Exzessives Shoppen: Diagnostische Kriterien für Kaufsucht ermittelt
Laut Fachleuten sind etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung stark kaufsuchtgefährdet. Bei Betroffenen besteht wiederholt ein Kontrollverlust beim Einkaufen, der in Kaufattacken – häufig von Dingen, die gar nicht benötigt werden – mündet. Zwar ist die sogenannte Kaufsucht noch keine eigenständige Diagnose, doch dies könnte sich womöglich künftig ändern.
Wie auf dem öffentlichen Gesundheitsportal Österreichs „Gesundheit.gv.at“ erklärt wird, zählt Kaufsucht zu den nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten. Sie tritt insbesondere in Konsumgesellschaften auf. Die Diagnose „Kaufsucht“ hat nach wie vor noch keinen Eingang als eigenständige anerkannte Erkrankung in die Krankheitsmanuale gefunden, doch ein deutsch-australische Forschungsteam hat jetzt die diagnostischen Kriterien für Kaufsucht ermittelt.
Noch immer keine anerkannte psychische Störung
Laut einer aktuellen Mitteilung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ging das Phänomen „krankhafte Kauflust“ bereits vor mehr als 100 Jahren in die psychiatrische Fachliteratur ein. Aber bis heute ist Kaufsucht noch immer keine anerkannte psychische Störung.
Damit sich dies ändert, hat ein deutsch-australisches Forschungsteam unter Federführung der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie 138 Expertinnen und Experten aus 35 Ländern befragt, die zum Thema Kaufsucht wissenschaftliche Arbeiten in begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht haben.
Im Rahmen dieser internationalen Studie haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Vorschlag für diagnostische Kriterien entwickelt. Langfristiges Ziel der Fachleute ist, dass Kaufsucht als eigenständige psychische Störung in das weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD) aufgenommen wird.
Dies ist Voraussetzung, damit Krankenversicherungen eine Behandlung in ihren Leistungskatalog aufnehmen und die Kosten dafür erstatten.
Etwa fünf Prozent der Erwachsenen hierzulande gefährdet
Den Angaben zufolge gelten etwa fünf Prozent der Erwachsenen in Deutschland gelten als Kaufsucht gefährdet.
„Diese Menschen haben einen unwiderstehlichen Kaufdrang, und sie konsumieren, um ihre Gefühle zu regulieren“, erläutert Professorin Dr. Dr. Astrid Müller, Leiterin der Arbeitsgruppe Substanzungebundene Abhängigkeitserkrankungen der Klinik. Dort existiert schon seit 2012 ein Angebot für eine ambulante Gruppentherapie, um die Kaufsucht zu behandeln.
„Solche Hilfen gibt es derzeit aber nur in Spezialambulanzen“, sagt die Forscherin. Niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxen fehle dagegen häufig nicht nur das Fachwissen zu Diagnose und Behandlung, sondern sie könnten Therapien derzeit auch nur privat abrechnen.
Und dies ist für Kaufsüchtige besonders problematisch. „Die exzessiven Kaufgewohnheiten führen im Laufe der Zeit ja nicht nur zu psychischen und sozialen, sondern auch zu erheblichen finanziellen Schwierigkeiten“, betont die Expertin.
Kriterien für die Diagnose Kaufsucht
Die Studie schafft laut den Fachleuten die Voraussetzungen, um diese Probleme zu lösen. Den Angaben zufolge wurde sie nach der Delphi-Methode erstellt, einem systematischen, mehrstufigen Befragungsverfahren.
„Wir haben international renommierte Expertinnen und Experten aus den Bereichen Psychologie, Medizin, Gesundheitswissenschaften (Public Health) sowie Konsum- und Marketingwissenschaften in mehreren Runden befragt und aus den Rückmeldungen Schritt für Schritt Vorschläge erarbeitet, welche Kriterien für die Diagnose Kaufsucht wichtig seien könnten und in welchem Bereich man sie einordnet“, so Dr. Nora Laskowski, Wissenschaftlerin an der Klinik und gemeinsam mit Professorin Müller Erstautorin der Studie.
Die Expertin musste dafür zunächst mühsam Hunderte Forschungspublikationen zum Thema Kaufsucht sichten, um die Autorinnen und Autoren herauszusuchen und daraus eine Expertinnen- und Expertengruppe zu ermitteln. „Allein diese Liste zusammenzustellen hat Monate gedauert“, erklärt Dr. Laskowski.
Therapieangebot für Betroffene vergrößern
Auch sprachliche Barrieren mussten beachtet werden. „Wir mussten uns auf einheitliche, möglichst neutrale Beschreibungen und Begriffe einigen“, sagt die Forscherin. Das fängt schon beim Namen für die Krankheit an. Die Fachleuterunde einigte sich auf Buying-Shopping Disorder, also eine Kauf-Shopping-Störung.
Ihre Kennzeichen sind unter anderem eine eingeschränkte Kontrolle bis hin zum völligen Kontrollverlust über den Warenkonsum sowie eine zwanghafte gedankliche Beschäftigung mit Einkaufen. Kaufsucht resultiert in massiven negativen Folgen: dazu gehören neben Verschuldung auch familiäre Probleme, psychische Belastungen sowie eine deutlich reduzierte Lebensqualität.
„Auf Grundlage unserer Empfehlungen kann jetzt ein diagnostischer Interviewleitfaden entwickelt werden, mit dem eine valide Diagnose gestellt und der Schweregrad einer Kauf-Shopping-Störung gemessen werden kann“, so Professorin Müller.
Damit der Kriterienkatalog in die ICD-Klassifikation aufgenommen wird, muss er zuvor aber auf seine praktische Tauglichkeit an Patientinnen und Patienten getestet werden. Gelingt der Nachweis, wäre das ein Meilenstein für Menschen mit Kaufsucht. Als anerkanntes Störungsbild würde sich das Therapieangebot für Betroffene enorm vergrößern.
Und auch die Forschung zur Kaufsucht käme so einen großen Schritt voran. „Wenn alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach einheitlichen Kriterien arbeiten, werden auch die Ergebnisse der Studien vergleichbarer“, hebt die Psychologin hervor.
Die Studie ist in der renommierten Fachzeitschrift „Journal of Behavioral Addictions“ erschienen. Neben der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie unter der Leitung von Professorin Dr. Martina de Zwaan waren auch die Universität Duisburg-Essen, die Technische Universität Dresden sowie australische Universitäten in Adelaide und Canberra beteiligt. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Medizinische Hochschule Hannover: Kaufsucht: Auf dem Weg zur anerkannten Krankheit, (Abruf: 25.09.2021), Medizinische Hochschule Hannover
- Astrid Müller, Nora M. Laskowski, Patrick Trotzke, Kathina Ali, Daniel B. Fassnacht, Martina de Zwaan, Matthias Brand, Michael Häder & Michael Kyrios: Proposed diagnostic criteria for compulsive buying-shopping disorder: A Delphi expert consensus study; in: Journal of Behavioral Addictions, (veröffentlicht: 13.04.2021), Journal of Behavioral Addictions
- Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: www.gesundheit.gv.at: Kaufsucht: (Abruf: 25.09.2021), Gesundheit.gv.at
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.