Essentielle neue Einsichten in die Physiologie von Tumoren
Bereits im alten Ägypten war bekannt, dass verhärtete Knoten in der Brust mit der Entstehung einer Krankheit verbunden sind, die wir heute als Krebs bezeichnen. Dass Tumore sich jedoch als harte Knoten erfühlen lassen, war bislang ein Paradox in der Medizin, da Krebszellen sogar weicher sind als gesunde Zellen. Dieses Rätsel konnte nun gelöst werden.
Forschende der Universität Leipzig erlangten im Rahmen einer aktuellen Studie neue Einblicke in die Biologie von Krebszellen. Die Erkenntnisse, die kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Nature Physics“ vorgestellt wurden, tragen zu einem besseren Verständnis von Metastasen-Bildung bei.
Abtasten ist eine Jahrtausende alte Praxis
Aus Funden alter Papyrus-Schriften wird überliefert, dass schon die alten Ägypter das Abtasten der Brust nach Knötchen genutzt haben, um Tumore aufzudecken. Auch heute noch ist diese Methode gängig bei der Brustkrebsdiagnose.
Rätselhaft blieb bislang jedoch, warum sich Tumore überhaupt als harte Knoten erfühlen lassen. Denn ihre Physiologie würde anderes erwarten lassen.
Krebszellen sind weicher als gesunde Zelle
Messungen einzelner Krebszellen haben ergeben, dass diese weicher sind als gesunde Epithelzellen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass diese Eigenschaft die Bildung von Metastasen im dichten menschlichen Gewebe erleichtert. Paradox ist daher, dass Tumore sich als harte Knoten erfühlen lassen.
Krebszellen können bislang unbekannten Zustand annehmen
Diesem scheinbaren Widerspruch ist nun eine internationale Arbeitsgruppe unter der Leitung der Universität Leipzig auf den Grund gegangen. Die Forschenden konnten erstmals nachweisen, dass Krebszellen einen bislang unbekannten Zustand annehmen können.
Hart und weich zugleich
Um Metastasen in einem gesunden Gewebe zu bilden, müssen sich Krebszellen zum einen durch gesundes Gewebe bewegen können und zum anderen einen mechanisch stabilen Widerstand erzeugen, um das gesunde Gewebe zu verdrängen.
Laut der aktuellen Studie gelingt bösartigen Krebszellen dieses Spagat, indem sie einen Cluster aus einem harten Kern bilden, der umgebende von weichen Zellen ist. Die Forschenden vergleichen diese Cluster mit Inseln in einem See.
Die „Inseln“ bestehen aus wenigen steifen und unbeweglichen Zellen, die von vielen weichen Zellen umgeben sind. Der gesamte Cluster kann sich auf diese Weise so ähnlich wie Flüssigkeit bewegen.
„Patientenproben von Brust- und Gebärmutterhalstumoren zeigen ein größeres Spektrum an mechanischen Eigenschaften, durch die sich die Krebszellen in Richtung weicherer Zellen verschieben, obwohl der gesamte Tumor eine feste Masse bleibt“, kommentiert Dr. Thomas Fuhs von der Universität Leipzig.
In Tumoren sind die Inseln mit Brücken verbunden
In einem Tumor verbinden sich mehrere solcher Insel-Cluster über mechanische Spannungsbrücken aus weichen Zellen. Dies führt dazu, dass das Gewebe insgesamt stabilisiert wird, obwohl es zum Großteil aus weichen Zellen besteht.
Durch diesen Zustand hat ein Tumor genug Stabilität, um sich in dem umliegenden gesunden Gewebe behaupten zu können und gleichzeitig bieten die weichen Elemente die Möglichkeit, aus dem Verbund auszubrechen, um weitere Metastasen zu bilden.
Paradox aufgelöst
„Das Paradox, das bei Brusttumoren aus Zellen, die weicher werden, ein Gebilde entsteht, das härter ist als das ursprüngliche Gewebe, ist also nur ein scheinbarer Widerspruch“, folgert Professor Dr. Josef Alfons Käs aus dem Forschungsteam.
Bei Brustkrebs ist dieser Effekt ihm zufolge besonders deutlich, da der Tumor hier überwiegend von sehr weichen Fettzellen umgeben ist. Bei den meisten anderen Tumoren erreichen die Krebszellencluster eine ähnliche Stabilität wie gesundes Gewebe, sind dabei aber wesentlich mobiler.
Mechanik betrifft 92 Prozent aller Krebsfälle
Auf der Grundlage derzeitiger Erkenntnisse schätzt das Team, dass diese neu entdeckte Mechanik auf alle soliden Tumore zutrifft und somit bei 92 Prozent aller Krebsfälle relevant ist.
„Essentielle neue Einsichten“
„Die Ergebnisse der Studie liefern essentielle neue Einsichten in die Tumorbiologie oder – genauer gesagt – in die metastatische Kaskade“, verdeutlicht Fuhs. Die Erkenntnisse liefern zahlreiche neue Ansätze für weitere Forschungsarbeiten. Inwieweit dies für die Therapie relevant ist, kann derzeit jedoch noch nicht abgeschätzt werden. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Fuhs, T., Wetzel, F., Fritsch, A.W. et al. Rigid tumours contain soft cancer cells. Nat. Phys. (2022). https://doi.org/10.1038/s41567-022-01755-0, nature.com
- Universität Leipzig: Neue Einsichten in die Tumorbiologie (veröffentlicht: 30.09.2022), uni-leipzig.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.