverkehr und einem kleinen Penis, intakt bleiben.
Dennoch ist der Glaube weit verbreitet, dass das Hymen beim ersten Verkehr reißt und Blutungenverursacht. Bei den Sinhalas in Sri Lanka gehört es zum Beispiel zur Hochzeit, dass die Schwiegermutter ein weißes Laken bereit stellt, auf dem das Paar die Hochzeitsnacht vollziehen muss, und dieses Laken muss den Schwiegereltern als Beweis vorgelegt werden.
In einigen Teilen Südafrika nehmen Jungfräulichkeitstests als Antwort auf die AIDS-Epidemie zu. Frauen sind überdurchschnittlich von AIDS betroffen und Jungfräulichkeitstests an Mädchen und jungen Frauen sollen zeigen, ob es ungefährlich ist, mit ihnen Sex zu haben.
Allerdings wird in Südafrika nicht nur das Hymen untersucht; “Tester” glauben auch, sie könnten die Jungfräulichkeit eines Mädchens durch die “Unschuld” in ihren Augen erkennen oder die Stärke ihrer Muskeln hinter dem Knie. Kommunen begannen auch, Jungen zu testen, weil der Fokus auf die Mädchen als diskriminierend galt: Jungen müssen unter anderem über eine meterhohe Mauer pinkeln, ohne die Hand zu benutzen, oder ihre “Jungfräulichkeit” soll sich an der Dicke der Stirn zeigen.
Ein gefährlicher Brauch grassiert im Süden Ugandas: Einheimische glauben, dass ein AIDS-Kranker sich heilen könnte, indem er eine Jungfrau penetriert. Die Opfer werden also nicht nur vergewaltigt, sondern oft auch mit HIV infiziert.
Unverheiratete Frauen, die sich Jungfräulichkeitstests unterziehen, erzählen gewöhnlich von Unfällen. Sie erzählen zum Beispiel, sie seien von Bäumen oder Fahrrädern gefallen oder ein Stock hätte sich ihnen zwischen die Beine gerammt.
Die Analyse dieser Stories zeigt sehr klar, dass diese Frauen sich in eine Position stellen, in der sie nicht für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit verantwortlich sind. In Kulturen, in denen Frauen als das verantwortliche Böse mit einer omnipotenten Sexualität gelten, und dafür ebenso kontrolliert wie bestraft werden, ist es nicht verwunderlich, dass Frauen die Rolle der Unverantwortlichen spielen.
Ein Frauenarzt, der Hymenoperationen vornimmt, sagt, dass die meisten Mädchen, die zu ihm kommen, unbegleitet sind und sich schämen, dass sie Sex hatten:
“Viele von ihnen flüchten in Lügen, wie in die, dass sie aus großer Höhe auf den Boden sprangen oder von ihren Vätern geschlagen wurden,” sagt er.
Jungfräulichkeits-Operationen
“Hymenoplasty”, so der englische Fachbegriff, bezeichnet einen chirugischen Eingriff, um ein zerrissenes Hymen zu rekonstruieren, was hilft, die “Jungfräulichkeit” wieder her zu stellen, indem das Hymen repariert wird, um so die Heiratsfähigkeit in einem kulturellen Kontext zu gewährleisten, in dem weibliche Unberührtheit gefordert wird. Bei dieser Operation werden die Reste des Hymens zusammen genäht, ein Kapsel mit Flüssigkeit wird eingesetzt mit blutähnlicher Konsequenz, um beim nächsten Geschlechtsverkehr eine Blutung vorzutäuschen.
Eine Frau, die sich einer solchen Operation unterzieht, bringt sich in Gefahr. Solche Operationen sind in Ländern mit Jungfräulichkeitszwang selbst verständlich illegal und finden in unsauberen Hinterhofskliniken statt, die viele Risiken birgen. Wenn die Operation fehl schlägt oder sich als uneffektiv erweist, kann die Frau keine legalen Handlungen unternehmen, um den Arzt zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Geheimhaltung ist ein Grund für hohe Kosten solcher Operationen, und damit werden sie zu einem lukrativen Geschäft für Gynäkologen. Der andere Grund für die hohen Kosten ist der ökonomische Wert eines intalten Hymens. Ein wieder hergestelltes Hymen stellt auch den materiellen Wert der Jungfräulichkeit wieder her, er sichert die Heiratsfähigkeit der Frau. Ein Hymen zu reparieren ist also eine wertvolle Investition, um sich einen Ehemann zu sichern und eine “Karriere” als Ehefrau zu starten.
Dies ist insbesondere wichtig, weil Jungfräulichkeitszwang generell in Gesellschaften gilt, in denen unverheiratete Frauen nicht nur einen niedrigen sozialen Status haben, sondern auch kaum Aussichten, einen qualifizierten Beruf zu ergreifen, und in denen außerdem die Familie, und nicht der Sozialstaat, die Basis der wirtschaftlichen Sicherheit darstellt.
In den letzten Jahrzehnten stieg der Bedarf nach chirugischen Hymenreparaturen im Nahen Osten und in islamischen Communities in westlichen Ländern stark an und ging einher mit dem Aufstieg des islamischen Fundamentalismus und sozialen sozialen Konservativismus in diesen Regionen. Berichte zeigen zum Beispiel eine alarmierende Rate von reataurativer Hymenchirugie in Tunesien, besonders in den Sommermonaten, der Heiratssaison.
Restaurative Hymenchirugie gehört zu einem kulturellen Kontext, der Frauen diskriminiert. Nur Frauen werden für vorehelichen Sex bestraft, indem sie sich Sorgen um ihre Jungfräulichkeit machen müssen und für teure Operationen bezahlen müssen, um das Jungfernhäutchen wiederherzustellen, um so “rein” zu bleiben.
Die plastische Hymenchirugie zeigt so die Schwäche und den niedrigen sozialen Status der Frauen in ihrer Gesellschaft und ihre Not, auf solche Operationen zurück zu greifen – die Ursache dafür sind extreme harte und diskriminierende kulturelle Werte.
Künstliche Jungfernhäutchen
Das künstliche Hymen ist ein kleines Plastikteil, das bei der Penetration eine Blutung vortäuscht. Es ist auch bekannt als “Chinese hymen” oder “fake hymen”. Es setzt eine Flüssigkeit frei, die wie Blut aussieht, wenn ein Penis es durchstößt.
Der Jungfräulichkeitskult produziert notwendig eine Kultur des Betrugs. Vorgetäuschte Jungfräulichkeit ist das Produkt der sozialen Degradierung von Frauen bis zu einer Frage von Leben und Tod, Ehre und Schande, Heirat oder sozialer Isolation, Respekt oder Mord. Das künstliche Hymen drückt einen Überlebensinstinkt aus. Insofern ist es ein kleiner Preis, die Hymenrestauration zu bezahlen verglichen mit einem Leben in sozialer Ächtung oder sogar dem Tod.
Eine Betroffene sagt: “Ich fühle mich nicht gut damit, ihn zu belügen. Ich mag es nicht, unser gemeinsames Leben mit einer Lüge zu beginnen. Aber ich denke, ich muss lügen, um die Beziehung zu schützen. Ich bin nicht in der Lage, mit meinen Eltern über die Operation zu reden. Ich will diese Operation nicht, aber ich habe keine Wahl.”
Eine Kultur der Unwahrheit ist das unausweichliche Resultat des Kultes um die weibliche Jungfräulichkeit. Frauen ist es in diesen Gesellschaften verboten, selbstbestimmt Sex zu genießen, es ist geächtet und wird brutal bestraft. Selbst bestimmte Sexualität von Frauen beschmutzt in diesem Glauben die Ehre der Familie und gefährdet direkt die männliche Kontrolle im patriarchalischen Sinn.
Jungfräulichkeit im Islam
In einer islamischen Gesellschaft ist die Jungfräulichkeit eines Mädchens mehr wert als ihr Leben. Sie muss die Jungfräulichkeit bewahren, und der Verlust ihrer “Unschuld” gilt als ihre Schuld, sogar nach einer Vergewaltigung.
Die Teilnahme von Mädchen an Sport und Spielen ist eingeschränkt, um das Hymen intakt zu halten. Viele Eltern bestrafen ihre Töchter dafür, die Genitalien zu berühren, weil sie fürchten, dass sie das Jungfernhäutchen durch Masturbation beschädigen.
Die islamischen Gesetze, die die Sexualität regeln, sind starr und ändern sich nicht, wenn sich in der Alltagskultur die Werte der Gesellschaft ändern. Jungfräulichkeit zur Zeit der Hochzeit ist ein zentrales Element der islamischen Moral.
Im Koran steht im Appendix 34: “Sons and daughters of the true believers must be taught that their happiness throughout their lives depends on following God’s law and preserving their chastity. This means that they must keep themselves for their spouses only, and never allow anyone else to touch them in a sexual manner”, (Quran the Final Testament, by Rashad Khalifa, PhD).
Islamischen Lehrern zufolge schuf Allah das Hymen, um den Wert des Geschlechtsverkehrs nach der Hochzeit zu demonstrieren. Das Hymen macht demzufolge Frauen klar, dass sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe Perversionen gegen einen heiligen Akt und somit unrein sind.
Von Frauen wird hingegen im allgemeinen erwartet, dass sie als Jungfrauen in eine Ehe eintreten. Der in allen islamischen Ländern sehr auffällige “Jungfräulichkeitskult” findet auch von Seiten der Theologen Unterstützung: Sie argumentieren damit, dass es eine allgemein menschliche Neigung ist, Angenehmes in immer wieder derselben Weise haben zu wollen. Daraus folgert man, dass eine Frau, die vorher einen anderen Partner gehabt hat, mit ihrem späteren nicht zufrieden sein könnte. Feministische Autorinnen, wie etwa die Marokkanerin Fatima Mernissi, sehen darin allerdings schlicht und einfach “die Angst des Machos vorm Vergleich”.
Jungfräulichkeit und geschlechtliche Gewalt
In der Antike erscheint Jungfräulichkeit als exklusive weibliche Tugend. Das Christentum erklärte diese Tugend theologisch: Jungfrauen konnten demnach im Himmel größere Wertschätzung erwarten als verheiratete Frauen. Sklavinnen, deren Jungfräulichkeit belegt war, erzielten höhere Preise; Pubertät und sexuelle Initiation war Jungen vorbehalten.
In Arabien gelten unbeschnittene Mädchen als unrein. Mädchen wird gelehrt, dass ihre wichtigste Mission im Leben ist, bis zur Hochzeit Jungfrauen zu bleiben. Wenn sie es nicht tun, töten die Väter sie in manchen Fällen oder schicken sie in Heime.
Frauen, die ihre Jungfräulichkeit verloren, wenn sie nicht verheiratet waren, verloren das Recht auf Besitz. Das machte ihr Leben extrem schwer und zwang viele dieser Frauen zur Prostitution.
In manchen Teilen der Welt gibt es “Ehrenverbrechen”: Frauen, die ihr Jungfräulichkeit vor der Hochzeit verlieren können von ihrer Familie geschlagen oder getötet werden. Die Rechtfertigung dafür ist allein, dass Vater, Bruder oder ein anderer männlicher Verwandter denken, dass sie etwas “Unrechtes” getan hat.
Schwanger zu werden ist in islamischen Gesellschaften das Schlimmste, was einem unverheirateten Mädchen passieren kann, denn Schwangerschaft außerhalb der Ehe verursacht große Scham bei seinen Eltern, Brüdern, Onkeln und allen Männern der Großfamilie. Gewöhnlich wird dieses Mädchen ermordet. Wenn es eine Möglichkeit gibt, treibt das Mädchen ab, um die Schwangerschaft zu verheimlichen und um die “Ehre” der Familie zu schützen.
Wenn eine Nicht-Jungfrau heiratet, wird sie niemals die Ehe genießen, denn wann immer Probleme auftauchen, wird sie jedesmal daran erinnert, dass sie heiratete, nachdem sie ihre Jungfräulichkeit verlor, und das verursacht Schmerz und Leid.
Mehri, die in Teheran lebt und zu ihrem Ehemann vor der Hochzeit ehrlich zugab, ihre Jungfräulichkeit verloren zu haben, sagt: “Ich heiratete einen Mann aus einer linken Partei, der behauptet, nicht religiös zu sein. Als ich sagte, dass ich keine Jungfrau mehr bin, akzeptierte er das. Ich war sehr glücklich, dass ich mit einem so offen denkenden Mann verheiratet war. Das Leben nach der Hochzeit bekam für mich ein anderer Gesicht, denn bei jedem Streit mit ihm und seiner Familie erinnerte er mich daran, dass ich vor der Ehe keine Jungfrau war. Diese Geschichte hielt bis jetzt an, wo wir einen 12 Jahre alten Sohn haben.”
Muslime sehen Sex als ein gesegnetes Geschenk Allahs. Sie glauben, dass der starke sexuelle Trieb der Menschen kontrolliert werden sollte und nur in der Ehe genossen werden. Muslime sollen sich “züchtig” anziehen, und keine Kleidung tragen, die andere Menschen erregen könnte. Sex vor der Hochzeit ist verboten.
In den meisten islamischen Ländern wird dieses Verbot umgangen, zum Beispiel, indem Mädchen analen Sex haben, um ihre geheiligte Jungfräulichkeit zu schützen.
Iran
Wie die Metropolen in vielen Ländern ist Teheran, die Hauptstadt des Iran, wesentlich entspannter in sexuellen Dingen vor der Ehe als die Kleinstädte und Dörfer Irans, wo Sex außerhalb der Ehe wederdiskutiert wird noch als Option am Horizont steht.
Auch in Teheran sind Abtreibungen indessen illegal und Verhütungsmittel schwer zu finden, Mädchen reden sogar mit ihren besten Freunden nicht darüber, wenn sie Sex haben und sexuelle Erziehung in der Schule besteht aus purer Biologie.
Wenn ein erwachsenes Paar sich entschließt, zu heiraten, muss es Kurse belegen, wo es über Sex aufgeklärt wird, aber in den Schulen ist Sex überhaupt kein Thema, es sei denn ein Lehrer sieht es als seine Pflicht, aufzuklären.
Junge Menschen, besonders Mädchen, leben gewöhnlich mit ihren Eltern zusammen, bis sie verheiratet sind, was ihre Freiheiten massiv einschränkt. Es ist auch illegal, ein Hotelzimmer ohne Heiratsdokument zu mieten – übrig bleiben für Sex nur öffentliche Orte, was extrem riskant ist, oder ein leeres Haus, wenn die Eltern verreisen.
Wie die meisten Mädchen in ihrer Nachbarschaft ist Tahmineh zum Beispiel eine Jungfrau, In ihrer Welt wird Jungfräulichkeit verlangt. Für die Männer in ihrem Umfeld ist weibliche Jungfräulichkeit eine nicht verhandelbare Voraussetzung zur Heirat. Sogar bei den reicheren Klassen, die “westlicher” leben und Parties mit Alkohol und Musik feiern, schlafen sich nur die Männer durch die Gegend, während sie für die Hochzeit eine “Reine” erwarten.
Saudi Arabien
In Saudi Arabien gilt es als Tragödie, wenn eine junge Frau ihre Jungfräulichkeit verliert. Ihre Chancen, einen akzeptablen Bräutigam zu finden, sinken gegen Null, sogar, wenn sie nur im Verdacht steht, keine Jungfrau mehr zu sein. Wenn ein Verlust der Jungfräulichkeit bekannt wird, wird nicht nur die junge Frau geächtet, sondern auch ihre Familie. Der Familie wird vorgeworfen, keine Kontrolle über ihre Tochter zu haben oder ihr den Unterschied zwischen richtig und falsch nicht erklärt zu haben.
Egal, wie eine Frau ihre Jungfräulichkeit vor der Hochzeit verliert, es ist immer ein Disaster. Wenn ein Mann keine Geschiedene oder Witwe heiratet, wird Blut auf den Laken am Tag nach der Hochzeitsnacht erwartet. In einigen traditionellen Familien werden die Laken gesammelt und ausgestellt als Teil der Feier und als Beleg, dass die Ehe vollzogen wurde, was die Familien vereint und die Reinheit der Frau illustriert.
Der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe schuf einen Schwarzmarkt in und außerhalb Saudi Arabbiens. Weil es illegal ist, obliegt es ausländischen Ärzten und Schwestern, das Hymen wiederherzustellen, damit ihr Blut in der Hochzeitsnacht fließt.
Die Hymen-Restauratoren sind sich der Risiken bewusst, die sie durch solche Dienstleistungen eingehen: Sie können ins Gefängnis geworfen und aus dem Königreich verbannt werden. Ihr Verdienst und bei einigen ihr Mitgefühl mit den Frauen bringt sie dazu, diese Gefahr einzugehen.
Diese Ärzte arbeiten nach mündlichen Absprachen und sind sehr misstrauisch gegenüber jedem, der sie über ihr Handy um Hilfe bittet. Sie nutzen Pre-Paid Telefone und hinterlassen keine Spuren, die auf ihre wahre Identität hindeuten. Die meisten haben kein Büro, und es gibt keine Garantie, dass sie in einer sterilen Umgebung operieren.
Ahmad, ein junger Saudi-Bräutigam, sagt über sein Gefühl in der Hochzeitsnacht:
“Ich war geschockt, zu sehen, dass es kein Blut gab, nachdem ich mit ihr schlief. Ich brachte sie zum Krankenhaus, um mich zu überzeugen, ob sie Jungfrau war oder nicht. Ich war so wütend, dass ich aus dem Schlafzimmer rannte und die Familie der Braut reif, um mir die Ursache zu erklären. Die Familie versprach, mir zu assistieren, um heraus zu finden, was los war. Ich brachte sie zu einer Untersuchung. Der Arzt im Krankenhaus sagte mit, dass meine Braut ein genitales Problem hätte, dass aber unser sexuelles Leben nicht gefährde. Ich brachte die Braut nach Hause. Nur einige Worte des Arztes bewahrten unsere Ehe.”
Türkei
Jungfräulichkeit ist in der Türkei ein hohes Gut, sowohl wegen der Position der Jungfräulichkeit im Islam wie in der türkischen Tradition. Türkische Jugendliche sehen Jungfräulichkeit deshalb als wichtigen Wert, besonders für Frauen; allerdings änderten sich die Ideen und Sichtweisen der jungen Türken und Türkinnen in den letzten Jahrzehnten.
Wie im Iran und Saudi Arabien gilt Jungfräulichkeit vor der Hochzeit als Besitz der Familie, um ihre Ehre zu schüzen. Eine Frau, die vor der Ehe Geschlechtsverkehr hat, gilt als ehrlos. Zugleich ist sexuelle Promiskutivität ein Sport für Männer. Mehr noch: Ein Mann, der sich vor der Ehe nicht “ausgetobt” hat, gilt nicht als richtiger Mann.
Die patriarchalische Kontrolle über die Körper der Frauen wird in der Türkei über Codes von Ehre und Scham hergestellt. Ehre fußt in der Legitimation des Paternalismus und gehört vor allem den Männern. Die Ehre eines Mannes definiert sich darüber, das unversehrt zu halten, was als sein Besitz gilt – und dazu gehört die Jungfräulichkeit seiner Tochter oder Schwester.
In einer Kultur wie der Türkei, wo die Familienbeziehungen sehr stark sind und die Familie über dem Individuum steht, sind Beziehungen patriarchalisch. Die Unberührtheit der Frau vor der Hochzeit ist keine individuelle Entscheidung, sondern Sache der Familie. Die Körper der Frauen werden von der Familie kontrolliert. Die Jungfräulichkeit der Frau ist also keine persönliche Angelegenheit, sondern ein soziales Phänomen.
Wie in Saudi Arabien und dem Iran, greifen Frauen in der Türkei zu chirugischer Hilfe, um das Jungfernhäutchen zu “reparieren”. Durch diese “künstliche Jungfräulichkeit” wird sie wieder “rein”, und ihre Familienehre ist wiederhergestellt.
Obwohl kulturelle, historische, ökonomische und andere Faktoren Jungfräulichkeitstests in der Türkei tradieren, verdammt die Türkische Medizinische Vereinigung solche Prüfungen als Form der sexuellen Gewalt. 1999 verbot die Türkei Jungfräulichkeitstests, nachdem fünf Mädchen Selbstmord begangen hatten, indem sie Rattengift nahmen, um dem Test zu entgehen. Ein weiteres Mädchen ertränkte sich.
2001 erlaubte jedoch der türkische Gesundheitsminister Jungfräulichkeitstests für Schülerinnen in Pflegeberufen. Diejenigen, die durchfielen, wurden von der Schule verwiesen. Es gab einen öffentlichen Aufschrei gegen die Tests, und 2002 schloss die türkische Regierung eine Gesetzeslücke, die Schulleitern erlaubt hatte, zu untersuchen, ob Mädchen Jungfrauen waren. In der seit Atatürk laizistischen Türkei ist Jungfräulichkeit eine kulturelle und islamische Tradition und kein Gesetz des Staates – im Unterschied zu islamistisch regierten Ländern wie Iran und Saudi Arabien.
Der “kalte Putsch” des Islamisten Erdogan, mit dem Zeil die laizistische Türkei in einen islamischen Gottesstaat zu verwandeln, verschärft jedoch den Druck auf Frauen, die selbst bestimmt ihre Sexualität leben, und, wenn die fortschrittlichen Kräfte des Landes der islamischen Diktatur nicht entgegen stehen, erwartet Frauen, die ihre Körperlichkeit leben, ein ähnlicher Horror wie in Saudi Arabien. (Von Somayeh Ranjbar, übersetzt aus dem Englischen von Dr. Utz Anhalt)
Quellen:
http://www.esextherapy.com/dissertations/Hajrullah%20Fejza%20MD%20MPH%20Virginity%20Features%20And%20Concepts%20In%20Kosovo%20Society.pdf
http://yoksis.bilkent.edu.tr/pdf/files/10.1016-S0277-5395(96)00096-9.pd
http://www.stopvaw.org/harmful_practices_virginity_tests
The Virginity Trap in the Middle East, David Ghanim, 2015, New York
http://www.biu.ac.il/Besa/GapofValues.pdf
http://americanbedu.com/2010/12/31/saudi-arabia-a-black-market-trade-for-saudi-women/
http://yoksis.bilkent.edu.tr/pdf/files/10.1016-S0277-5395(96)00096-9.pdf
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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