Deutsche Kinder und Senioren schlucken zu viele Pillen
12.06.2013
Die Barmer GEK veröffentlichte am gestrigen Dienstag den Arzneitmittelreport 2013, der Daten von 2,1 Millionen Versicherten über einen Zeitraum von 65 Jahren auswertet. „Wir haben viele vernünftige Versorgungsstrukturen gefunden. Wir haben auch die Anwendung von vielen sinnvollen und sicher wirkenden Arzneimittel gefunden, wir haben allerdings auch Über- und Fehlversorgung gefunden.“, fasst Versorgungsforscher Prof. Gerd Glaeske die Erkenntnisse der Untersuchung zusammen. Die größten Probleme der deutschen Arzneimittel-Landschaft sind demnach zum einen die Polypharmazie älterer Versicherter und zum anderen die gestiegenen Verordnungszahlen von Antipsychiotika bei Kindern und Jugendlichen.
Ältere Menschen leiden unter Polypharmazie
Von Polypharmazie ist die Rede, wenn täglich mehr als fünf Arzneimittelwirkstoffe eingesetzt werden. Diese Problematik betrifft laut Arzneimittelreport 2013 ein Drittel aller Versicherten. Unter den Hochbetagten im Alter von 80 bis 94 Jahren ist sogar die Hälfte betroffen. „Im Durchschnitt nehmen Männer über 65 Jahre täglich 7,3 Wirkstoffe ein, bei Frauen dieser Altersgruppe sind es 7,2“, schreibt die Barmer GEK. Glaeske betont: "Wir sprechen in der Pharmakologie davon, dass man relativ gut drei bis vier Wirkstoffe aushalten kann."
Grund dieser Überversorgung sei die Tatsache, dass über 65-Jährige durchschnittlich vier Ärzte hätten: einen Allgemeinarzt, einen Augenarzt, einen Orthopäden sowie bei Frauen einen Gynäkologen und bei Männern einen Urologen. Sie würden jeweils mehrere Medikamente verschreiben. Die Polypharmazie sei insofern „ein Hinweis darauf, dass zwischen den Ärzten eine regelmäßige Unkoordiniertheit herrscht“, erklärt Glaeske.
Laut Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, ließe sich die riskante Multimedikation jedoch mittels elektronischer Hilfsmittel verhindern. Er betont: „Wir brauchen dringlichst die elektronische Versicherungskarte. Wir brauchen dringlichst das elektronische Rezept. Und wir brauchen auch dringlichst die elektronische Patientenkarte.“ Seine Kritik gilt hiermit insbesondere Funktionären der Ärzteschaft, die sich seit Jahren gegen dessen Einführung sträuben. Sie sollten ihre ablehnende Haltung endlich aufgeben, so Schlenker. „Es müsse endlich Schluss sein mit der Blockadepolitik namhafter Ärztefunktionäre gegen eine moderne Telematikinfrastruktur“, schreibt auch die Barmer GEK. Sie empfiehlt älteren Menschen „ihre Medikamente in der Apotheke auf Wechselwirkungen prüfen zu lassen“.
Einnahme von Antipsychiotika bei Kindern steigt dramatisch
Ebenso dramatisch erscheint die Entwicklung der Verordnungszahlen von Antipsychiotika bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind zwischen 2005 und 2011 um 41 Prozent gestiegen, ermittelt der Arzneimittelreport 2013. „Verursacht werden die Zuwächse vor allem durch neuere Präparate (+ 129 Prozent)“, leicht rückläufig sind hingegen die Veordnungszahlen älterer Medikamente. Der genauere Blick auf die betroffenen Altersgruppen zeigt ein deutliches Bild: „Bei Kleinkindern bis vier Jahren verschreiben Ärzte kaum noch Antipsychotika. Bei allen anderen steigen die Verordnungszahlen, am stärksten bei den 10- bis 14-Jährigen“, so die Barmer GEK. Problematisch ist dieser Anstieg insbesondere weil sich dafür laut Glaeske keine medizinische Erklärung herleiten lässt. Die Barmer GEK erklärt: „Weder zeigten Studien einen Anstieg psychiatrischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, noch hätten sich die relevanten Therapieempfehlungen geändert.“
„Und wenn das dann mit den Retalins und ähnlichen Arzneimitteln alleine nicht funktioniert, dann scheint man auf einmal sehr starke Beruhigungsmittel dazuzugeben“, versucht sich Glaeske an einer Erklärung. Auf diesem Weg wolle man die Kinder offenbar an den gesellschaftlichen Rahmen anpassen in dem sie leben. Problematisch sei, dass Antipsychiotika zum Teil schwerwiegende Nebenwirkungen aufweisen. Laut Glaeske zählen hierzu unter anderem Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Gewichtszunahme. Ein Drittel der Kinder bekommen neben Psychopharmake auch Mittel gegen ADHS, trotz wenig schwerwiegender Diagnosen – für die beteiligten Forscher ein unerklärliches Problem.
Pharma-Unternehmen verweisen auf PRISCUS-Liste und FORTA-Klassifikation
Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen entgegnet diesen Vorwürfen gelassen. Das mit dem Alter ansteigende Risiko für Krankheiten wie Bluthochdruck, Schlaganfall oder Osteoporose bedingt die größere Anzahl medikamentöser Behandlungen, heißt es in einer Erklärung. „Für die Patienten ist es ein Segen, dass man diese Krankheiten inzwischen medikamentös behandeln oder ihnen vorbeugen kann.“ Auch der Pharma-Verband weist jedoch darauf hin, dass bei älteren Menschen eine besonders hohe Sorgfalt notwendig ist. „Die gleichzeitige Anwendung mehrerer Medikamente muss sorgfältig geplant werden, damit es nicht zu vermeidbaren Wechselwirkungen zwischen Präparaten kommt, die dazu führen, dass die Therapie nicht ausreichend wirkt oder schlecht vertragen wird.“
Oft lassen sich mögliche Wechselwirkungen von den „Wirkprinzipien und Abbauprozessen der Medikamente“ ableiten, als weitere Maßnahme würden diese im Rahmen klinischer Studien getestet. Außerdem handele es sich bei den auftretenden Wechselwirkungen in der Regel um bekannte Wechselwirkungen, nur „selten handelt es sich um in der Medizin noch unbekannte Effekte“. Um Ärzte bei der Behandlung ältere Patienten zu unterstützen, hätten Mediziner darüber hinaus Hilfsmittel wie die PRISCUS-Liste und die FORTA-Klassifikation erstellt. „Beide Handreichungen sind dazu gemacht, dass ältere Patienten eine gute Behandlung erhalten und unnötige Risiken vermieden werden.“ Der Pharma-Verband hoffe, dass diese Hilfsmittel in Zukunft stärker eingesetzt werden. (lb)
Bild: Andrea Damm / pixelio.de
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