Initiative will weniger Psychopharmaka in der Altenpflege
29.06.2014
Psychopharmaka werden eigentlich zur Behandlung psychisch Kranker eingesetzt. Doch in vielen Seniorenheimen werden die Medikamente benutzt, um Heimbewohner einfach nur ruhig zu stellen. Das Amtsgericht München sagt nun dem Missbrauch von Psychopharmaka den Kampf an.
Jeder zweite Münchner Seniorenheimbewohner wird medikamentös ruhiggestellt
Psychopharmaka sind Medikamente, die vorwiegend zur Behandlung von psychisch kranken Patienten eingesetzt werden. Doch in vielen Seniorenheimen werden die Arzneien häufig dafür benutzt, Heimbewohner einfach nur ruhig zu stellen. Wie verschiedene Zeitungen berichten, spricht die Münchner Heimaufsicht in ihrem Qualitätsbericht 2011/12 von einem „bedenklichen Umgang mit Psychopharmaka“. Demnach bekommen in der bayerischen Metropole 51,28 Prozent der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen Psychopharmaka mit beruhigender oder sedierender Wirkung oder Nebenwirkung verordnet. 51 Münchner Einrichtungen mit insgesamt 6.394 Bewohnern lieferten vor drei Jahren die Daten für diese Erhebung. Das Amtsgericht der Landeshauptstadt hat nun eine Initiative zu weniger Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen gestartet.
Eine freiheitsentziehende Maßnahme
Amtsgerichts-Präsident Gerhard Zierl erklärte, dass Medikamenten-Gaben viel zu selten gerichtlich beantragt würden. Wenn diese jedoch allein zur Sedierung und nicht zur Therapie eingesetzt werden, sei das Beantragen eigentlich obligatorisch. Wenn Pflegebedürftige mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden, gilt das als freiheitsentziehende Maßnahme, gleichzusetzen mit Fixierung. Doch die Probleme würden noch weitergehen. So erhalten laut Heimaufsicht viele Heimbewohner fünf bis zehn oder noch mehr Medikamente, ohne dass überprüft werde, ob es Wechselwirkungen gibt. Zudem werden die Vergabezeiten der Medikamente von der Heimaufsicht als problematisch angesehen. So werden 74 Prozent der tatsächlichen Bedarfsvergaben abends (acht Prozent) beziehungsweise nachts (66 Prozent) verabreicht. Des Weiteren wird von der Münchner Heimaufsicht kritisiert, dass es an einer grundlegenden Strategie fehlt, die ärztliches, betreuerisches und pflegerisches Handeln in Einklang bringt.
Nach alternativen Maßnahmen suchen
Die neue Initiative des Amtsgerichts München, welches für mehr als 100 Alten- und Pflegeheime zuständig ist, soll ein „wichtiger Schritt zur Reduzierung der Psychopharmaka-Gabe“ sein. Dabei soll auf mehreren Ebenen gearbeitet werden. So will das Gericht Krankenkassen und Hausärzte dafür sensibilisieren, wann Psychopharmaka genehmigt werden müssen und wann sie notwendig sind. Zudem sollen Gutachter die Wirkung von Medikamenten anschauen. Vor allem aber werden, wenn ein Genehmigungsantrag eingegangen ist, Verfahrenspfleger bestellt, die dann gemeinsam mit Angehörigen, Pflegern und Ärzten nach alternativen Maßnahmen suchen – so dass der Betroffene, der ruhelos ist oder aggressiv wird, auf Psychopharmaka verzichten kann. Der Leiter des Betreuungsgerichts, Rudolf Mayer, erklärte, dass die drei Ziele der Psychopharmaka-Initiative „Sensibilisieren, transparent machen, helfen“ seien.
Zahl der Fixierungen in Heimen wurde gesenkt
Die Initiative sieht sich dabei als Fortsetzung des „Werdenfelser Wegs“, eines Konzepts aus Garmisch-Partenkirchen, mit dem seit 2011 die Zahl der Fixierungen in Heimen gesenkt wird, beispielsweise durch Niederflurbetten. Dabei seien Erfolge zu verbuchen: Waren 2001 noch zwölf Prozent der Münchner Bewohner mit Bettgittern oder Bauchgurten von gefährlichen Bewegungen abgehalten worden, waren es 2013 nur noch fünf Prozent. Mit dem neuen „Münchner Weg“ hoffen die Richter nun auf einen ähnlichen Effekt. Umstritten bleibt, ob die leichtfertige Gabe von Psychopharmaka oft auch dem überforderten Personal geschuldet ist. Eine britische Studie kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass bis zu 90 Prozent der Pflegekräfte in staatliche Klinken Großbritanniens in ihrer jüngsten Schicht etliche wichtige Aufgaben unerledigt lassen müssen.
Lebensqualität der Heimbewohner verbessern
Auch ehrenamtlicher Besuchsdienst könnte schon helfen, meinte Amtsgerichtspräsident Gerhard Zierl. Doch zunächst müsse ein Bewusstsein geschaffen werden. „Ich bin zuversichtlich, dass die neue Initiative die Lebensqualität der Heimbewohner verbessern und das gegenseitige Vertrauen fördern wird. Die Freiheitsrechte des einzelnen zu achten und zu schützen und so lang wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen ist eine grundlegende Verpflichtung unserer Gesellschaft“, so Zierl. „Wir sind am Anfang eines weiten Weges.“ (ad)
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